Styles around 1900

Boa in early spring
An exhibition in Apolda documents stylistic forms around 1900

 
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Published in: Frankfurter Rundschau


 
Boa im Vorfrühling
Eine Ausstellung in Apolda dokumentiert Stilformen um 1900

Einen Katzensprung von Weimar entfernt: Apolda, ehemals Stadt der Stricker und Wirker. Mitten im Ort alte, leere Fabrikgebäude und zwischen den Arbeiterhäusern hier und da die Villa eines Fabrikanten. Eine von ihnen ist heute das Kunsthaus, das Domizil des rührigen Kunstvereins. Die Ausstellung „1900 – Traum und Wirklichkeit“ lässt eine Entgegensetzung von Symbolismus und Realismus erwarten. Doch Kurator Hans-Dieter Mück möchte zeigen, dass die Kunst um 1900 den Einteilungen der Kunsthistoriker oft nicht entspricht. Es gibt viele Mischungen. Der im Stilpluralismus schließlich dominante Jugendstil macht Anleihen auch beim Realismus: Abbild wird Sinnbild, wie bei Heinrich Vogelers Liebespaar am Meer. Die Märcheninterpretationen des Jugendstil-Illustrators sind dagegen traumhaft suggestiv. Zum Symbol der Schwelle zwischen zwei Jahrhunderten wurde der Januskopf.
Einerseits die Todessehnsucht des fin du siècle, etwa in Max Klingers historistischen, heute unerträglich pathetischen Radierungen und Kupferstichen „Vom Tode“; andererseits nicht minder pathetisch der Jugendstil, der sich sendungsbewusst als Aufbruch feierte, z.B. mit den Apotheosen des Tanzes von Ludwig von Hofmann. Doch auch der Jugendstil kokettierte mit dem Tod, z.B. in der Salome von Wilhelm Holz. Böcklins Toteninsel hing als Reproduktion in vielen Bürgerhäusern. Die Bourgeoisie verschanzte sich vor dem Massenelend, das Industrialisierung und Großstadt hervorgebracht hatten, im ästhetisierten Heim, viele Künstler flohen aufs Land und schufen im Abseits Heimatliches, Idyllisches, Erdiges, Volkhaftes (von Kalkreuth, Thoma, von Zügel).
Traumartig wirkt der Eskapismus der realistischen Landschaftsmalerei wie auch des dekorativen Jugendstils. Der „wilhelminische“ Stil, der vom Kaiser geförderte monumentale Historismus, etwa die riesigen Historienschinken des Großkünstlers Hans Makert, verewigte abgelebte Stile zu erhabenen Scheußlichkeiten. Gegen diesen reaktionären Totenkult setzten die rebellischen, zu „Sezessionen“ zusammengeschlossenen Künstler auf die „reine“, unverbrauchte Natur. Gegen Industrie, Großstadt und Proletarisierung sahen sie die lebbare Utopie im Kunsthandwerk.
Die ausgestellten Landschaftsbilder haben nichts von der positiven Lichtheit und Freiheit des französischen Impressionismus, der ja um 1900 nicht mehr neu war – ausgenommen die heiteren Sommerbilder von Gleichen-Russwurms. Auch der spätere Bauhaus-Lehrer Adolf Hoelzel sieht den Vorfrühling eher düster. Die Exponate rufen ein Gefühl großer Fremdheit hervor, etwa „Die Sinnlichkeit“ (Franz von Stuck), eine monströse Boa, die sich zwischen den Schenkeln einer Nackten hervorwindet und auf deren Busen züngelt. „Rinnsteinkunst“ (Wilhelm II.), das waren vor allem die schreienden Arbeiten der Kollwitz zum Bauernkrieg und dem Weberaufstand. Der alte Menzel und Max Liebermann hatten die junge Künstlerin für eine Goldmedaille vorgeschlagen, doch der Kaiser, der auch die „unteren Stände“ ästhetisch-moralisch zu erheben gedachte, hintertrieb die Preisverleihung.
Gewiss sind auch die „realistischen“ Radierungen der Kollwitz nicht ohne heroisches Pathos, das heute befremdet. Pathos ist eine rhetorische Weise der Inszenierung, und Inszenierung ist uns heute nicht fremd. Wohl aber das Heldische. Thematisch eindrucksvoll nah ist das Paar, das nachts mit dem schlafenden Kind einen schlammigen Wegrand entlang wandert: Migranten, Obdachlose, Asylsuchende. Es ist die heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten (Fritz von Uhde).
Kunstvereine sind von den Leihgebern abhängig, welche die besten Stücke ungern außer Haus geben. Da muss man Ideen haben: Die wohl über 100 hoch symbolischen Ex-libris, darunter von Stefan Zweig und Morgenstern, sagen über den Zeitgeist der alten Jahrhundertwende oft mehr als manches Bild.
Bis 10. September 2000.