Faun

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Published in: Frankfurter Rundschau


 

Ist der schön!" rief Dorothee. Dr. Breitinger hatte eigentlich schon zu den Caesaren weitergehen wollen, um zu sehen, ob sie hier, in der Münchener Glyptothek, auch eine Portraitbüste von Vespasian hätten, dem römischen Soldatenkaiser mit dem breiten Bauernschädel. Der hatte die von den Juliern zerrütteten Staatsfinanzen unter anderem mit der legendären Urinsteuer saniert und zu diesem Zweck eigens staatliche Pissoirs errichten lassen. Daher das "Geld-stinkt-nicht". Breitinger mochte diesen Kaiser, der für seinen Witz berühmt war. Nun blieb er stehen.
"3. Jahrhundert vor Christi", kommentierte er, "eine der schönsten Skulpturen des Hellenismus." Bei Dorothee war er allerdings nicht sicher, ob sie an Stelle des Kunstwerks den Kerl selber meinte. Darum schob er seine Freundin, die als knackig zu bezeichnen er sich neulich verbeten hatte, da er Küchenterminologie für Menschen unpassend findet, an den gespreizten Schenkeln des Barberinischen Fauns vorbei mehr auf die rechte Seite hinüber und machte sie auf die Spitze des Pferdeschwanzes aufmerksam, der, von vorn nicht zu bemerken, zwischen der nackten Hinterbacke und dem Pantherfell hervorlugte.
"Es ist ein Faun!" meinte der Doktor mit Nachdruck und ging seinen Vespasian suchen. (Aber den gibt es dort nicht.) Was für ein Mannsbild! Dorothee hatte sich wieder in den Anblick des Nackten versenkt. Was würde, sinnierte sie, dieser schlafend hingegossene Waldmensch wohl tun, wenn er plötzlich erwachte und sie hier erblickte? Während sie ihn anstarrte? Das Glied hatte man ihm abgeschlagen vorn, aber an dem Übrigen konnte man sehen, dass es wohlgebildet gewesen war, nicht so ein spitziger Schweineschwanz, mit dem die Satyrn auf den griechischen Vasen herumliefen.
In Kassel, fiel ihr ein, gab es im Museum auf der Wilhelmshöhe die Zeichnung eines Fauns, der gebückt ein Gefäß umklammert, in das er sein Ding gesteckt hat, und verzückt daran horcht. Sie hatte lachen müssen. Was würde dieser prächtige Faun - es schien ihr, als könne sie seinen Atem hören - also tun? Davonspringen? Auf sie zustürzen, um ihr etwas anzutun? Oder zu fressen? Waren diese Faune nicht überhaupt Kannibalen? Oder würde er sie ansprechen in einer gurgelnden, erdigen Sprache? Sie würde nachher ihren Doktor fragen, der einmal Altphilologie studiert hatte und so was wusste.
"Wie du dir das vorstellst!" grinste Breitinger über seinem Cappuccino, höchst erfreut, gefragt zu werden. "Er würde natürlich fliehen und dich dann aus sicherem Abstand beäugen. Wahrscheinlich würde er aber davontorkeln, denn die Forschung ist der Ansicht, er sei berauscht. Faune trinken gern. Und da sie hemmungslos sind, ist die Annahme, dass sie saufen, bis sie umfallen, sicher richtig. Wärest du aber ein Mann, was du zum Glück nicht bist" – der Doktor fasste ihre Hand –, "würde er ein Stück weiter weglaufen und von dort deine Bewegungen nachäffen."
Und dann fuchtelte Breitinger in albernster Weise mit den Armen herum und schnitt dazu Grimassen. Die Schulkinder, die es sahen, kicherten verlegen. Denn das fanden sie uncool. Dorothee auch. "Faune machen sich über Männer lustig?" fragte sie.
"Nur über Machos. Schon auf den griechischen Vasen treiben sie mit den Waffen der Helden Unfug und spielen mit ihnen. Auf einem Bild von Botticelli zum Beispiel erwartet Venus schön gelagert, was Mars vergessen, buchstäblich im Kampf verschwitzt hat: Denn er schläft. Vier ziemlich mongoloid aussehende Fäunchen haben sich seiner Waffen bemächtigt, einer hat seinen Helm übergestülpt, ein anderer bläst dem schlafenden Kriegsgott mit einem Muschelhorn ins Ohr. Faune sind feige, friedlich und faul und arbeiten nie, es sei denn, um Wein herzustellen, für sich selber natürlich."
