Little Big City (5): The Pissoir

Das so genannte Bedürfnis

Öffentliche Toiletten sind heute eine Selbstverständlichkeit. In Little Big City findet man sie unübersehbar z. B. im Hauptbahnhof oder unter der Hauptwache, mithin dort, wo am meisten Betrieb ist. Der Ausdruck "Toilette" – eine Verkleinerungsform von französisch "toile", Tuch – verweist ebenso wie das englische "powder room" auf ein Kabinett, in dem man sich die Hände waschen und die Haare kämmen konnte. Er verhüllt den eigentlichen Zweck der Einrichtung.
Die alte deutsche Bezeichnung "Pissanstalt" ist da direkter. Die großstädtische Einrichtung ist die Folge übler Erfahrungen. Nach dem Prinzip "Not kennt kein Gebot" pflegten Männer ihre Notdurft gewöhnlich ohne Rücksicht in der Öffentlichkeit zu verrichten. Jean Dubuffets Pisser rechts rum (1961), eine sehr komische Zeichnung des großen französischen Künstlers, zeigt diese Angewohnheit drastisch, die in den französischen Städten zur Errichtung der "Vespasienne" führte, einem offenen, überdachten Pissoir mit einer Sichtblende: oben sah man die Hüte, unten die Beine der Männer.
Die Frauen? Sehr einfach: Ehrbare (d.h. die bürgerlichen Frauen) hatten noch im späten 19. Jahrhundert ohne Begleitung auf der Straße nichts zu suchen. Ihre "angeborene Schamhaftigkeit" ließ sie in solch heikle Situationen gar nicht erst kommen. Die Existenz öffentlicher Damentoiletten ist also nicht selbstverständlich.
Den merkwürdigen Namen hat das französische Pissoir von dem römischen Kaiser Vespasian, der durch seine Sparsamkeit berühmt wurde. Von ihm stammt der zum geflügelten Wort gewordene Ausspruch: "Pecunia non olet" (Geld stinkt nicht), eine Antwort an die, welche seine Urinsteuer anrüchig fanden. Denn der Kaiser hatte die ersten Pissoirs eingerichtet und pro Verrichtung einen Obulus für die Staatskasse verlangt, die er übrigens von Grund auf saniert hat.
Wenn das antike Rom durch seine Reinlichkeit berühmt war, so kann man sich die Städte vom Mittelalter bis ins frühe 19. Jahrhundert nicht schmutzig genug vorstellen. Noch 1740 berichtet Vater Johann Caspar Goethe in seiner Reise durch Italien ausführlich über die Unreinlichkeit der Venezianer, die "überall hinpissen, wo es ihnen gerade passt … Selbst im Haupteingang (des Dogenpalastes B.B.) … schämt man sich nicht, die Hosen herunter zu lassen".
Derartige Verhältnisse herrschten nicht nur in Venedig, wo man gegen den Schmutz die Schuhe mit hohen Absätzen erfunden hat – die Zoccoli –, sondern sogar in Paris. In der berühmten Sittengeschichte von Eduard Fuchs ist zu lesen, dass junge Burschen sich einen Beruf daraus machten, vornehme Damen auf dem Rücken über die kotverschmutzten Straßen zu tragen. Louis-Sebastien Merciers Tableau de Paris von 1781 enthält über die öffentlichen Toiletten ein ganzes Kapitel, das mit dem Satz beginnt: "Sie fehlen in der Stadt . . . Früher war der Tuileriengarten und der Palast unserer Könige ein allgemeiner Treffpunkt. All die Scheißer reihten sich hinter einer Taxushecke auf und erleichterten sich dort."
Giacomo Casanova fand London im Jahre 1763 zwar sauber, aber dass die Männer auf die Straße pinkelten, störte ihn. "Sie wenden sich zur Straßenmitte und pissen dorthin. Aber wer im Wagen vorüberfährt, sieht es." Das so genannte Bedürfnis, das durch den Ausdruck "Notdurft" präziser formuliert ist, gehört zu den elementaren biologischen Funktionen wie andererseits Essen, Trinken und Schlafen. Darum scheuten sich die alten Griechen nicht, das Bedürfnis auf langen Marmorbänken öffentlich und gemeinsam zu verrichten.
Für die Befriedigung aller dieser Grundbedürfnisse ist heute in jeder Großstadt gesorgt, denn sie wird gut bezahlt. Für unsere Gesellschaft typisch ist, dass alles, was nichts oder wenig kostet, gering geschätzt wird. Darum sind öffentliche Toiletten oft in einem furchtbarem Zustand. Ihr abgeschlossener Kabinett-Charakter, der im Ausdruck "Klosett" ausgedrückt ist, wird bekanntlich auch zu anderen Zwecken genutzt. Oft sind die abgeschlossenen Toilettenräume auch eine Zuflucht. In den Toiletten unter der Hauptwache hat so manche Razzia stattgefunden.

Frankfurter Rundschau v. 08.01.2003, S.33, Ausgabe: S Stadt