Little Big City (14): High-speed Elevators

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Published in: Frankfurter Rundschau


 
Schnelle Lifts

"Mainhattan": ein Spitzname, gewiss, aber Little Big City trägt ihn nicht ohne Stolz, scheint die kleine Stadt damit doch in die Liga der Weltmetropolen aufgestiegen. Frankfurt ist, was Lebensstil, Tempo und die multikulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung anlangt, ohne Zweifel die amerikanischste Großstadt Deutschlands. Ob man das nun gut findet oder nicht: es ist so. Und wir haben die meisten Hochhäuser, die noch so manchen Brandenburger zum Staunen bringen.
In Manhattan, New York, wurden die ersten Wolkenkratzer allerdings schon zum Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, und das schlaue Konzept, kleine Grundstücke durch Hochbauten optimal zu nutzen, konnte nur realisiert werden, weil der amerikanische Erfinder Elisha G. Otis 1852 den Lift erfunden hatte. Ohne Lift kein Hochhaus.
Die neuen Hochgeschwindigkeitsaufzüge des gleichnamigen Unternehmens sollen heute 88 Stockwerke in 60 Sekunden schaffen. Keine Frage, müsste man die Hochhäuser treppenweise hinaufsteigen, wären die Direktionsetagen im Parterre und die meisten Fitnessstudios müssten schließen. Und es ginge sehr, sehr gemächlich zu. Aber Zeit ist Geld und darum gibt es eben auch schnelle Lifts.
"Morgen! Alles im grünen Bereich?" Mit solchen Sprüchen geben sich Leute im Lift als Insider zu erkennen, als Leute, die hierher gehören. Das wirkt exklusiv, wenn man selber nur Besucher ist.
Noch unangenehmer ist es, wenn überhaupt niemand den Mund auftut. Zu sechst und einander völlig fremd in einem Aufzug zu stehen, das ist eine typische Situation in Little Big City. Die Lifte sind eng. Wir bedienen die Knöpfe, indem wir über die Schulter unseres Nebenmanns greifen. Nirgends sonst ist man gezwungen, einander derart auf den Leib zu rücken. Wir müssen einander zu nahe treten, in eine Nähe, die uns gegen die animalische Natur geht, denn es kann ja sein, dass man einander nicht riechen kann.
Aber auch für die soziale Seite unserer Identität ist die Situation unangenehm. Denn wir müssen auf den Raum verzichten, den wir gewöhnlich zur Entfaltung von Persönlichkeit und Sozialstatus beanspruchen. Wenn auch nur für kurze Zeit: doch wie man weiß, ist der erste Eindruck der entscheidende, und den zu machen, bedarf es nur weniger Sekunden.
Der Mangel an Distanz ist ein Verlust an Spielraum. Unser Äußeres, unsere Kleidung, unsere Gesten, unsere Mimik, all das, mit dem wir unsere Selbstdarstellung pflegen, sind auf solch unkultivierte Nähe nicht eingerichtet. Mit Widerwillen betrachten wir die Schuppen auf dem Kragen und die Haare in den Ohren des Vordermannes. Und bei der näheren Betrachtung einer Nase drängt sich der Gedanke auf, dass die Luft, welche dem anderen entfährt, genau die ist, welche uns zum Einatmen übrig bleibt. Man schaut entweder nach oben oder nach unten. Blickkontakt ist tabu. Und man schweigt.
Eine ähnliche Situation kann man morgens in der U-Bahn erleben. In den alten Trambahnen war es der Schaffner, der mit seinem "Wer ist hier noch ohne Fahrschein . . ." die stumme Spannung erträglich machte. Denn einen, der arbeitet, zu beobachten, ist nicht ungehörig.
In den großen Lifts der Kaufhäuser und Grandhotels betrachtete man den Liftboy. Die Verlegenheit ist nun ohne Liftboy und Schaffner groß. Es kommt darin der irritierende Widerspruch zum Ausdruck zwischen einer – sonst nur Liebespaaren vorbehaltenen – körperlicher Nähe und einer völligen Fremdheit.
Zum Glück gibt es nun aber die Möglichkeit, sich aus dem eigenen Körper zu entfernen, indem man an Dinge denkt, die mit der peinlichen Situation nichts zu tun haben. Dann steht gewissermaßen nur der Körper im Aufzug und man selber ist unterdessen ganz woanders. So geht es dann. Auch in Little Big City.

Frankfurter Rundschau v. 07.05.2003, S. 12