Loss of Appetite. A look back at man-eating:

Alexander von Humboldt entered the New World 200 years ago

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Published in: Frankfurter Rundschau


Alexander von Humboldt betrat vor 200 Jahren den Boden der Neuen Welt

Den so anstelligen Indianer hätte Alexander von Humboldt in Dienst nehmen wollen. Doch wie befremdet war der preußische Weltmann, als er ihn sagen hörte, seine Verwandten äßen vom Menschen die Handflächen am liebsten. „Und bei diesem Ausspruch äußerte er durch Gebärden seine wilde Lust.“ Der Forschungsreisende hat zwar nicht wie noch sein Jugendfreund Georg Forster die Menschenfresserei mit eigenen Augen gesehen, doch war sie für ihn wie für jeden Europäer das abscheulichste Beispiel unauflösbarer Fremdartigkeit.
Christoph Kolumbus, der nie Augenzeuge geworden war, hatte der Ungeheuerlichkeit keinen Glauben geschenkt. „Aber der Admiral glaubte ihnen nicht“, lesen wir in seinem berühmten Tagebuch. Amerigo Vespucci sah gesalzenes Menschenfleisch wie Schinken an Balken hängen. Er schrieb um 1500 über die Leute aus Caniba: „Sie sind unmenschlich, schlimmer als Tiere.“ Die Konquistadoren rotteten dann nicht nur die menschenfressenden Kariben, sondern Millionen von Indios aus. „Ihre grimmigen Jagdhunde fingen die Indianer wie wilde Schweine“, schrieb 1552 der Dominikaner Las Casas, der 40 Jahre in Südamerika verbrachte.
Ungläubigkeit, Erklärung zu Nichtmenschen, Vernichtung das waren die ersten Reaktionen. Am 16. Juli vor 200 Jahren betrat der knapp 30jährige Alexander von Humboldt in Cumana im heutigen Venezuela - so genannt, weil die Pfahlbauten der Indios den Vespucci an Venedig (Venezia) erinnert hatten - den Boden des Neuen Kontinents. Dort gab es eine deutsche Tradition: Im frühen 16. Jahrhundert hatte das Augsburger Handelshaus der Welser von Kaiser Karl V. die Privilegien zur Ausbeutung Venezuelas erhalten. Sie importierten afrikanische Sklaven und versahen des Kaisers Kriegskasse mit Raubgold. Wo der große Naturforscher und Humanist - ein persönlicher Freund von Bolivar wie von Goethe - als empirischer Forscher und letzter Universalgelehrter seinen Weltruhm begründete, hatte 1531 der deutsche Konquistador Nicolaus Federmann die Indios der Guaykeri mit Rossen entsetzt, die sie zuvor nie gesehen hatten, und „wie die Säu“ erstechen lassen. Die Menschenfresserei als Extrem der Fremdartigkeit nimmt in Humboldts Reisetagebuch einen vergleichsweise kleinen Raum ein. Doch läßt sich an diesem Phänomen zeigen, wie ein Humanist, der die Einheit und Gleichwertigkeit des Menschengeschlechts postulierte und die nordamerikanische Sklavenwirtschaft brandmarkte, mit einer Abartigkeit umgeht, die seit den ersten Berichten Anlaß gab, die indianischen Eingeborenen als Unmenschen zu behandeln. Als Naturforscher in der Tradition der Aufklärung geht Humboldt bei der Beurteilung fremdartiger Mannigfaltigkeit, wie sie ihm in Fauna, Flora und „Wilden“ entgegentrat, stets von der Vorstellung eines guten Naturganzen aus, dessen jede Ausprägung, ob mehr oder weniger weit entwickelt, gut und schutzwürdig ist. Wie die eine Pflanze ihm nicht wertvoller sein kann als die andere, so ist ihm ausdrücklich keine Rasse edler als die andere. Unterschiede, die fremd anmuten, stehen nicht schroff gegeneinander, solange sie über das gute Naturganze miteinander vermittelbar sind. Nach Humboldts Auffassung, die er mit Georg Forster und anderen fortschrittlichen Zeitgenossen teilt, bleibt der Mensch, wie kulturell entwickelt er sei, auch Teil des Naturganzen, denn seine soziale Entwicklung, wenn auch nicht deren Richtung, ist in der Natur