"Und sie laufen allen Frauen nach und wollen nur das eine..."
"Nun ja, sie sind Naturwesen. Sie sind zudringlich und unverschämt. Sie schleichen sich sogar an die Göttermutter heran, aber Herakles verscheucht sie rechtzeitig. Übrigens treiben sie es tatsächlich nur mit Nymphen, die es sehr mögen. Daher ,nymphoman'". Der Doktor grinste machomäßig. "Menschenfrauen gegenüber sind sie bei aller Zudringlichkeit aber sehr, sehr vorsichtig."
Dorothee lächelte, denn sie dachte an den großen Barberinischen Faun. Sie versuchte, sich seine Hände vorzustellen, erinnerte sich nun aber, dass er keine mehr hatte. Der Doktor sprach weiter. "Die Faune sind neugierig. Oft sieht man sie im Sinne des Wortes etwas entdecken. Sie ziehen nämlich schlafenden Mädchen die Decke weg, um sie genau betrachten zu können. Könnte solch ein Mädchen auf einem Gemälde die Augen aufschlagen, würde der Faun einen Bockssprung machen und davonrennen. Sie sind nämlich bei aller Zudringlichkeit ängstlich."
"Bockssprung?" fragte Dorothee. "Haben die nicht überhaupt Bocksbeine?"
Dr. Breitinger lehnte sich auf seinem Stühlchen zurück wie einer, der nun ausholen möchte. Dazu faltete er noch die Hände und schloss einen Moment die Augen. O Gott, dachte Dorothee, hoffentlich macht er es nicht gar zu gründlich. Lieber wäre sie noch einmal zu dem großen Faun zurückgegangen und hätte ihn einfach bloß betrachtet, nein: beobachtet.
"Die Satyrn auf den griechischen Vasen haben Pferdeschwänze und Pferdeohren: Sie sind Pferdemenschen und als solche mit den wüsten Menschenpferden, den Kentauren, verwandt. Die Archäologen nennen sie "Mischwesen". Bocksbeine hat Pan, der ja auch ein Bocksgesicht hat. Aber schließlich vermischt sich die Figur des griechischen Feldgottes mit den Satyrn, die mal mit Bocksbeinen, mal mit Menschenbeinen auftreten, Spitzohren und Bockshörnchen haben. Alte Satyrn sind - wie auf den Bildern von Rubens, Jordaens und van Dycks - glatzköpfig, dickbäuchig und versoffen. Man nennt sie Silene, nach ,Silenus'. So hieß der alte Erzieher des Dionysos."
Der Doktor holte Luft, bevor er fortfuhr. "Im Vatikan gibt es eine oft kopierte wunderbare Statue eines schlanken Silens von Lysipp, ohne Stülpnase und aufgeworfenen Lippen, der liebevoll ein strampelndes Kind wiegt: den kleinen Dionysos, den furchtbaren Vegetationsgott, der seine Gegner wahnsinnig macht oder in Weinstöcke verzaubert. Der Barberinische Faun wäre nach Darwin also ein fortgeschrittener Typ. Im Hellenismus werden sie immer menschlicher, obwohl schon Praxiteles . . ."
"Menschlicher? Heißt das etwa auch", unterbrach Dorothee, die dauernd an "Rubensfrau" denken musste, "dass die Menschen in sich das Animalische anerkennen?"
"Übrigens ist das rechte Bein von Bernini", sagte der Doktor, der sich nicht gern unterbrechen lässt. "Man ist nicht sicher, ob die Haltung, die Bernini ihm damit gegeben hat, die ursprüngliche war." Dorothee gähnte (Bernini. Bernini?), was Breitinger übersah. Doch ging er auf seine Weise auf die Frage ein.
Man wisse ja zunächst nicht, erinnerte er seine Freundin, dass es sich bei der Figur um einen Faun handele, so menschlich sehe er aus. ("Seine Stellung", sagt A. Furtwängler 1910, "drückt eine von jeglicher Rücksicht freies Sichgehenlassen aus. Die Beine sind gespreizt.") Als Mensch betrachtet, musste die Skulptur also ungeheuer provokativ gewirkt haben. Dadurch, dass der Faun schlafe, werde der Betrachter oder die Betrachterin zum Voyeur mit allen Implikationen. Das heißt, der hellenistische Bildhauer sei sich der Zumutung durchaus bewusst gewesen. Erst wenn er die Skulptur auch von der rechten Seite betrachtet und das Schwänzchen erkannt habe, werde so mancher Herr erleichtert geseufzt haben: "Gottlob, er ist ein Tier!" Dorothee lachte.
