Casanova, apart from love

The social adventurer of great style. A view.
 
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Published in: Frankfurter Rundschau


 

Der soziale Abenteurer großen Stils. Eine Aussicht.

Wer sich Casanovas erinnert, der dreiundsiebzigjährig mit dem Ende seiner Epoche starb, am 4. Juni 1798 in Dux, einem böhmischen Kaff, wo er im Schloß seines letzten Gönners an Pamphleten gegen die Jakobiner feilte, denkt nicht an das Fossil des Ancien Regime, sondern selbstverständlich an den lebenssprühenden „Frauenhelden". Verspottet von den Domestiken, weil er, sein geliebtes Hündchen neben sich, noch immer in seidenen Kniehosen und Brüsseler Spitzen einherging, schrieb der zu Lebzeiten erfolglose Literat, um sich die Langeweile zu vertreiben, täglich bis zu zwölf Stunden an der berüchtigten Geschichte meines Lebens.
Wie oft wurde der Venezianer mit Don Juan, dieser bösartigen Ausgeburt der Literatur, verwechselt! Denn aus männlicher Sicht faszinierte stets das „Frauenquantum". Welche Empörung, als die Memoiren ein Vierteljahrhundert nach Casanovas Tod in der Biedermeierzeit posthum veröffentlicht wurden, im prüden 19. Jahrhundert! Für das müßige und frivole Leben eines verschwenderischen Grandseigneurs des Rokoko konnte das sich etablierende Bürgertum kein Verständnis haben. So entrüstete sich 1822 ein Literaturblatt, daß er die „Infamien seines Jugendlebens vor die Augen rechtschaffener Leute“ führe. Ludwig Tieck urteilte: „Der Mensch ist ganz verrucht!“ Und Heinrich Heine: „Es ist keine Zeile in diesem Buche, die mit meinen Gefühlen übereinstimmte, aber auch keine Zeile, die ich nicht mit Vergnügen gelesen hätte.“
Die Kritiker des vorigen Jahrhunderts und noch Stefan Zweig, der 1928 einen rauschenden Essay über Casanova geschrieben hat, verachteten in dem lebenslustigen Venezianer den unersättlichen Triebmenschen. Doch in unserer durchsexualisierten Zeit werden die erotischen, übrigens niemals pornografischen Passagen der Memoiren weniger interessieren.
Auch ist der zum zynischen Verführer abgestempelte „Mannshengst“ (Zweig) inzwischen gar als Feminist rehabilitiert. Ein wahlloser Phallomane, als den ihn noch Fellini verhöhnt - den Casanovadarsteller läßt er wie einen pumpenden Maikäfer auf diversen Frauenleibern arbeiten -, war Casanova nicht, denn ihn zog an den Frauen gerade das Besondere an. Die Faszination, die er ausübte, beruhte wohl weniger auf seinen körperlichen Vorzügen und seinem prächtigen Auftreten als auf einer über seine Zeit weit hinausgehenden avantgardistischen Haltung gegenüber dem anderen Geschlecht: Casanova behandelte die Frauen nicht als inferior. Er diskutierte mit seinen Geliebten, die er sich oft zu wirklichen Freunden machte, über Gott und die Welt und bereitete ihnen Vergnügen, das zur Bedingung seines eigenen Genusses wurde. „Ich wollte geliebt werden, das war meine fixe Idee.“