angelegt. Aus dieser fundamentalen Einbindung ergibt sich auch die Grundhaltung gegenüber dem Fremden, Neuen und Anderen: es gehört in jedem Fall zuallererst in den globalen Naturzusammenhang und ist daher a priori tolerierbar. Aber Kannibalismus? Man nannte Humboldt bald irreführend den „zweiten Kolumbus“, doch kam er nicht als Eroberer, sondern als Forscher. Wenigstens dreierlei unterscheidet seine 5jährige Expedition grundsätzlich von denen seiner Vorgänger: er erforschte bereits kolonialisiertes Land, er konnte sein Unternehmen mit eigenem Vermögen finanzieren, und er forschte zu rein wissenschaftlichen Zwecken. Als finanziell unabhängiger Forscher, zudem als Kosmopolit (und als Mitglied der transnationalen „Gelehrtenrepublik") in der Zeit der sich heranbildenden Nationalstaaten hatte Humboldt den außerordentlichen Status eines Mannes, der allein im Dienste der Menschheit sein Leben unter Moskitos, Vampiren, Piranhas, Schlangen und Krokodilen riskierte. Doch Menschenfresser mußte er nicht mehr fürchten.
Auf einem mit Papageienkäfigen behängten und mit Präzisionsgeräten gefüllten Einbaum, über den sieben Affen turnten, durchfuhr er die endlosen, nach faulenden Krokodilen stinkenden Wasser des Orinoco, Mund und Nase voller Insekten. Er kostete Ameisenpastete, Zitteraal und das Pfeilgift Curare und sah den Erdessern zu, die sich von Erdklößen ernährten. Er sah Delphine, die sich durch die überschwemmten Waldgebiete davonmachten wie bei uns die Wildschweine. Alligatoren, bis zu acht Meter lang, fraßen ihm das Pferd bei der Überquerung eines Flüßchens unter dem Sattel weg. Gegen die Hitze der Savannen hatte er sich den Hut mit Blättern gefüllt.
Humboldt war mit Empfehlungen des spanischen Königs gekommen und gewann sich als hochgebildeter Weltmann von Stande, geistreich, polyglott, in den Salons von Berlin und Paris zu Hause, leicht den Statthalter der Kolonie. Nun standen ihm alle Türen offen. Der Naturforscher und Grandseigneur war als ausgebildeter Grubenexperte auch ein sehr praktischer Mann. Der französische Botaniker Aime Bonpland begleitete ihn durch den Urwald, der so dicht war, daß in ihm sich nur Klettertiere bewegen und die Forscher kaum feststellen konnten, welche Blüte zu welcher Pflanze gehörte.
Den Wissenschaftler treibt die professionelle Neugier, das Fremde durch geeignete Methoden in Bekanntes zu verwandeln. Eine Voraussetzung im Alltag wie in den Wissenschaften ist das Vergleichen. Humboldt hat es systematisch betrieben: Vergleichende Geologie, vergleichende Pflanzengeographie, vergleichende Anthropologie usw. Bezogen auf den Menschen, handelt es sich dabei stets um den Versuch, Unterschiede auf der Basis grundsätzlicher Gemeinsamkeiten zu konstatieren. In der Anthropophagie begegnet dem Forschungsreisenden das Fremde in seiner unheimlichsten und abstoßendsten Gestalt. Christen waren es gewohnt, dem Gebot der Nächstenliebe zuwiderzuhandeln, wenn sie Menschen, die sie doch als ihresgleichen anerkannten, töteten, folterten und massakrierten. Doch vor dem Verzehr empfanden sie Abscheu.
"Daß ihr sie eßt, erscheint mir schrecklich, das Totschlagen aber nicht so sehr“, sagte der deutsche Landknecht Hans Staden im Jahre 1548 einem Kannibalen, dessen Gefangener er war. Der tiefe Abscheu liegt in der Bibel begründet, die den Menschen als Ebenbild Gottes über die übrigen Geschöpfe setzt. Ißt er seinesgleichen oder wird er gegessen, sinkt er unter das Tier, das seine Verwandten nur ausnahmsweise verzehrt. Eine Speise zu sein, das widerspricht der Menschenwürde. Gefressen zu werden nennt Vespucci eine Schmach. Von Gottes Ebenbild bleiben nur Exkremente.