Der Künstler, ergänzte Breitinger, habe sich die Frivolität leisten können, weil der Faun eben nicht als Mann angesehen werden könne, obwohl er so aussehe. Denn Männer lägen nicht so hingegeben als Objekte für die Augen anderer, womöglich gar von Frauen. Auch darum übrigens habe man diesem so menschlich anmutenden Faun einen Weinbecher angedichtet, der ihm aus der Hand geglitten sei. Er sei offensichtlich nicht Herr seiner selbst und damit als Mann nicht ernst zu nehmen.
"Vielleicht eine andere Sorte", meinte Dorothee.
"Andere Sorte? Er sieht tierisch dumm aus."
"Eher wie ein junger Bauernbursche. Er hat kein edles Gesicht, sicher, er ist ein Mann aus dem Volk. Wahrscheinlich ist er sehr lustig und tanzt gern."
"Ja, bis zum Umfallen. Übrigens ist er im Ernst kein Mann, Doro, sondern ein Naturwesen. Er ist unkultiviert. Wenn er Trauben frisst, läuft ihm der Saft übers Gesicht. Die Faune sind maßlos. Kultur besteht bekanntlich im Maßhalten, in der Angemessenheit. Faune sind gierig. Sie kriegen nie genug." Dorothee hing ihren Vorstellungen nach. Dr. Breitinger, der noch einen Cappuccino bestellte - er sagte "Cappuccio", was sie peinlich fand -, war etwas heftig geworden. Er war ärgerlich. "Ich weiß nicht", meinte Dorothee unbestimmt.
Der schlafende Faun (aus parischem Marmor) wurde bei den Umbauten, die Papst Urban VIII. Barberini in den Jahren 1624 bis 1641 an den Befestigungsanlagen der Engelsburg vornehmen ließ, zwischen Resten antiker Skulpturen gefunden. Faunus ist ursprünglich ein Gott der alten Kultur von Latium, der Gegend um Rom. Er ist ein Erdgott, Schützer von Ackerbau und Viehzucht. Sein Name leitet sich her von dem lateinischen Wort "favere" (begünstigen). Der Papst ließ die überlebensgroße Statue in den Palast seiner Familie am Quirinal bringen, wo sie größte Bewunderung erregte.
An der Statue fehlte Verschiedenes, namentlich das ganze rechte Bein und der linke Unterarm, die wahrscheinlich von dem Barock-Bildhauer Bernini ergänzt worden sind, der bei den Bauten des Papstes als Architekt tätig war. "Aus Scheu vor dem Werk des anderen Großen (H. Walter, 1993) vervollständigte er den Torso bloß in Gips. Ein gewisser Vincenzo Piacetti, Bildhauer von Beruf und Kunsthändler, der die Statue der Familie Barberini 1799 abkaufte, also etwa 150 Jahre nach der Ausgrabung, scheute sich nicht, Berninis respektvolle Ergänzungen abzuschlagen und durch Marmor zu ersetzen. Er wollte ein gutes Geschäft machen.
Der Satyr "ist weinschwer auf einen Felsen gesunken und schläft unruhig, den Arm über dem Kopf", schreibt Lippold im Handbuch der Archäologie 1950. Und Reinhard Lullies 1979: "Eine Gestalt aus dem mythischen Gefolge des Dionysos... Größte Bewunderung hat insbesondere der Kopf des Barberinischen Fauns hervorgerufen mit den breiten Backenknochen und den mageren Wangen, mit den eingefallenen Augen unter geraden, in der Mitte fast zusammengewachsenen Brauen, dem leicht geöffneten Mund und den breiten Nasenflügeln. Man glaubt, die schweren, gleichmäßigen Atemzüge des Schlafenden zu hören, der in die Tiefe seiner Traumwelt versunken ist. In dem einsamen Schläfer hat der Künstler, einer der bedeutendsten Bildhauer des späten 3. Jahrhunderts v. Chr., ein großes und tiefes Bild der Natur gestaltet, das über jeden Naturalismus hinausgeht."
