(The tongue)

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Published in: taz - die Tageszeitung


 

Von Kopf bis Fuß (3): Die Zunge
Von Wörtern und anderen Bissen

Dass wir unsere Zunge sowohl zum Schmecken wie zum Sprechen benutzen, ist eine große Merkwürdigkeit unserer körperlichen Konstitution. Die Zunge ist zudem der einzige Körperteil, der buchstäblich aus der Haut fahren kann: Sie allein kann die Oberfläche – die Haut, welche die leibliche Identität des Ichs umschließt – durchbrechen.
Eine gemeinsame Dimension unserer Sinne ist die Distanz, aus der ein Gegenstand wahrgenommen wird. Der Geschmackssinn ist unter den Sinnen der intimste, da wir das von Auge, Ohr, Nase und Händen in der Entfernung und draußen geprüfte Ding vertrauensvoll in unseren Körper einlassen, um es erst drinnen zu schmecken, wenn es ganz uns gehört. Die Zunge gilt als zum inneren Körper gehörig, auch weil sie rot ist. Sie wird als intimer Körperteil betrachtet. Ihr Charakter ist zwiespältig. Denn sie wälzt nicht nur Essbares, sondern auch Worte. Man spricht darum von „Ländern deutscher Zunge“, und „lingua“ (ital.), „lengua“ (span) und „langue“ (franz.) bedeuten beides: Zunge und Sprache.
Die Zunge hat damit einerseits eine sehr materielle und andererseits eine ideelle Aufgabe. Tut sie aber beides zugleich, gilt das als anstößig. Während des Kauens zu sprechen findet man unanständig, denn das Kauen ist der Anfang des Verdauungsvorgangs, dessen Ende verrufen ist. „Sprich nicht mit vollem Mund!“ ist eine mütterliche Ermahnung, die jeder kennt und beherzigen sollte. Darum ist es geboten, stets mit fest geschlossenem Mund zu kauen, wie es die wirklichen Damen tun, die in ihren Mund, damit er nicht sperrt oder sich die Backen ausbeulen, immer nur kleine Bissen stecken – eben „ein bisschen“.
Wie hübsch ist doch die Redewendung: „Ich habe es auf der Zunge.“ Man kann sich dabei ein kleines schlaues Wort vorstellen, das auf der Zungenspitze steht wie auf einem Sprungbrett und dann übers Gemüse springt.
Doch gibt es zwei Möglichkeiten, die diskrepanten Zungenfunktionen in Harmonie zu bringen: zum einen durch die Vergeistigung des Schmeckens, zum anderen durch die Versinnlichung des Sprechens während des Essens. Die alten Römer haben das Problem gelöst, indem sie aus dem lateinischen Wort „sapere“ (für „schmecken“) das Wort „sapientia“, also Klugheit, Weisheit, bildeten. Danach muss man, um wirklich klug zu sein, die Dinge auf der Zunge gehabt, muss sie geschmeckt haben.
Im Deutschen gilt diese Vorstellung, wenigstens für ästhetische Belange, wenn man sagt, jemand habe Geschmack. Die Redewendungen „Das ist Geschmackssache“ oder „Über Geschmack lässt sich streiten“ besagen, dass der Geschmack ganz individueller Natur ist und sich nicht objektivieren lässt, wie man es unter dem Terminus des „guten Geschmacks“ immer wieder versucht hat. Zum anderen löst sich die Diskrepanz in Harmonie auf, wenn man genau über das spricht, was man isst. Der Gedanke beugt sich dann – quasi selbstreferenziell – über den Bissen. Er ist – wie beim gefährlichen Job des Vorkosters – geistesgegenwärtig dabei, das gesprochene Wort umrundet als Signifikant die Speise als sein materielles Substrat.
Schließlich gibt es noch eine dritte Art, die geistige mit der sinnlichen Seite der Zunge zu verbinden. Von Kaiser Nero wird berichtet, er habe Nachtigallenzungen verspeist in der Hoffnung, wie eine Nachtigall zu singen. Er pflegte nämlich im Theater dem Volk tagelang Arien vorzutragen. Folgt man dem kaiserlichen Aberglauben, was würde es bedeuten, weiter Kalbszunge zu essen? Eben.
Kalb oder nicht, eine abgeschnittene Zunge ist in jedem Fall ein makabrer Anblick, und erinnert an eine kürzlich im Spiegel veröffentlichte Dienstanweisung des Saddam-Regimes.