In seinem Reistetagebuch stellt Humboldt unter dem Datum vom 12. Mai mit Bestimmtheit fest: „Wenn die Völker von Guayana Menschenfleisch essen, so werden sie nie durch Mangel oder kultischen Aberglauben dazu getrieben, wie die Menschen auf den Südseeinseln; er beruht meist auf der Rachsucht des Siegers und - wie die Missionare sagen - auf ,Verirrungen des Appetits'.“ In der ihm eigenen Knappheit hat Humboldt hier die drei traditionellen Erkärungsversuche für das verabscheute Phänomen angeführt: Mangel, Kult und Rachsucht.
Rachsucht ist die Erklärung, die Humboldt im Fall der Indios für die richtige hält. Darüber hinaus relativiert er: „Anthropophagie und Menschenopfer, die so oft damit verknüpft sind, kommen bekanntlich überall auf dem Erdball und bei Völkern der verschiedensten Rassen vor.“ In der Tat. Etwa bei den Chinesen. Wenigstens in zwei Kapiteln des Romans Die Räuber von Liang Schan Moor, eines Epos aus dem 13. Jahrhundert, finden sich Beschreibungen von Menschenfresserei, die keinerlei Abscheu erkennen lassen: „Mit einem Festmahl wurde der Tag beschlossen. Während des Mahles wurde der Schuke Liu herbeigeschafft und an den Marterpfahl gebunden. Mit eigener Hand Schnitt Hua Jung das Herz heraus und legte es auf einem Teller seinem Freund Sung als Tribut vor. So rächte er die ihm angetane Unbill."
Durch die Relativierung werden die Eingeborenen von dem Makel befreit, die Menschenfresserei sei Merkmal ihrer Rasse und sie seien von Natur aus Un-Menschen, wie die Konquistadoren und ihre Legitimatoren um 1500 behaupteten, als man den Indianern mit Hilfe der Kirche die Seele absprach: So galten sie als Tiere und konnten entsprechend behandelt werden.
"Ungern brauche ist das Wort wild“, schreibt Humboldt, weil es zwischen dem unterworfenen, in den Missionen lebenden, und dem freien oder unabhängigen Indianer einen Unterschied in der Kultur voraussetzt, dem die Erfahrung häufig widerspricht.“ Die friedlichen, ackerbauenden und ihre Hängematten webenden freien Indianer seien um nichts barbarischer als die nackten Indianer in den Missionen, die man das Kreuz habe schlagen lehren. Als Wilde bezeichnet Humboldt lediglich die umherziehenden Horden. „Die Völker, die eine Ehre darin suchen, ihre Gefangenen zu verzehren, sind keineswegs immer die versunkensten und wildesten. Diese Bemerkung hat etwas peinlich Ergreifendes, Niederschlagendes."
Weder also ist die Menschenfresserei einer bestimmten Rasse zuzuschreiben noch einem naturnahen Urzustand. „Die Barbarei, die in diesen Regionen herrscht, ist vielleicht weniger der Ausdruck ursprünglicher völliger Kulturlosigkeit, als vielmehr die Folge langer Versunkenheit. Die meisten der Horden, die wir Wilde nennen, stammen wahrscheinlich von Völkern ab, die einst auf bedeutend höherer Kulturstufe standen.“ Beunruhigend ist für Humboldt, daß es eher die zivilisierten Indianer sind, die zur Menschenfresserei neigen.
Auch Kolumbus hatte nicht glauben wollen, daß gerade diejenigen Kannibalen sein sollten, die den anderen Stämmen in der Kunst der Waffen und des Schiffsbaus überlegen waren. Menschenfresserei und das Töpfern, Bemalen von Geschirren, Weben und Tauschhandel seien, meint Humboldt, ein seltsamer Kontrast. „Denkt man über die Sitten dieser Indianer nach, so erschrickt man ordentlich über diese Verschmelzung von Gefühlen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen."