Um 1500 besaß Andrea Riccio in Padua eine weit berühmte Werkstatt, in der Kleinbronzen hergestellt wurden. Auf Satyrn war er spezialisiert. Er stellte sogar ganze Satyrnfamilien her. Kein "studiolo" eines Renaissancefürsten oder eines humanistischen Gelehrten, das nicht auch ein Faun zierte, in dienender Haltung, als Bestandteil eines Schreibgeräts oder als Lampenhalter. Denn als Symbol der niederen Triebe musste der Faun in Knechtschaft gehalten sein. Noch heute findet man in Rom an Toreinfahrten eiserne Prellböcke in Form eines Fauns, der seinen Unterleib vorwölbt: Diese verwundbare (unreine!) Seite streckt der Ärmste den Wagenrädern entgegen.
Ursprünglich selbstständige Dämonen, die über ein dem Menschen verschlossenes Naturwissen verfügen, dienen die Satyrn dann dem efeubekränzten Dionysos, dem Jahr für Jahr neu geborenen Frühlingsgott, dessen Erscheinen die Natur zu neuem Leben erweckt. Im Gefolge des märchenhaft zarten, doch mächtigen Gottes torkeln sie zwischen den schlangenumgürteten Mänaden, die in orgiastischer Ekstase die Opfertiere zerreißen und roh verschlingen, trunken und lärmend dahin. Die Menschen trachteten die Satyrn zu fangen, um ihnen ihr Wissen abzupressen. Auch der bocksbeinige und bärtige Hirtengott Pan, ebenso geil wie die Satyrn und der Erfinder der Onanie, der den Athenern einst in der Schlacht bei Marathon beistand, indem er den Persern durch sein Auftauchen einen "panischen" Schrecken einjagte, ist ein Begleiter des Dionysos.
Die Satyrn, schreibt Dieter Blume 1985, "vertreten die Naturkräfte, die ungebändigten Triebe, die vollkommen dem Irdischen verhaftet sind und die von der Möglichkeit des menschlichen Geistes, dem Kreislauf von Werden und Vergehen zu entkommen, ausgeschlossen sind." Zur Unterwerfung der inneren Natur, der Triebe, der Sinnlichkeit, verbündeten sich Humanismus und Kirche: Der pferdehufige und gehörnte Satyr ist das Vorbild für den christlichen Teufel.
Im Jahrbuch des Archäologischen Instituts aus dem Jahre 1901 findet sich eine Art Anleitung zur richtigen Betrachtung des Barberinischen Fauns. "Welches ist die Hauptansicht des Satyrs?" fragt H. Bulle. "Bei der jetzigen Aufstellung wird der Beschauer zuerst der Statue so gegenübergeführt, dass er den Rumpf des Satyrs sich gerade gegenüber hat... Aber der feinfühlige Betrachter wird in dieser Blickrichtung zwischen den hässlich gespreizten Beinen (sic!) hindurch etwas Brutales empfinden, das sonst der Antike fremd zu sein pflegt... Endlich aber wird er das Bedürfnis fühlen, zu einer besseren Ansicht des vollendetsten Teiles dieser Statue, des Kopfes, zu gelangen... Dieses Bedürfnis wird ihn weiter nach rechts führen", bis er nämlich den Fohlenschwanz entdeckt hat und endlich weiß, dass es sich nicht um einen echten Mann handelt. Gottlob, er ist ein Tier! Genauso hatte es auch der Dr. Breitinger gemacht, ohne diese Anweisung je gelesen zu haben.
Die Statue des schlafenden Fauns hat einstmals in den Gärten Kaiser Neros längs des Tibers gestanden. Nun stand der Faun bis Ende des 18. Jahrhunderts im Palazzo Barberini. Als der kunstsinnige Kronprinz Ludwig von Bayern im Jahre 1805 nach Rom kam, um für seine Sammlung einzukaufen, war er von der Statue so beeindruckt, dass er sie unbedingt zu besitzen wünschte. Die Verhandlungen waren zäh und zogen sich hin. In den Rechtsstreitigkeiten nahm der klassizistische Bildhauer Antonio Canova die Partei der Familie Barberini, sein ebenso berühmter Konkurrent Thorvaldsen versteckte die Statue für den bayerischen Prinzen.