"Der Kultus der Sinneslust war mir immer die Hauptsache"
Die Wiederkehr eines Todestages ist fraglos ein sehr konventioneller Grund, sich eines seine Zeit überragenden Menschen zu erinnern. Notwendigerweise zurückblickend wird die Forschung zu dieser Gelegenheit gewiß manch Neues oder Vergessenes über Casanova vorzulegen haben. Ich möchte Casanovas „Aktualität“ zu begründen suchen, vorausblickend, denn als weltgewandter Abenteurer großen Stils nimmt Casanova gewisse Züge eines postindustriellen sozialen Typus vorweg, dem wir in naher Zukunft begegnen können, ein Typus, der ausdrücklich von dem des Liebhabers unabhängig ist. Kann man von diesem Aspekt überhaupt absehen? Ich denke ja, denn Casanova war kein vagabundierender Frauenverführer, sondern ein Abenteurer, der ohne Liebe nicht leben konnte.
Soziale Typen sind nicht ganz unabhängig von den historischen Verhältnissen, in denen sie auftreten. Sollte Casanova ein Vorläufer sein, wo liegen dann die Ähnlichkeiten zwischen dem Rokoko und unserer Zeit? Bei allen hier als bekannt vorausgesetzten strukturellen Unterschieden ähneln die beiden Zeitalter sich darin, daß sie zu Ende gehen. Zu Casanovas Zeit zerfiel die feudal-absolutistische Gesellschaft. Heute löst sich die traditionelle Arbeitsgesellschaft auf, wenn auch die kapitalistische Wirtschaftsweise fortbesteht. Die Arbeitsplätze nehmen unumkehrbar ab. Erzwungener Müßiggang und wechselnde Jobs ohne ernsthafte Professionalität werden zum Los vieler Menschen.
Daher verlieren die bürgerlichen Arbeits- und Leistungsideologien an Überzeugungskraft. In den Metropolen haben wir es häufig mit hochmobilen, flexiblen, urbanen und lebenserfahrenen Dilettanten zu tun, deren Selbstbewußtsein nicht mehr darin besteht, einen einzigen Beruf auszufüllen, sondern jeder Aufgabe gewachsen zu sein. Sie fühlen sich wie Casanova „zu allem fähig". Die zunehmende Verschuldung von jedermann zur Führung eines guten Lebens, häufiger Partnerwechsel und abnehmende Zahlungsmoral erinnern an die Gebräuche des Rokoko, das Arbeit geringschätzte: So entscheidet auch heute, ob man sich leisten kann, was up to date ist, woher die Mittel dazu auch kommen mögen. Es sind Anzeichen eines abenteuerlich werdenden Lebens.
Konsumismus und Hedonismus unserer Tage, das von Jugendideologien genährte Bedürfnis, das Leben hier und jetzt auszukosten (im Rokoko wird nach Eduard Fuchs „die Frau nie älter als zwanzig"), die industrielle Organisation der „Freizeit“ in „Erlebniswelten“ – die heutige Entsprechung der an den Höfen pompös inszenierten theatralischen Festivitäten – und die von der Postmoderne wiederentdeckte Dimension des Scheins, des Alsob, das zu Casanovas Zeit, als das Theater das Leben durchformte wie heute das Fernsehen, eine so große Rolle spielte, sind gewiß, wenn auch oberflächliche Ähnlichkeiten zwischen unserer Zeit und dem Rokoko.
Doch die Oberfläche ist ja stets die Sphäre einer ersten Orientierung, und um mehr geht es hier nicht. Globalisierung meint u. a. Internationalität, die - anders - auch im Ancien Regime durch die alle Nationen übergreifenden Verwandtschaftsbeziehungen des Adels bestand. Die vornehme Welt parlierte französisch und folgte überall demselben Geschmack, derselben Etikette und demselben Ehrenkodex. Heute ist das Amerikanische Weltsprache, lingua franca für je dermann, und trotz unterschiedlicher Milieus mit eigenen Soziolekten sind die globalen Standardisierungen unseres Lebens bis in die Umgangsformen unübersehbar. Glich sich einst das Leben der internationalen Oberschicht über den Verhaltenskodex an, so folgt in der Massengesellschaft die Angleichung des Lebens überhaupt über die Globalisierung der Märkte. Seine spielerische Haltung gegenüber dem Leben, die Unzahl von Professionen, in denen er auftrat - vom Geiger bis zum Börsenmakler -, und sein ständiger Ortswechsel, von seinen Amouren abgesehen, heben Casanova klar vom bürgerlichen Menschen ab und, was die beiden letzteren Merkmale anlangt, auch von den Adligen. Er war ein sozialer Abenteurer, der sich vom allgemeinen Typ, der auch den Zivilisationsaussteiger in abseitigen Gegenden umfaßt, unterscheidet: Casanova genoß das Leben der vornehmen Welt in den europäischen Metropolen, in denen er, um ein Wort der Brüder Goncourt zu verwenden, neugierig „herumkletterte wie in den Etagen eines Hauses".
Casanova reiste mit Lakaien und Equipage von Metropole zu Metropole, wegen des Gesindels stets zwei geladene Pistolen in den Taschen. Kurz: Er war hedonistisch, mobil (ein erklärter Kosmopolit zur Zeit, als das Bürgertum den Nationalstaat ersehnte), urban, und er beherrschte die Weltsprache, das Französische, in dem er seinen Esprit entfaltete, den schlagfertigen und brillanten Witz, welcher im Rokoko auch dem Parvenü den Zugang zu den oberen Kreisen öffnete: vier allgemeine Merkmale, die auch den spätmodernen Typus kennzeichnen werden, der allerdings amerikanisch spricht.