Das Zugleich von Umgänglichkeit und Bestialität macht die Menschenfresserei fast noch unheimlicher. Allen Entdeckern und Forschern seit Kolumbus waren Nacktheit, Hautfarbe, Bemalung, Vielweiberei, Inzest, Schamlosigkeit und Gemeinbesitz der Eingeborenen relativ fremd, d.h. sie konnten die Fremdartigkeit durch Vergleich mit den eigenen Sitten relativieren, was schwer genug war, aber das Gefühl der Überlegenheit festigte. Es gab eine gemeinsame Dimension, auf der Nacktheit, Lendenschurz, Umhang und europäische Bekleidung rangierbar waren. Menschenfresserei dagegen blieb absolut fremd: Es gab nichts Vergleichbares. Humboldt sucht der absoluten Fremdheit mit Erklärung (Rachsucht) und Relativierung (Ubiquität der Anthropophagie) zu Leibe zu rücken. Er beklagt an der Anthropophagie die „Übermacht der Bräuche, Vorurteile und Überlieferungen über die natürlichen Regungen des Herzens“, unter die Rousseau das Mitleid gezählt hatte. Menschenfresserei ist als ein „unmenschlicher Brauch“ für Humboldt also keineswegs natürlich und damit jenseits von Schuld. Andererseits ist Schuld dem einzelnen schwer anzurechnen, wenn er tief in überlieferten Bräuchen „versunken“ ist, die er nicht reflektieren kann.
Humboldt teilte mit seinem als Sprachforscher berühmt gewordenen Bruder Wilhelm die Ansicht, daß die Sprache „in unserem ganzen Tun und Denken formend und bestimmend wirksam ist". Nach dieser Auffassung gründet ein Volk nicht in der Rasse, sondern in der Sprache, dem Medium, in dem Natur und Gesellschaft konvergieren. Sie verleihe einem Stamm seine Eigentümlichkeit, die ihn von anderen Stämmen unterscheide. „Und dies ist eine unerschöpfliche Quelle von Bewegung und Leben in der geistigen Welt.“ Hier kommt Humboldt, der als „Holist“ im Unterschied zu den szienistischen Faktenzählern die Einheit des Weltganzen betont, der Position der postmodernen Pluralisten nahe, die dem Begriff der Einheit, der ja ein Leitbegriff der Moderne wurde (Einheit des Volkes, Einheit der Arbeiterklasse, Standardisierungen in Technik und Gesellschaft), den Begriff der „Differenz“ entgegenstellen.
Der New Yorker Soziologe Richard Sennett schreibt: „Wir haben Mühe, die Erfahrung des Unterschieds als positiven Wert zu begreifen.“ Genau dies tut aber Humboldt, wenn er in der Verschiedenheit die Quelle der geistigen Bewegung sieht und den fruchtbaren Wettstreit der griechischen Stadtstaaten erwähnt. Fremdheit wird damit auch eine positive initiative Funktion zuerkannt. Der Tübinger Soziologe Friedrich H. Tenbruck hat der traditionsreichen völkischen These, nach der ein Volk sich allein aus sich selbst entwickle, entgegengehalten, Kultur entwickle sich gerade durch das Zusammentreffen einander fremder Völker, und zwar auf jeder Seite. Fremdheit auch positiv zu werten ist die Voraussetzung der Kulturenvielfalt in unseren Metropolen und ist dem unter dem Einheitspostulat stehenden alten Verständnis vom „Schmelztiegel“ entgegengesetzt.
Humboldt hat die Abschließung der Stämme in den kirchlichen Missionen heftig kritisiert: „Die Abkapselung hatte zur Folge, daß die Indianer so ziemlich blieben, was sie waren. Sie haben mehr und mehr von der Charakterstärke und der natürlichen Lebendigkeit eingebüßt, die auf allen Stufen menschlicher Entwicklung die edlen Früchte der Unabhängigkeit sind.“ Man hat sie „gehorsam gemacht, zugleich aber auch dumm". Nur in Kontakt, Austausch und Auseinandersetzung mit den anderen Stämmen sowie mit der Zivilisation der Weißen hätten die Indianer nach Humboldts Auffassung die Möglichkeit, sich zu entwickeln, ohne ihre Identität verlieren zu müssen. Voraussetzung wäre nicht Disziplinierung, sondern die Unabhängigkeit der Indianer, die Freiheit.
