Milchbar-Prinzessin mit Täschchen

Plastic Handbags

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Published in: Frankfurter Rundschau


 

New Yorks letzter Schrei

"Plastic handbags", in den späten 40er und frühen 50er Jahren waren sie in den USA der letzte Schrei.
Die zuckrigen Deckelkörbchen, eine Promenadenmischung aus Schmuck- und Nähkästchen, wurden sowohl von Teenagern als auch von Hausfrauen und eleganten Ladies getragen. Jede Wette, dass auch M.M. mindestens ein Stück in der Kommode hatte.
Unabhängige Leute mit einer Nase für den Publikumsgeschmack stellten die Märchenschlösschen für Lippenstift, Puderdose und sonst noch was weitgehend in Handarbeit her.
Unter den bekannteren der kleinen Firmen in New York und Miami waren Llewellyn Inc., Myles Originals, Gilli Originals, Tyrolean Inc., Wilardy Originals, Rialto, Miami und Florida Handbags. Jeder Hersteller bemühte sich um ein eigenes Design. Es gab auch manches Missgebilde: Schneewittchensärge, Bienenkörbe, Laternen und Henkelmänner. Als die grossen Firmen ins Geschäft einstiegen, wurde schneller, billiger und schlechter produziert, und Ende der 50er war es aus.
Heute sind "plastic handbags" in gutem Zustand Sammlerstücke.
In New York sind sie mit viel Glück noch zu haben. Die sehr eleganten, aber oft auch kitschigen Schachteltäschchen, deren Ausgefallenheit wir heute mit freundlicher Ironie betrachten, standen in den frühen 50er Jahren, als sie "the Craze" waren, im Gegenteil für ein durch und durch positives amerikanisches Lebensgefühl.
Alles schien machbar. Besonders aus Plastik. Künstlichkeit war en vogue. Nach einigen frühen Anläufen vor dem 2. Weltkrieg setzte sich das Plastikzeitalter mit Macht durch. Kein Haushalt mehr ohne Plastik.
Es war die Zeit auch der wolkenartigen Strassenkreuzer (die Saul Steinberg immer wieder als aufgeblasene Brötchen karikiert hat), der katzigen Sonnenbrillen und der Frauen aus rosa Marzipan. Der Reiz der "plastic handbag" liegt für uns heute besonders im Anschein der Kostbarkeit.
Ohne tatsächlich luxuriös, d. h. auch teuer zu sein, bringen die Taschen doch Luxus zum Ausdruck. Das Falsche war wie immer zunächst Ersatz für das Echte, das man sich noch nicht leisten konnte. Mit Plastik waren nicht nur edle Stoffe imitierbar (Schildpatt, Marmor, Lapislazuli, Bernstein, Perlmutt), sondern es liessen sich auch neuartige Materialien mit filigranen Maserungen herstellen, die das kostbare Aussehen von Eisblumen, silbrigen Spinnweben, perlgrauen Splittern oder Goldgespinst haben. Manche Oberflächen sind buchstäblich zum Fressen schön: Sie erinnern an Honig, Krokant oder Speiseeis. Es entsteht der Eindruck von Süssigkeit, ohne dem Flair der Vornehmheit Abbruch zu tun.
Die schimmernden Plastikstoffe hatten sich von der Nachahmung emanzipiert und galten bald per se als hochelegant. (Italienische Stuckateure hatten bereits für die Fürsten des Barock die ihr aufgeschwollenes Selbst in unmässigen Kirchen- und Schlossbauten zu verewigen wünschten, kostensparende Marmorimitate erfunden.
Im 19. Jahrhundert wurde imitiert, was das Zeug hielt.
Um 1900 polemisierte dann Adolf Loos, Protagonist einer puristischen Moderne, gegen den "fake": "kein material kann die formen eines anderen materials für sich in anspruch nehmen.") Heute, da der Begriff und der Wert von Echtheit verblassen und Imitation in Kunst und Musik eine anerkannte Haltung geworden ist (Appropriation Art, Revival Bands), schätzt der Sammler gerade das Vorgebliche, den Schein, das So-tun-als-ob, das Spielerische.
Der 50 Jahre alte Pseudoluxus scheint dem Lebensgefühl der 90er Jahre entgegenzukommen. Die ironische Haltung gegenüber dem Leben, eine distanzierte Verspieltheit, die sich ernsthaft in nichts mehr einlässt, ist gewiss ein dekadenter Zug der Postmoderne. Das Rokoko, das dem Untergang einer Epoche entgegentanzte, erscheint gar nicht mehr so fremd. Das Ende des 20. Jahrhunderts hat für viele Zeitgeister den Hautgout eines "fin du siecle".Postmodern mutet heute übrigens auch die Disfunktionalität der überkandidelten Schatullen an: Sie sind sperrig, dabei für den Gebrauch zu klein und auch zerbrechlich.
Aber die Milchbar-Prinzessin konnte das Schaumgebilde gut sichtbar auf den Tisch stellen und im Spiegel des aufgeklappten Deckels unauffällig prüfen, ob vielleicht gerade Clark Gable oder Gregory Peck in der Drehtür erschienen. Dann würde sie sich erheben, hinüberstöckeln und sich von einem der beiden Feuer geben lassen.
"Hi, Mäuschen", sagte Billy, "rück mal, Fred kommt gleich mit den andern Mädels!"
Und die hatten auch so zuckersüsse Täschchen und fingen gleich an zu kichern und sich die Lippen nachzumalen.