"Ich war vollkommen mein eigener Herr"
Casanova, der Abenteurer großen Stils, wurde von einer widersprüchlichen Motivation getrieben: einer radikalen Freiheitsliebe zum einen, dem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung zum andern. Er wollte dazugehören, ohne sich zu binden, beliebt sein und unabhängig zugleich. Durch die zweite, die soziale Komponente seiner Motivation unterscheidet er sich von den gewöhnlichen Abenteurern, die Beute machen und das Weite suchen. Während diese wenig Mühe darauf verwenden, sich zu integrieren, suchte Casanova einen festen Platz in der vornehmen Gesellschaft der Metropolen.
Er war ein Aufsteiger. Es ist das Bedürfnis, in den ersten Kreisen eine hervorragende Rolle zu spielen, die den sozialen Abenteurer großen Stils charakterisiert. Doch Abenteuer ist er nur, weil letztlich der Wunsch nach Unabhängigkeit überwiegt. Vor die Alternative gestellt, entscheidet er sich immer für die Freiheit - wie Casanova, solange er jung war. Älter geworden suchte er vergebens in ganz Europa nach einer auskömmlichen Stellung, die seinen Fähigkeiten angemessen war. Ehrbare Ämter waren dem Klerus und dem Adel vorbehalten oder mußten käuflich erworben werden. So blieb Casanova ein Außenseiter mit dem aufmerksamen Blick des immer Fremden, der sich schwer ein- und unterordnete. Seine unbedingte Freiheitsliebe hat er durch den tollkühnen Ausbruch aus den Bleikammern des Dogenpalastes bewiesen, dessen Bericht ihn in allen Salons zum Star machte.
Die Freiheitsliebe, diese stärkere Seite seiner Motivation, zeigt sich auch an den Reisen, die er nur mit Hilfe von Pässen und Empfehlungsschreiben der Hochwohlgeborenen bewerkstelligen konnte, da es Freizügigkeit noch nicht gab; an den vielen, im letzten Augenblick ausgeschlagenen günstigen Heiraten; an den freimütigen Reden, die ein Grund seiner Kerkerhaft waren; an der Lust, sich willentlich dem Zufall zu überlassen, und schließlich an dem elitären und antiautoritären Bedürfnis, jedes Verbot zu übertreten. Noch vor der Französischen Revolution versuchte er als freies, selbstverantwortliches Individuum zu leben.

