Little Big City (7): The Queue

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Published in: Frankfurter Rundschau


 
Der Nächste, bitte

"Queue" sagen die Franzosen, "queue" die Engländer, "coda" die Italiener. Sie sagen "den Schwanz machen". Aber Schwanz wovon? Bei uns sagt man "Schlange". Wir stehen Schlange. Vor dem Bahnschalter, vor dem Postschalter, an der Führerscheinstelle, in der Kantine, vor dem Pissoir, an der Kasse. Das Schlangestehen ist eine typische Situation in der Großstadt. Warteschlangen entstehen, wenn viele zur gleichen Zeit am selben Ort dasselbe wollen. Es ist ein Massenphänomen. Wenn weniger Leute, dann weniger Schlangen.
Aber die Großstädte wachsen an, die Dienstleistungen werden weiter eingeschränkt, den Kommunen fehlt es an Geld. Auch Little Big City ist pleite. Die Warteschlangen werden länger.
Während es bei der Arbeitszeit um Sekunden geht, wird draußen in der Warteschlange gegen jede zeitökonomische Vernunft Lebenszeit vergeudet. Denn es handelt sich bloß um private, um nicht kommerzialisierbare – um unsere Zeit. Und während wir warten, werden wir älter.
Ist die Warteschlange einerseits Ausdruck von Zeitverschwendung, so ist sie doch andererseits ein Zeichen sozialer Reife, ein Zeichen von Kultur. Denn ist es nicht erstaunlich, dass Menschen, die in der Großstadt gewohnt sind, sich überall rücksichtslos durchzusetzen, freiwillig eine Reihe bilden, in die sich auch der Stärkere, Wichtigere, Reichere ohne weiteres integriert?
Vergleicht man die urbane Warteschlange, für deren strikte Einhaltung besonders die Londoner berühmt sind, mit dem anarchischen Gedränge an einer Bushaltestelle etwa im ländlichen Afrika oder in Südamerika, wird klar, worin diese urbane Kultur besteht: in der diskussionslosen Anerkennung der Prämisse, dass alle Wartenden sich hier und jetzt in einer Situation sozialer Gleichheit befinden. Der Rang wird allein durch den Zeitpunkt der Ankunft bestimmt. Nirgends ist ein Schild angebracht, das vorschreibt, sich eine Reihe zu bilden. Es handelt sich um eine wortlose Vereinbarung zur Herstellung einer einfachen Ordnung.
Sie basiert auf der Einsicht, dass es nicht möglich ist, unmittelbar direkt ans Ziel zu gelangen, sondern nur mittelbar: vermittels einer gerechten und rationalen Ordnung. Diese Einsicht bedeutet, ein Bedürfnis aufzuschieben – ein sicheres Merkmal von Kultiviertheit. Beim Einfädeln in eine Autoschlange vor einer Straßenenge befindet man sich in einer vergleichbaren Situation: um selber möglichst schnell vorwärts zu kommen, ist es notwendig, anderen den Vortritt zu lassen – aus reinem Egoismus.
Noch in den 60er Jahren wäre es deutschen Autofahrern schwer gefallen, das Paradox zu denken. Wir haben es gelernt.
Da der Zeitpunkt der Ankunft die Priorität bestimmt, wird nur ungern akzeptiert, dass jemand jemandem den Vortritt lässt. Etwa an der Kasse eines Lebensmittelmarktes.
"Haben Sie nur das bisschen?"
Der Mann im Blaumann zeigt wortlos sein Frühstück.
Die Dame lässt ihm den Vortritt und freut sich über ihre Großzügigkeit. Bis man ihr von hinten ihre fürstliche Willkür vorwirft: "Für mich haben Sie wohl gleich mitentschieden!"
Die relative Gleichheit der Ziele: Fahrkarte, Pinkeln, Bezahlen erleichtert das Einhalten der Ordnung. Es entsteht eine Art Solidarität, ein Wir-Gefühl gegenüber Außenseitern. Die Erregung ist groß in einer Warteschlange, wenn doch einer Anstalten trifft sich vorzudrängen. Der Regelverstoß wird mit starken Worten geahndet. Doch Handgreiflichkeiten sind eher selten, da der Barbar sich einer solidarischen Menge gegenübersieht.
Tatsächlich findet man den Typus des Ipsissimus, zu dessen Selbstverständnis es gehört, jederzeit und überall auf die Überholspur zu gehen, in einer Warteschlange selten. Denn das Warten widerspricht seinem sozialen Selbstverständnis: Warten ist unverkennbar ein Zeichen von Abhängigkeit. Durchsetzungsvermögen und andere männlichen Tugenden gelten hier nichts.

Frankfurter Rundschau v. 15.01.2003, S.29, Ausgabe: S Stadt