Himmelsschlüssel

Primroses (Himmelsschlüssel)

This lecture exists at the moment only in German language. A translation is in progress.


 

Wer in diesen Tagen einen Gang durch den Botanischen Garten macht, findet anstelle der Blumen bloß Schilder mit den Bezeichnungen der Blumen, altmodisch ovale Blechschildchen mit lateinischen und merkwürdigen Aufschriften. Anstelle der Realität: Zeichen. Das kennen wir ja gut, über Dinge zu sprechen, die nicht da sind. Die Sprache schafft uns die Möglichkeit, über Dinge auch in deren Abwesenheit zu sprechen, eine Emanzipation aus der Umklammerung der Sachen, zu denen man fast selber noch gehört, solange man sie nicht mit Namen nennen kann.
Die mißtrauischen Sprachgelehrten der verrückten Akademie von Lagado in Swifts berühmter Satire mochten an diese Emanzipation nicht glauben und empfahlen, in der Annahme, daß Wörter Dinge seien, immer einen großen Sack der mit ihren Namen fest verwachsenen Gegenstände auf dem Rücken mit sich herumzutragen und bei Gelegenheit eines Gesprächs die Säcke zu öffnen, die Wörter hervorzuziehen und einander zu zeigen. Mißverständnisse glaubten sie auf diese Weise vermeiden zu können.
Man muß nicht die komplizierten Überlegungen kennen, die Philosophen, Linguisten und Kunsttheoretiker sich um das so einfach erscheinende Verhältnis zwischen Designat (Bezeichnung) und Denotat (Bezeichnetem) machen, um festzustellen, daß im Botanischen Garten die Denotate noch nicht blühen. Die Schildchen bezeichnen hier nicht das sichtbare, sondern das nur gedachte, das vorgestellte, das erwartete oder erhoffte Blümchen. Die Erde ist noch winterlich hart. Die Pflanzennamen sollten vielleicht mit einem Ausrufungszeichen versehen werden: "Primula veris! Kommst du wohl heraus! Los, raus aus der Erde, ,Echter Himmelsschlüssel'!"
Doch vielleicht wächst ja anstelle des angekündigten "Himmelsschlüssels" eine "Stinkende Nieswurz" heran. In diesem Fall muß man entweder die Denotate korrigieren, indem man die falsche Pflanze umbettet oder ausreißt, oder die Designate, indem man die Schildchen austauscht. Oder der Fall, daß anstatt eines bekannten Krauts ein unbekanntes Unkraut sich unter dem ovalen Namen versteckt. Das Unkraut wächst dann unter falschem Namen ins Blaue. Solch Undercover-Existenz wird von den Botanikern bald entdeckt. Sie identifizieren die unordentliche Pflanze und liquidieren sie dann. Es ist wieder Platz für die ersehnte Ankunft des "Echten Himmelsschlüssels". Denn bald ist Ostern.