"Ich sagte, ich wäre kein Baron"
Ein Bestandteil seiner widersprüchlichen Motivation ist das starke Bedürfnis des Parvenüs, einen sozialen Status zu erlangen und zu verteidigen: Denn sowohl um sich individuell durchzusetzen als auch um sich sozial zu behaupten, muß der soziale Abenteurer Status demonstrieren.
Doch ein Hochstapler, der sich durch Anmaßung akademischer Titel und Adelsprädikate in betrügerischer Absicht in die vornehme Gesellschaft drängt, war Casanova nicht. Abenteurer zogen unter falschen und wechselnden Namen von Stadt zu Stadt. Durch Orts- und Namenswechsel suchten sie dem schlechten Ruf zuvorzukommen. Casanova dagegen, der sechzehnjährig zu Padua zum Doktor beider Rechte promoviert worden war, behielt seinen Namen bei und nannte sich „Chevalier de Seingalt“, zu Recht, denn der Papst hatte ihm durch die Verleihung eines Ordens die Möglichkeit eröffnet, den untersten Rang der Adelshierarchie einzunehmen. „Seingalt“ hat er sich in einem Akt sozialer Selbstkonstitution aus dem Alphabet zusammengestellt, das, wie er argumentiert, jedermann gehöre. Um in der vornehmen Gesellschaft nicht als bloßer Unterhalter zu gelten, mußte man ein Herr sein, und ohne „von“ war in der feudal-absolutistischen Epoche niemand ein Herr.
Mit den gewöhnlichen Abenteurern hat Casanova jedoch gemein, daß er versuchen mußte, neuartige Situationen mit sicherem Auftreten zu meistern. Daher legte er auf einen sozialen Status wert, der ihm von vornherein Achtung verschaffte. Er, der auf seinen Mut baute, fürchtete nichts mehr als die Lächerlichkeit, denn ein Ausgleiten auf dem Parkett war der soziale Tod und der materielle Ruin. Casanova war bereit, seinen selbstgeschaffenen Namen mit der Klinge zu verteidigen wie ein Edelmann von Geblüt.
Der soziale Abenteurer wird immer auffallend statusorientiert sein, gleichgültig, ob er in der feudalen, der bürgerlichen oder nachbürgerlichen Epoche auftritt: Denn der erste Auftritt entscheidet. Casanova, der in einer Gesellschaft lebte, die bereits an der Kleidung erkennbar nach Klassen und Ständen geordnet war, entstammte einer Schauspielerfamilie. Wurden Schauspieler auch so berühmt wie seine Mutter Zanetta Farussi, rangierten sie doch unterhalb des Bürgertums und wurden nicht einmal auf dem christlichen Friedhof begraben. Heute dagegen avancieren Schauspieler zu Staatspräsidenten, und Showgrößen werden geadelt, denn sie sind Exponenten einer immer mächtigeren Kulturindustrie. Den Zugang zu den Salons erlangte Casanova durch Empfehlungen seiner hochgestellten Gönner, durch seinen Esprit, das Passepartout im geselligen 18. Jahrhundert und den Eindruck, den er auf Frauen machte. J. Rives Childs nennt ihn „den bedeutendsten Kopf der europäischen Salons".

„Ehrenhafte List kann für Klugheit des Geistes gelten“
Aus dem Heer der vagabundierenden Falschspieler und Scharlatane ragten durch kriminelle Virtuosität Cagliostro und der Graf Sain-Germain heraus, die Casanova eifrig zu entlarven suchte. Obwohl der Venezianer selbst stets am Rande der Kriminalität auf bedenklich geschickte Art seinen Lebensunterhalt zusammenbrachte und wie oft in Wechselaffären verstrickt den Behörden entfloh, eingekerkert oder ausgewiesen wurde, so war er doch kein professioneller Betrüger. Wenn er andere überlistete, dann oft aus Übermut und um anmaßenden Personen seine Überlegenheit zu demonstrieren, besonders solchen, die sich mit falschen Titeln schmückten.
Zu Casanovas Ehre sei gesagt, daß er aufgrund seines geheimnisvollen und charismatischen Auftreten oft überschätzt wurde, so daß er in die zweideutigen Rollen, die man ihm antrug, erst hineinwuchs. Seine Gönner bedrängten ihn fortwährend, ihnen sein kabbalistisches Zahlen-Orakel zu erstellen. Mit den magischen Praktiken hat Casanova der vornehmen Welt Dienste geleistet, für die er belohnt wurde, etwa mit einer kurfürstlichen Schnupftabaksdose, die er als Zeichen seiner Zugehörigkeit herumzeigen konnte. Ein Speichellecker und Parasit war er nicht. Er handelte nicht aus Habsucht, wenn er die großen Summen annahm, die man ihm zukommen ließ. In aristrokatischer Großzügigkeit verschwendete er alles.
Wenn es den Hochwohlgeborenen beliebte, ihn für ein Medium ihres Aberglaubens zu halten, sollte er sie zu seinem Nachteil daran hindern? Casanova wurde stets nach den Wertmaßstäben seiner Kritiker beurteilt und nie auch nach denen seiner Zeit. Machten nicht die Aristokraten, denen Casanova sich zugehörig fühlte, Schulden, ohne sie je begleichen zu wollen? Wann bezahlten sie schon ihren Schneider?

