Geometrie und Chaos

Geometry and Chaos. The aesthetics of the socket
 
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Published in: Frankfurter Rundschau


 
Zur Ästhetik der Steckdose

Als Dr. Breitinger den Jungen die Treppe hinauffedern und dabei seine Locken schütteln sah, ahnte er schon, daß der kein Elektriker war, geeignet, drei Steckdosen zu setzen. Als der Junge auf deutsch, auf hochdeutsch, einen "Guten Morgen" wünschte, erhärtete sich des Doktors Verdacht. Und als er in den Flur tänzelte, seine Werkzeugtasche absetzte und den Rest einer mozartähnlichen Melodie hören ließ, war Breitinger endgültig überzeugt. Das konnte ja heiter werden.
"So eine Dose will ich nicht", sagte Dr. Breitinger entschieden, "die ist ja gräßlich, die hat abgerundete Ecken, wie absurd!" Überall in seiner Wohnung hatte er quadratische Dosen mit rechtwinkligen Ecken. Der "Elektriker" schüttelte bedauernd seinen Botticelli-Kopf und meinte dann lächelnd und wie tröstend, alle Steckdosen hätten doch zwei Löcher, plus und minus, und auf den Strom käme es doch an, nein?
"Keineswegs!" erwiderte Breitinger, der sich ärgerte, daß diese rein funktionale Betrachtungsweise wohl nie totzukriegen war. Wenigstens drei ästhetische Ansätze konnte er aus dem Stegreif unterscheiden: 1) Das Prinzip Renaissance: Einzelteile, die geplant aufeinander bezogen sind. Sie ergeben im Zusammenspiel ein harmonisches Ganzes. 2) Das Prinzip Barock: Unterordnung (Integration) der Einzelteile in ein dominierendes Ganzes, das totalitäre Modell. 3) Das Prinzip autonomer Einzelteile, die miteinander schöne Beziehungen eingehen, weil sie von sich aus schön sind (Pluralismus). So paßte ein Barockschränkchen selbstverständlich zu Eames-Möbeln. Gutes paßte immer zusammen. Das Zusammensein von Gegenständen aber, die nichts miteinander zu tun hatten außer dem Umstand, von Zufall oder schlechtem Geschmack zusammengewürfelt zu sein, war der abstoßende Normalfall, aber nicht in seiner Wohnung!
"Tut mir leid, diese willkürlich geformten Steckdosen werden in meiner Wohnung nicht montiert", sagte Dr. Breitinger knapp. Daraufhin telefonierte der "Elektriker" mit seinem Chef. Breitinger nahm dem Jungen den Hörer aus der Hand. Der Chef erklärte, andere Steckdosen seien im Augenblick nicht auf dem Markt. Er empfehle darum seinen Kunden immer, sich ein paar der zuerst montierten Steckdosen aufzuheben, wenn sie auf Einheitlichkeit Wert legten.
In der Tat legte Dr. Breitinger auf Einheitlichkeit Wert. Keinem untergeordneten (technischen) Detail gestand er zu, unangemessene Aufmerksamkeit zu erregen. "Was haben Sie hier für wunderschöne Steckdosen!" war wohl die lächerlichste Bemerkung, die ein Gast über seine durchkomponierte Wohnung hätte äußern können. Selbstverständlich überall gleiche Steckdosen und: unauffällig. Während Breitinger verärgert und resigniert, daß er sich dem Marktangebot fügen sollte, seine Post durchsah, hatte der Lockenkopf die erste Dose eingegipst: widerlich beige, mit eklig abgerundeten Ecken, immerhin aber ein Quadrat, wenn auch ein weiches.
"Sie sitzt schief", bemerkte Breitinger kurz. Aber der Gips hatte bereits abgebunden. Der Botticelli-Knabe lächelte. "Ist das sehr wichtig für Sie?" fragte er.
"Natürlich, selbstverständlich!" rief der Doktor. "Die vertikale Kante der Steckdose hätte mit dem Bilderrahmen eine Linie ergeben! Und nun? Und nun?"
"Warum soll sie das denn?" fragte der "Elektriker" naiv.
