Marx-Mütterchen

Pansies
 
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Published in: Frankfurter Rundschau


 
Von massenhaften Endzeitphänomenen

Als Dr. Breitinger - jener, der sich dereinst in den wollüstigen Todesengel auf dem Genueser Friedhof Staglieno verliebt hatte (die FR berichtete) - mit dem Pflanzen der Stiefmütterchen zu Rande gekommen war, zog er seine rosa Gummihandschuhe aus und blickte den Blümchen ins Gesicht. Hübsch. Doch sie erinnerten ihn an etwas, was war das? Er besann sich, aber es wollte ihm nicht einfallen. So verließ er seinen Balkon, vergaß die Blümchen für eine Weile und machte sich an die Arbeit.
Breitinger schreibt für das Feuilleton in- und ausländischer Zeitungen über Endzeitphänomene, über den Dandyismus zum Beispiel: Beau Brummel, Oskar Wilde, Baudelaire, Barbey d'Aurevilly usw. Als sein Blick über die Bücherrücken seiner wohlsortierten Bibliothek schweift, durchzuckt ihn eine Ahnung. Er erhebt sich von seinem Arbeitsstuhl und greift in die Blauen Bände, die dort immer noch stehen, denn der Doktor kann sich das leisten. Griffsicher zieht er den berüchtigten Band 23 heraus und blickt dem Mann ins Gesicht, der die Bourgeoisie aller Nationen in Schrecken gehalten hatte: Die breite Denkerstirn von gewelltem Haar umrahmt, das die Wangen hinabwandernd sich zu einem gewaltigen, doch zivilisiert gerundeten schwarzen Bart auswächst, gleicht der Kopf des großen Revolutionärs ohne Zweifel einem Stiefmütterchen. Natürlich lächelt Dr. Breitinger über diese Entdeckung.
Wenn er nun, um einen Zigarillo zu rauchen, auf seinen Balkon hinaustritt, sieht er in seinem Blumenkasten aus toskanischer Terracotta nicht einmal, sondern mehrfach, nein, genau dreißigmal in das herrische Gesicht von Karl Marx. Damals hatte er nicht nur den Band 23, sondern auch den viel vertrackteren Band 24 durchgearbeitet, den mit den Waren- und Geldkreisläufen. Doch nun befaßt er sich mit dem Phänomen des Dandyismus. Und diese Blümchen, so scheint es, lenken ihn ab, indem sie ihn an eine Zeit erinnern, die er zwar nicht missen will, weil sie fruchtbar gewesen ist, intellektuell gesehen, die ihm aber heute reichlich vergangen vorkommt.
Einmal hatte er sogar in einer K-Gruppe theoretische Basisarbeit abgeleistet, grauenhaft, denn keiner vermochte Marxens wunderbare Kreisläufe, welche die Gesellschaft als System erst verständlich machten, auch nur ansatzweise zu begreifen. Heute würde Dr. Breitinger das metaphorisch erklären: Alle Mitglieder der Gesellschaft sitzen an diesen Kreisläufen und angeln. Das versteht jeder. "Flüssigkeit des Kapitals" hatte der große Denker genannt, was inzwischen "Globalisierung" heißt, und das zu einer Zeit, als die Bürger und ihre Ökonomen noch von der Nation träumten. Dr. Breitinger geht nun nicht mehr so oft auf den Balkon. Das Wetter ist auch schlecht geworden.
Stiefmütterchen sind sehr langlebige und sehr zähe Pflanzen, es gibt sogar eine winterharte Sorte. Es sind keine einzeln stehenden bedeutungsvollen Blumen wie etwa die von den Präraffaeliten, Oskar Wilde und Beardsley so verehrte weiße Lilie, Blume der Verkündigung, mit welcher der flügelschlagende Engel Maria in fromme Scheu versetzte, sondern sie treten stets massenhaft auf.
Dr. Breitinger konnte seine dreißig Stiefmütterchen nach einem Monat nicht mehr sehen und ersetzte sie durch mauvefarbene Petunien, deren bezaubernde Einfachheit er mochte (ein zart gefaltetes Stück Farbe!). In einem üppigen Schwall fielen sie über die Brüstung seines Balkons.
Da bisher außer Dr. Breitinger niemand weiß, daß besonders die weißen und gelben Stiefmütterchen wie Karl Marx aussehen, werden diese Blumen weiterhin bedenkenlos in großen Mengen gepflanzt. Die Leute finden nichts dabei. Aber wenn sie es wüßten, dann sähe es auf unseren Friedhöfen anders aus. Der Doktor läßt die Sache auf sich beruhen. Sie tangiert ihn nicht mehr.