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Published in: taz - die Tageszeitung
Ich sehe was, was du auch siehst (2):
Eine Sommerserie über selbstverständliche Dinge des Alltags:
Die Treppe
– deren soziale Bedeutung einst immens war. Es war eine Frage des Rangs, ob der Fürst den Gast oben erwarteten oder sich zu ihm auf gleicher Stufe herabließ. Ohne Treppe gäbe es nicht einmal einen ersten Stock und – trotz Elisha G. Otis’ Erfindung des Lifts – auch kein Hochhaus. Erst ohne Treppen wird der Stromausfall zum GAU. Das Bedürfnis, in die Höhe zu bauen, ist alt. Monumentale Treppenanlagen findet man schon in Knossos auf Kreta. In einer unsicheren Welt dienten Hochbauten (Türme) dem Schutz, der Herrschaft und der Herrschaftsdemonstration. Um sich vor Feinden zu schützen, stieg man Leitern hinauf. In Bologna, Lucca und San Gimignano sind einige Wohntürme des Adels erhalten. Eine alte, geniale Erfindung ist die Wendeltreppe, die sich spindelartig auf einem Punkt platzsparend in die Höhe schraubt. Heute treiben Bodenknappheit und die hohen Grundstückpreise in den Städten den Bau in die Höhe. Treppen oder Stiegen sind so weit rein funktional.
Werden Treppen allerdings innerhalb der Frontfassade oder des Eingangsbereichs Teil der Schauseite eines Gebäudes, sind sie auf ein angemessenes Gehen hin eingerichtet, sie dienen der Repräsentation und werden dabei selbst repräsentativ. Der Unterschied zwischen Leiter und Treppe entspricht dem zwischen Affe und Mensch, denn auf der Leiter müssen wir uns wieder wie ein vierfüßiges Tier bewegen. Die horizontale Fläche einer Treppenstufe, der „Auftritt“, ist der Fußlänge angepasst, die vertikale Stufenfläche, die höhere oder niedrigere „Setzstufe“ bestimmt die Beugung des Knies: einem Soldaten wird zugemutet, die Knie hoch zu ziehen, um schnell nach oben zu gelangen, für den Dogen hingegen ist die Setzstufe so niedrig, dass das Hinauf - oder Hinabsteigen ein würdiges Schreiten bleibt.
Bei Außentreppen ist der Auftritt oft podestartig lang, sodass die Schrittfolge einen wohl kalkulierten schönen Rhythmus erhält. Die Zwischenpodeste ermöglichen ein effektvolles Innehalten. Dem leichteren Steigen, dem Schutz vor dem Fallen und dem würdigen Hinabschreiten dient das Geländer, auf dem die Hand entlang gleitet. Die Treppe und der Handlauf, die Türklinke und der handgerecht geformte Ziegelstein sind in der modernen, industriell vorgefertigten Architektur die wenigen Reminiszenzen an das angebliche Maß aller Dinge: den menschlichen Körper.
Die großartigen Treppenhäuser des genialen Balthasar Neumann (1687 bis 1753) in Bruchsal, Brühl und Würzburg sind Konstruktionen für das Ritual der Begrüßung. Die Treppe und das Hinauf- oder Hinabschreiten präludieren das Zusammentreffen. Es war eine Frage des Rangs, ob der Hausherr – der Fürst – den Gast auf einem oberen Podest erwartete oder ihm entgegenschritt, sich buchstäblich „herabließ“. Erst dann standen Hausherr und Gast wortwörtlich „auf gleicher Stufe“. Die Treppe ist seit je auch das Instrument einer soziale Vermittlung. Vielleicht war sogar die Anzahl der Stufen, die der Hausherr sich herabließ, nach dem sozialen Rang des Gastes berechnet. Jemanden die Treppe hinabzuwerfen bedeutet einen sehr tiefen Fall.
Ästhetisch betrachtet ist die Freitreppe eine Überleitung zwischen der Horizontalen des Terrains und der Vertikalen der Gemäuers, eine abmildernde Vermittlung der ansonsten abrupt aufeinandertreffenden beiden Hauptparameter der Architektur – darin übrigens ähnlich dem architektonischen Dekor der Volute. Derart leitet die Treppe in die Landschaft über oder zieht die Landschaft heran, die – domestiziert und kultiviert – selbst zu einem Stück Architektur wird.
Den Vorraum von Michelangelos Bibliotheca Laurenziana in Rom vergleicht Nikolaus Pevsner mit einem Schacht, die Bibliothek selbst mit einem Stollen und die Treppe mit „einem zähen, lavaähnlichen Fluss“. In der manieristischen Architektur wird die Treppe künstlerischer Ausdruck quälender, unlösbarer Dissonanzen. Nicht nur bei der Spanischen Treppe, die von der Kirche Trinità dei Monti in Rom hinabflutet, gibt es konvexe und konkave Stufen, die von den sich vorschiebenden Wellen einer Flüssigkeit inspiriert zu sein scheinen, wobei die konkave Stufe zum Aufstieg einlädt, die konvexe den Abstieg vorbereitet.
Überhaupt ist die Kaskade Vorbild für den Treppenbau: Wie der Wasserfall, der sich verschiedene Seitenabflüsse sucht, gibt es in Barock und Rokoko Treppen mit Haupt- und Seitenabgängen. Andere Treppen aus dieser Zeit scheinen sich in einer Kurve federleicht hinaufzuschwingen. Heute ist die praktische Funktion der schlichten Höhenüberwindung zweifellos dominant, die soziale und die ästhetische Bedeutung der Treppe wird dabei leicht vergessen. Treppe ist Treppe, na und?