"Sehen Sie, junger Mann, alle Gemälde hier haben zwar verschiedene Formate, sind aber alle rechteckig. Ihre Oberkante bildet eine ideale Linie, die sich durch die ganze Wohnung zieht, durch alle Räume. Sie verläuft etwa in Kopfhöhe eines ausgewachsenen Mannes und erlaubt ihm, die Bilder mühelos zu betrachten. Können Sie mir folgen? So. Weiter bemerken Sie, daß die senkrechten Seiten der Rahmen aufeinander abgestimmt sind. Es handelt sich also um eine Ordnung. Kapieren Sie das?"
Der Elektriker sagte: "Was hat denn die Steckdose mit den Bildern zu tun?" Breitinger stutzte. Ja, was hatten sie miteinander zu tun?
"Bauen Sie sich Ihren eigenen Mondrian oder was?" setzte der Elektriker eins drauf. Ziemlich anmaßend.
"Wie bitte?" fragte Breitinger und ging nun aber entschieden zum Angriff über. Das mußte er sich von einem Elektriker nicht bieten lassen. "Wenn Sie mir so kommen, mein Lieber, dann lassen Sie sich bitte sagen, daß Horizontale und Vertikale nach den Gesetzmäßigkeiten der Gravitation sozusagen die Leitlinien sind, in welchen wir uns nolens volens einzurichten haben. Es sind mithin objektive Gegebenheiten, denen die Architektur Rechnung zu tragen hat. Die Geometrie können Sie zwar mit Vorhängen umschmeicheln oder sonstwie umspielen, wenn Sie Ihnen zu hart ist und Sie ein Theater darum machen wollen. Aber ein Zimmer ist und bleibt ein Kasten. Und wenn es darin ordentlich aussehen soll, dann hängen die Bilder gerade: vertikal und horizontal, und diese Parameter gelten auch für die Steckdosen!"
"Ach ja? Und Sie begründen die Anordnung dieser Steckdose mit der Gravitation?" fragte der Elektriker süffisant.
"Jawohl, allerdings, letztendlich, allerdings!"
"Bißchen objektivistisch, würde ich mal sagen", meinte der Handwerker und zog eine spöttische Schnute.
"Objektivistisch nennen Sie das? Glauben Sie denn, eine schiefe Steckdose ist ein Ausdruck Ihrer Subjektivität? Was? He? Es ist bloß Ihre Nichtskönnerei!"
"Geometrie am Arsch!" meinte der Bursche auf einmal ziemlich ordinär. "Ich habe zu Hause meine Steckdosen mal hier, mal da, wo es mir gerade Spaß macht."
"Ist bei Ihnen wohl wie ein echter Hundertwasser!" rief der Doktor höhnisch. "Ihre Rücksichtslosigkeit ist Resultat ihrer Unbildung und Überheblichkeit. Jawohl, sogar Ihr "Arsch" ist den Regeln der Geometrie unterworfen! Wie ist Ihr Skelett denn aufgebaut? Wie? Polyklet und Leonardo würden es Ihnen schon zeigen, Sie Ignorant!"
"Hören Sie, Mann, ich hab's eben lieber so, klaro?" sagte der Elektriker nun recht bösartig, wie Breitinger mit Genugtuung feststellte.
"Ha, weil Sie sich einbilden, Sie seien was Besonderes, einer, der über den Dingen schwebt! Wissen Sie denn nicht, daß alle Ordnungsvorstellungen geometrisch oder stereometrisch sind? Kreise, Etagen, Raster oder wenigstens Dichotomien?"
"Ich habe keine Ordnungsvorstellungen", sagte der Elektriker.
"Das denken Sie! Chaot, eingebildeter! Sogar Ihr psychischer Apparat ist geometrisch geordnet, Unterbewußtsein, Bewußtsein und Über-Ich! Drei Stockwerke, ha. Subjektivität! Was Sie auf diesen Etagen erleben, haben andere längst erlebt, was Sie denken, haben andere längst gedacht, und was Sie sagen, haben andere längst gesagt. Sie Wiederkäuer! Das Chaos ist übrigens nichts als der Anfang der Ordnung. Es gibt kein Entkommen!"
Der konkretistische Einfaltspinsel hatte seine Tasche gepackt und war gegangen. "Unser deutscher Ordnungssinn", grübelte der Doktor, "ist Angst vor dem Chaos." Er blickte die schrägen Dosen an. "Seit dem 30jährigen Krieg haben wir Angst vor dem Chaos." Dann holte er sich Strom aus der Küche, wo die Dosen noch quadratisch waren.