„Leben und spielen war für mich gleichbedeutend“
So wenig wie ein Betrüger war Casanova ein Degenheld. Fast 1,90 m groß, athletisch gebaut, verachtete er Gewalt, denn er wußte sich mit Worten zu wehren. Stierkampf, Jagd und Schlachtgetümmel, all diese männlichen Freuden waren ihm zuwider. Daß er ein Spieler war, unterscheidet ihn nicht von anderen Abenteurern seiner Zeit, auch nicht vom Adel. Alle Welt spielte von Mittag bis in die Nacht. Casanova spielte weniger, um zu gewinnen, als um den großen Herren nicht nachzustehen, deren Lebensmaxime die ruhmreiche Verschwendung war. Sparsam waren nur die Bürger. Casanova lebte nicht vom Glücksspiel. Er hat als Lotteriedirektor und Börsenspekulant im Dienst der französischen Krone durchaus legal große Summen verdient, die ihm sein aufwendiges Leben erlaubten. Das Gros der gewöhnlichen Abenteurer überragte er durch seine umfassende Bildung, seine Belesenheit, seinen sprühenden Geist und darin, daß er weder kriminell noch gewalttätig war. Er war ein Literat und „Intellektueller“ (Hermann Kesten), auch wenn sein Degen, so es denn sein mußte, ebenso sicher traf wie die scharfe Zunge.
Auch der postindustrielle Abenteurer-Typus ist wie Casanova jederzeit auf seinen Vorteil bedacht und gewiß eine Spielernatur mit der typischen Risikofreude und Gewissenlosigkeit, doch nicht betrügerisch, nicht brutal. Als sozialer Abenteurer großen Stils ist er eher breit gebildet als gründlich ausgebildet wie der Fachmann. Er wird ein Dilettant sein wie der Weltmann Casanova, der alle möglichen Berufe bloß spielte, solange es ihm Spaß machte und es in seiner Geringschätzung der stets mit Beschränkungen verbundenen bürgerlichen Existenz dem Adel nachtat, der wie selbst Luis XV. dann und wann zum Vergnügen handwerkerte. Doch als professioneller Dilettant wird er wie Casanova von allem genug verstehen, um bei Fachleuten als ernstzunehmender Gesprächspartner zu gelten.

„Es kommt auf das äußere Auftreten an“
Auch der postindustrielle soziale Typus hat mit einer Statusunsicherheit zu schaffen, denn als Abenteurer kann er sich nicht zugehörig fühlen und auch als Aufsteiger nicht, falls er einer ist. Darum neigt er zur Übertreibung der Statussymbolik, die ihn - kontraproduktiv - als Außenseiter kenntlich macht. Casanova war stets „overdressed". Wirksames Imponieren erfordert jene autosuggestive Einbildungskraft, die den guten Schauspieler befähigt, augenblicks jedermann zu überzeugen.
Casanova, der Schauspielersohn, war in der Theaterstadt Venedig aufgewachsen, wo man das halbe Jahr über maskiert ging, zu einer Zeit, da das Theatralische die Umgangsformen bestimmte. In jeder Stadt suchte er sogleich das Theater auf, wo italienische Künstler/innen immer die ersten Rollen spielten. Das italienische Schauspielermilieu war - mit den Worten der Bergsteiger - sein „Basislager", das Zuhause in der Fremde, sein Rückhalt, von wo aus er operierte. Den Abenteurer zeichnet es generell aus, daß er neue Situationen aus dem Stegreif meistert und nicht mit angelernten Techniken. Der Stolz und die Lust des selbstbewußten Abenteurers vom Niveau Casanovas, dem, obwohl ein Müßiggänger, seine geistigen und körperlichen Kräfte im Nu zu Gebote standen, ist das Risiko, sich in unbekannte Situationen einzulassen, der Drang, sein Ich bei immer anderen Gelegenheiten kaltblütig aufs Spiel zu setzen und zu bewähren.
Im Unterschied zum Bürger, der sein Leben zu gestalten sucht, überläßt sich der Abenteurer dem Zufall. So erscheint Casanovas Leben formlos, als bloße Kette von Ereignissen. Zur Improvisation gehört Geistes- und Gefühlsgegenwärtigkeit, Lebenserfahrung, Bildung, Einfallsreichtum, Findigkeit und Respektlosigkeit, die auch dem spätmodernen Abenteurer den beeindruckenden Auftritt sichern. Die gewöhnlichen Abenteurer sind Solipsisten, denen es an der kommunikativen und sozialen Kompetenz eher mangelt, die den Abenteurer großen Stils befähigt, sich der Gesellschaft angenehm zu machen.

