(The Balkony)

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Published in: taz - die Tageszeitung


 

Das intime Draußen
Vom Strukturwandel in der Öffentlichkeit Balkoniens: Einst Stilelement des bürgerlichen Lebens, heute Schauplatz des heimatlichen Sommerurlaubs – eine kleine Kulturgeschichte des Balkons

Auf Balkonien wachsen zwar keine Palmen, dafür aber Petunien und Geranien. Das Meer? Nun, zum Strand ist es tatsächlich etwas weiter als 200 Meter. Das Schwimmbad? Hinten links neben der Küche ist das Bad. Natürlich kann man auch auf Balkonien braun werden. Voraussetzung ist eine hohe Brüstung, damit man nicht alles sieht.
Dies ist der springende Punkt. Der Balkon (von ital. „balcone“ und verwandt mit dem deutschen „Balken“) ist ein Zwitter, halb privat, halb öffentlich, halb im Hause, halb auf der Straße. Entstanden ist diese auf Balken, dann auf verzierten Konsolen ruhende Ausbuchtung der Fassade aus dem Bedürfnis, auch in der Höhe ins Freie treten zu können. Ein Vorläufer des Balkons ist der oft durch mehrere Geschosse gehende Erker. Dort saß bei einer Handarbeit auch die bürgerliche Hausfrau, die noch im 19. Jahrhundert – im Unterschied zu den arbeitenden Frauen – das Haus nicht ohne Begleitung verlassen durfte, und konnte hin und wieder einen Blick auf die Straße tun. Frau konnte sehen, ohne gesehen zu werden.
Dies ist ein Grund auch für die Erfindung der Theaterloge. In Paris, Venedig, London, Wien, Prag, Dresden, den Metropolen des 18. Jahrhunderts, war es Sitte, dass die Adligen für jede Theatersaison eine Loge mieteten. Und in diesen abgedunkelten kleinen Höhlen benahm man sich einerseits ganz intim und konnte andererseits doch dem Schauspiel auf der Bühne folgen. Als besonders schick galten Logen mit Esstisch und Alkoven. Dabei ist so mancher Hühnerknochen im Parkett gelandet. Roberto Gervaso beschreibt die Verhältnisse in den Theatern von Venedig: „Denn von den Rängen, wo die Adligen saßen, regnete es Kerzenstümpfe, Tomaten, faule Äpfel, Spucke und sogar Exkremente ins Parkett“, wo sich das Volk aufhielt, das sich in der Dunkelheit kräftig revanchierte.
In dem Maße, wie die Oper im 19., dem bürgerlichen Jahrhundert zu einem hellen, wohlanständigen Ort wurde, wo die Reichen, Mächtigen und Vornehmen auch zu repräsentieren wünschten, wölbte sich die ehemalige Loge neobarock in den Zuschauerraum. Und wurde zum Balkon. Nun ging es auch ums Gesehenwerden. In den Pausen richtete sich das Opernglas ungeniert von einem Balkon zum anderen. Hatte man einander erkannt, verbeugten sich die Herren von Rang, und es nickten die Damen von Stand. Die Loge beziehungsweise der dazugehörige Balkon bot den Vorteil, auch unbemerkt im dunklen Hintergrund sitzen zu können und zu kommen und zu gehen, wie man wollte.
Besonders pompöse, durch herkulische Konsolen gestützte Balkons sieht man an den stuck-beklebten Fassaden der zum Ende des 19. Jahrhunderts errichteten Stadthäuser. Zu Silvester prostete man einander von Balkon zu Balkon mit Champagner zu und brachte Toasts auf das Reich aus. Während des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit wohnten auf den Balkonen der nationalstolzen Gründerjahre Stallhasen. Man lagerte dort Heu, Stroh und Brennholz und bewahrte den Rest Steckrübensuppe auf.
Der Geist des Bauhauses hatte schon in den 20er-Jahren mit den Balkonen aufgeräumt. Die bürgerliche Halböffentlichkeit war für die radikale Moderne ein Wischiwaschi, eine dekadente Ambivalenz von der Art eines Negligés. Entweder drin oder draußen, nicht Sowohl-als-auch. Alle – nicht nur die rachitischen und tuberkulösen Proletarier – sollten hinaus ins Freie, weil das gesund ist. Auch die Bourgeois sollten nicht mehr en famille auf Korbsesseln um das Teetischchen sitzen und sich an Torten fett essen, sondern alle, alle sollten ins Grüne strömen, wandern oder Freiübungen machen. Es war die Zeit, als man die Massenhaftigkeit als eine Dimension der Gesellschaft entdeckte. Der Balkon galt als Relikt der als reaktionär betrachteten bürgerlichen Repräsentationsarchitektur. Bei Gesellschaften hatte der Balkon dazu gedient, sich zu absentieren, ein intimes Gespräch zu führen, eine Dame zu bedrängen oder zu rauchen. Er war ein Stilelement bei der Inszenierung bürgerlichen Lebens.
Die Fassaden wurden in den 20er- und 30er-Jahren glatt. Die Herrschaftsarchitektur, welche den sozialen Rang der Stockwerke und ihrer Bewohner an der Fassade durch Giebel, Pilaster und Stuckaturen kenntlich gemacht hatte, war passé. Die Fenster wurden nun quer gelegt, um Licht und Luft hereinzulassen und in den kleinen, niedrig gewordenen Wohnungen keine Stellfläche zu verschenken. In den modernen Villen hatte man statt der Balkone große Schiebefenster, die den Wohnraum ins Freie öffneten, doch nach hinten. Die moderne Villa war zur Straßenseite hin abweisend, aber zur privaten Gartenseite offen. Balkone machen in ihrer Zwittrigkeit nur Sinn, wenn sie in den öffentlichen Raum hineinragen. Doch die Straßen wurden zunehmend reine Verkehrsadern und verloren die sozialen Funktionen von Öffentlichkeit.
In der Zeit des Wiederaufbaus, als man von Massenhaftigkeit die Nase voll hatte und sich ins Private zurückzog, klebte man den Häusern wieder kleine Balkons an die Fassade. Das lächerliche Accessoire sollte eine Bürgerlichkeit vortäuschen, die längst verloren war. Auch bei heutigen Neubauten dienen Balkons nur der Fassadenauflockerung. Eine architektonische oder soziale Funktion haben sie meist nicht mehr. Die kleinen Balkons der 50er-Jahre fungierten bald als Abstellplatz für Wasser- und Bierkästen, alte Weihnachtsbäume, Leitern und zum Trocknen der Wäsche. In der Innenstadt sind sie wegen des Autolärms und der Abgase kaum benutzbar.
Die Ambivalenz hat der Balkon in der Stadt verloren. Selten weist ein schräg gestelltes Sonnenschirmchen darauf hin, dass dort ein Mensch sitzt. Am heißen Nachmittag steht er irgendwann auf und geht in die Wohnung. Abends gießt er die Petunien und Geranien, bis es tropft. Dann sieht man ihn im Unterhemd sich über die Brüstung lehnen, um nachzusehen, ob der darunter liegenden Balkon etwas abbekommen hat. Dort stehen ein kaputter Fernsehapparat und ein Damenrad mit einem Platten.