Andererseits verkennt Humboldt nicht die negativen Seiten der Differenz, d.h. die unüberwindliche Fremdheit unter den Stämmen, wenn eine Vorstellung von Menschlichkeit fehlt. „Den Eingeborenen wegen des abscheulichen Brauchs, von dem hier die Rede ist, Vorwürfe zu machen, hilft rein zu nichts; es ist gerade, als ob ein Brahmine vom Ganges, der in Europa reiste, uns darüber anließe, daß wir das Fleisch der Tiere essen. In den Augen des Indianers vom Rio Guaisia war der Cheruvichahena ein von ihm selbst völlig verschiedenes Wesen; ihn umzubringen war ihm kein größeres Unrecht, als die Jaguare im Walde umzubringen.
An anderer Stelle heißt es: „Die Wilden verabscheuen alles, was nicht zu ihrer Familie oder ihrem Stamme gehört, und Indianer einer benachbarten Völkerschaft, mit denen sie im Kriege leben, jagen sie wie wir das Wild. Die Pflichten gegenüber der Familie und Verwandtschaft sind ihnen wohl bekannt, keineswegs aber die Pflichten gegenüber der Menschheit. Erst die Zivilisation hat dem Menschen die Einheit des Menschengeschlechts zum Bewußtsein gebracht und ihm gleichsam offenbart, daß ihn auch mit Wesen, deren Sprache und Sitten ihm fremd sind, ein Band der Blutsverwandtschaft verbindet."
Gegen diese negative Seite der Differenz - eine Differenz, die er gutheißt, soweit sie die Eigentümlichkeiten eines Stammes ausmacht - führt Humboldt hier die Einheit an. Die wie auch immer vage Einheitsvorstellung von einer Menschheit, wie sie im anspruchsvollen Gebot der Nächstenliebe normativ formuliert ist, bleibt die Grundvoraussetzung jeden Pluralismus. Die „Alternative“ wäre das Chaos.
Georg Forster hat die Rachsucht der Indios mit dem Fehlen von Institutionen begründet, wie sie die bürgerliche Gesellschaft im Recht und der Übertragung aller Gewalt an den Staat besitzt. Bei Forster - wie auch in Humboldts Tagebuch - fehlt jedoch eine Erklärung für das Auffressen selbst, ungeachtet des vorausgegangenen Tötungsaktes, Humboldt hat von „kultischem Aberglauben“ gespochen; doch läßt er diese Erklärung für die Indios vom Orinoco nicht gelten, obwohl sie in ihrer Versunkenheit möglicherweise Rituale einer einst höheren Kulturstufe vollzogen, deren Sinn sie nicht mehr verstanden.
Im Jahre 1557 hat der schon erwähnte Hans Staden aus dem hessischen Homberg, der unter die Kannibalen gefallen war und freigekauft wurde, den abscheulichen Schmaus noch drastischer und detailreicher beschrieben als vor ihm Vespucci. „Das Hirn, die Zunge und was sonst noch genießbar ist, bekommen die Kinder“, heißt es dort etwa, und er spricht von „gebratenen Christen". Klar geht aus seinem unbefangenen Bericht jedenfalls hervor, daß es sich bei dem Verzehr der Feinde um einen Ritus handelte, um eine festliche Zeremonie. Neben Erklärungen und Relativierung ist die Projektion ein dritter Modus, um den Schock abstoßender Fremdartigkeit zu mildern. Nicht ohne Spott erwähnt Humboldt die Versuche, die wilden waffentragenden Frauen, die man am Ufer eines Flusses sah, nach den antiken Amazonen zu nennen. Die „Amazonen“ wurden mit den Kannibalen stets in einem Atemzug genannt. Im Bericht von Carvajals, dem späteren Bischof von Lima, erfährt man, es habe sich um Frauen gehandelt, die der Männerherrschaft überdrüssig gewesen seien. „Heulend wie wilde Tiere, den blanken Degen umklammernd, stürmten die Spanier vorwärts“, als sie der wehrhaften Frauen ansichtig wurden. Die Projektion fängt das Neue ganz mit dem schon Bekannten, so daß Unterschiedenheit (Differenz) gar nicht bemerkt wird. Tzvetan Todorov schrieb 1985 über diese protektive Ignoranz: „Die konkrete Erfahrung hat die Funktion, eine Wahrheit zu belegen, die man bereits besitzt."