„Wenn man in dieser Welt glücklich sein will, muß man beliebt sein“
Der Casanova ähnliche soziale Typus ist an Öffentlichkeit gebunden. Casanova produzierte sich vor dem Publikum der verschiedenartigen Öffentlichkeit der Buchläden (dem Treffpunkt der Intellektuellen), der Salons, Theaterfoyers und Spieltische, wo er auf den Adel traf, der Ballhäuser, der Wandelgänge des Palais Royal, der Promenaden. Diese noch im 19. Jahrhundert bestehende unmittelbare urbane Öffentlichkeit haben Automobilismus und das Fernsehen zerstört. Öffentlichkeit ist heute mittelbar, d. h. medienvermittelt. Der mehr oder weniger intellektuelle Typus des sozialen Abenteurers großen Stils wird wohl sein „Basislager“ eher in den Milieus der Kulturindustrie aufschlagen.
Doch entstehen heute in den Metropolen, die Casanovas Revier und Bühne waren, auch öffentliche Orte neu, die auf das Sehen und Gesehenwerden und Kommunikation jeder Art angelegt sind, kommerziell, gewiß. Wenn der Kapitalismus auch alle Beziehungen und Institutionen durchwächst, so werden doch auch selbstgewählte Rollen gespielt: Es ist das Theatralische, das sich heute gegenüber der von Richard Sennett beklagten „Tyrannei der Intimität", jener seit den 60er Jahren grassierenden plebejischen Formlosigkeit, wieder herauszubilden beginnt. (Denken wir nur etwa an die opulenten und öffentlichen Inszenierungen von Familienfeiern.)

„Ich wurde Günstling“
Muß der Abenteurer in den schwankenden Verhältnissen des Spätkapitalismus Protektion haben? Gönner? Ich denke schon. Leistung ohne alles verkauft sich nicht mehr, wie jeder erfährt, der es ohne Beziehungen und „image“ versucht. Der abergläubische Nobile, Signore Bragadin, die steinreiche Hochadlige Mme d'Urfe und der mächtige Kardinal de Bernis unterstützen Casanova vorbehaltlos. Die Unzahl von Namen in seinen Memoiren belegen ein klassenübergreifendes Beziehungsnetz, in dem der große Abenteurer sich bewegte, ohne sich abhängig zu machen. Der Zerfall der traditionellen Arbeitsgesellschaft reinstalliert anstelle rechtlich sanktionierter Marktbeziehungen Geflechte persönlicher Deal-Beziehungen, die sicher z.T. mafios sind. Macht es Sinn, in unserer pluralistischen Gesellschaft, in der eine Fülle unterschiedlicher Milieus das Klassenverhältnis verundeutlichen, noch von Aufsteigern zu sprechen? Solange ein soziales Unten und Oben erkennbar ist, gibt es immer das starke Motiv, nach oben zu kommen.