Der Streit um den Faun wurde zur nationalen Angelegenheit, bis die Fürsprache der österreichischen Kaiserin für ihren in den Faun verliebten Bruder den Ausschlag gab. Am 10. August 1816 endlich gelangte der schlafende Satyr, "unverpackt, auf den Schultern von 64 Trägern in das Magazin des Kronprinzen... Aber es dauerte bis zum 6. November 1819, bis es so weit war, dass die Kiste, mit dem päpstlichen Siegel versehen, aufgeladen werden konnte. 9 Maultiere zogen den Wagen über die Alpen, bei jeder Steigung mussten Ochsen vorgespannt werden. Am 19. Dezember war der Zug glücklich in Kufstein angelangt" (Bulle). Aber ach: Der Faun war zu schwer für die Brücke über den Inn. Eine Notbrücke wurde gebaut, wie zum Übergang der Artillerie.
"Na gut", meinte Dorothee versöhnlich, "mögen sie ein bisschen dumm sein, die Faune, so sind sie doch friedlich. Und ich mag friedliche Männer", setzte sie süffisant hinzu, denn ihr Doktor war ein Streithammel.
"Also, so friedlich sind sie nicht und auch nicht dumm. Nimm etwa Marsyas, den vielleicht berühmtesten aller Satyrn. Er forderte sogar den göttlichen Apoll zum Wettstreit heraus."
"Du meinst, er wollte mit einem Gott kämpfen?"
"Ja, aber mit einem Musikinstrument. Marsyas spielte die Doppelflöte. Der Sage nach hob er sie auf, als Athene sie wegwarf."
"Wegwarf, warum?"
"Als sie darauf blies, schwollen ihr die Backen, und sie sah hässlich aus. Da warf sie die Flöte fort. Es gibt von der Szene eine wunderbare Gruppe von Myron, eine Reproduktion steht im Garten des Frankfurter Liebieghauses, vergoldet." Dr. Breitinger lehnte sich zurück, um wieder mal weiter auszuholen.
"Dieser Flöte entlockte Marsyas leidenschaftliche, berauschende Töne, während die Lyra des Apoll als Instrument der Himmelsmusik galt."
"Sphärenklänge", meinte Dorothee spöttisch, denn Breitinger redete wie im Schulfunk.
"Es ging also um irdische Leidenschaft gegen göttliche Rationalität. Und es wurde zuvor ausgemacht, dass der Gewinner mit dem Verlierer machen könne, was er wolle."
"Wer war Schiedsrichter?" fragte Dorothee.
"König Midas."
"Der mit den Eselsohren?"
"Die hat er erst dafür bekommen, dass er Marsyas für den besseren Musiker hielt."
"Also hat Apoll gewonnen", sagte Dorothee. "Was hat er mit dem Satyr gemacht?"
"Ihm die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen."
Dorothee dachte an den Barberinischen Faun und schüttelte sich. Der Gott, erklärte Dr. Breitinger, habe diese Schindung aber nicht selber vollzogen, sondern damit einen Skythen beauftragt. Die Skythen waren für ihre Grausamkeit berühmt. Dieser Skythe stehe als so genannter Schleifer (arrotino) in vielen Museen, das Original in den Uffizien. Man habe diese Skulptur wegen ihrer außerordentlichen Qualität lange für ein Werk Michelangelos gehalten.
Nach Ansicht der Archäologen schaue der seine Sichel wetzende Schleifer sich nach dem stöhnenden Marsyas um, den er an den Handgelenken an einen Baum gehängt hat. Es gebe zwei Typen des Marsyas: Der weiße Marsyas ergebe sich in sein Schicksal, der rote bäume sich auf. Man habe lange nicht gewusst, dass der weiße Marsyas und der Schleifer zusammengehören. Ovid lasse den gequälten Satyr in seinen "Metamorphosen" (VI, 385) ausrufen. "Quid me mihi detrahis?" ("Warum entreißt du mich mir selbst?") Damit werde gesagt, dass die irdische Hülle unter Schmerzen abgestreift werden müsse, um zu einer höheren Erkenntnisform zu gelangen.
"Was heißt hier höhere Erkenntnisform!" ereiferte sich Dorothee. "Er ist doch nach dieser Prozedur wohl tot?"
"Gewiss", sagte Dr. Breitinger. "Tot, aber geläutert. Übrig bleibt von dem geschundenen Körper die reine Seele."
"Find ich echt Scheiße!" meinte Dorothee und warf unwirsch ihre roten Haare zurück, bevor sie aufstand. Dr. Breitinger nahm sie sanft am Arm, um sie zum Ausgang zu führen. Er fand seine junge Freundin traurig, aber sehr schön.
"Geläutert!" meinte Dorothee wegwerfend und fasste ihren Doktor irdisch fest am Arm.
"Auch ich bin primitiv! Auch ich!" dachte Breitinger triumphierend.