Es liegt auf der Hand, daß die vergleichenden Methoden eines empirisch arbeitenden Forschers den noch im spekulativen Idealismus befangenen deutschen Wissenschaftlern suspekt waren. Friedrich Schiller, Anhänger Kants, vermißte an Humboldt die „Einbildungskraft". Humboldt zieht die anthropophagen Szenen in der griechischen Mythologie - Kronos, Tantalos, Polyphem - oder gewisse Stellen im 3. Buch Mose tatsächlich nicht zur Erhellung der indianischen Menschenfresserei heran.
Um eine eher moralische Strategie zum Abbau der Fremdheit handelt es sich schließlich bei der kritischen Wendung gegen die eigene Kultur. So argumentiert Montaigne im 16. Jahrhundert, es sei wohl barbarischer, einen lebendigen „Körper, der noch die völlige Empfindung hat“, zu foltern, „als ihn tot zu fressen“, und dazu noch „unter dem Vorwand der Gottesfurcht und der Religion". Und Georg Forster: „Ist es aber nicht ein Vorurteil, daß wir vom Fleisch eines Erschlagenen Abscheu haben, da wir uns doch kein Gewissen daraus machen, ihm das Leben zu nehmen?“ Im Grunde handelt es sich auch bei dieser Problemverschiebung um eine Relativierung, insofern der abergläubische Ritus der Eingeborenen mit dem „Vorurteil“ der Europäer verglichen wird. Kulturkritik dieser Art findet sich bei Humboldt jedoch an keiner Stelle.
Während die früheren Erklärungen im Akt des Verzehrs nur eine Steigerung des rachsüchtigen Tötens sahen, sieht man darin jetzt eher den Versuch, sich alle Kräfte des Feindes einzuverleiben. Denn nach den alten Berichten werden meist die Gefangenen verzehrt. Die Anthropophagie begreifen wir heute zum einen als spurlose Vernichtung des Feindes und zum anderen als Aneignung aller seiner Potenzen. So wird der Tote zum Lebensspender. Es war Sigmund Freud, der in Totem und Tabu (1912-13) die Ähnlichkeit der Menschenfresserei mit dem Ritus des Abendmahls feststellte, bei dem die Gläubigen das Blut und das Fleisch des Mensch gewordenen Gottessohnes gemeinschaftlich verzehren und sich in der Kommunion zur Gemeinde zusammenschließen, ähnlich wie die Wilden zum Clan. Solche Parallelen hätten, solange die Kirche dominierte, das Selbstverständnis und das Geschichtsbild der Christen zerrüttet, die ja gegen die Unmenschlichkeit gerade ihren Glauben ins Feld geführt hatten. Solche Parallelen lagen daher außerhalb des Denkbaren. Ungläubigkeit, Absprechen der Menschlichkeit, Vernichtung, Relativierung, Erklärung, Projektion und Selbstkritik sind die Hauptstrategien gegen die Unfaßbarkeit des absolut Fremden. Sie mischen und verhärten sich zu Vorurteilen, einem Schutzschild gegen das Verletzende des Fremdartigen. Als Wissenschaftler bevorzugt Humboldt die Erklärung. Da er die Wilden nicht als Naturmenschen betrachtet, sondern eher als „Versunkene“, kann er die Menschenfresserei nicht im Rahmen seiner Naturauffassung tolerieren. Als „Versunkene“ andererseits sind die Wilden für ihr Handeln nicht so verantwortlich, daß man sie einzeln moralisch verurteilen könnte.
Trotz der Erklärungs- und Relativierungsversuche: Die Menschenfresserei blieb für Humboldt absolut fremd. Weder seine Naturauffassung noch sein Humanismus reichen hin, das abstoßende soziale Phänomen zu verarbeiten. Die erschreckende Nähe zur christlichen Kultur blieb ihm unbekannt und der Schock, das absolut Fremde im Eigenen erkennen zu müssen, erspart. Vor Freud galt Fremdheit als etwas jenseits von Grenzen. Heute haben wir gelernt, das Fremde überall zu erkennen, auch in uns selbst.