„Ich fühlte mich zu allem fähig“
Nach der von Ulrich Beck u. a. vorgetragenen „Individualisierungsthese“ sind in den unsicheren Verhältnissen der sich auflösenden Arbeitsgesellschaft immer mehr Menschen gezwungen, Entscheidungen, die zuvor durch Klasse, Geschlecht, Familie, Kirche usw. traditionell vorgegeben waren, eigenständig zu fällen. Sie sind genötigt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, um so mehr, als der Staat durch die Globalisierung Einfluß- und Schutzmöglichkeiten verliert. Casanova war ein entfaltetes Individuum, und das zu einer Zeit, als Individualität nur eine Idee war.
Die von ihm stolz behauptete Selbstverantwortlichkeit wird die große Anforderung an die freigesetzten Individuen unserer Tage. Sie müssen lernen, in jeder Situation auf ihren Vorteil bedacht zu sein, mit stets wechselnden Jobs zu leben und ihr mitunter „müßiges“ Leben hinzubringen. Im Unterschied zum arbeitsteilig beschränkten Professionalisten erwirbt das freigesetzte Individuum in vielen verschiedenen, oft an verschiedensten Orten spielerisch verrichteten Jobs breite Lebenserfahrung. „Zu allem fähig“ zu sein, ist der Stolz des wendigen, von Qualitätsskrupeln wenig belasteten Dilettanten.
Nach Gerhard Schulzes These von der „Ästhetisierung des Alltagslebens“ treffen die Individuen in der Konsumgesellschaft, die anders als die Armutsgesellschaft Wahlmöglichkeiten anbietet, ihre Entscheidungen (bis hin zum Geschlecht) nach ästhetischen Kriterien. Es geht nicht mehr um das „Was“, sondern um das „Wie“. „Erleben wird vom Nebeneffekt zur Lebensaufgabe“ (Schulze).
Die Tendenz zur Ästhetisierung, anschaulich in der Designbewegung, fußt auf dem durch Jugendideologien genährten Hedonismus. In dem von Individualisierung, Hedonismus, Ästhetisierung, Theatralisierung, Jugendideologie, Urbanität, Internationalität, Mobilität, Zeitflexibilität und neuer Öffentlichkeit gebildeten Raster wächst der postindustrielle Typus des sozialen Abenteurers heran. Da mit der Auflösung der Arbeitsgesellschaft und den Entscheidungsrisiken das Leben bald für alle abenteuerlicher wird, wird man den Typus, wenn auch nur ansatzweise, auf verschiedenem Niveau wohl überall antreffen.
Mobilität, Urbanität, Flexibilität, Hauptmerkmale, werden weiter differenziert oder ergänzt: jung, breit gebildet, ortsungebunden, familienunabhängig (Singles), entschlossen, risikofreudig, kommunikativ muß einer jedenfalls sein, um dem Typ zu entsprechen. Er muß selbständig denken, in immer neuen Situationen aus dem Stand improvisieren und andere überzeugen (und blenden), um seinen Vorteil zu nutzen, der ihm Lebenslust verspricht. Selbstinszenierung wird zur notwendigen Kunst, um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erringen. Der selbstbewußte Einzelgänger ist nur vorübergehend teamfähig und ohne Führungsinteresse.
Der soziale Abenteurer, von dem ich spreche, entwickelt sich dort, wo die Welt am komplexesten ist und Macht, Reichtum, Vergnügen und Gelegenheiten des Fortkommens sich konzentrieren: in den Metropolen. Er schätzt den Luxus und übernimmt als Groupie der Reichen und Mächtigen hin und wieder heikle Aufgaben: diskrete Missionen, Transaktionen und Projekte. Der Casanova ähnliche Typus sucht zwar die Nähe von Macht und Reichtum und findet Spaß am Mitmischen. Von den Mächtigen wird er geduldet, denn er konkurriert nicht mit ihnen, weil er an der Machtausübung selber keinen Gefallen hat: zum einen, weil er aus Führung, Herrschaft und Unterdrückung keine Lust bezieht, zum andern, weil sie ihn die Unabhängigkeit, seine Freiheit kosten würden, die er über alles stellt.
"Ich war vollkommen mein eigener Herr", schreibt Casanova stolz in einer Zeit, da der Chevalier de Rohan den berühmtesten aller Literaten, Monsieur de Voltaire, der ihn wegen einer Beleidigung gefordert hatte, von seinen Domestiken verprügeln ließ.