Zivilitätsreste

Civilian Remains
 
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Published in: Frankfurter Rundschau


 

Auch der Steuerhinterzieher schiebt den Vorhang am Fenster seines Büros beiseite, auch der Abzocker von "Staatsknete" reckt den Kopf, wenn sie unter furchterregendem Geheul heranbraust: die Feuerwehr.
Eine typische Situation in der Großstadt. Drei schwere Wagen pflügen durch den Verkehr, die übrigen Verkehrsteilnehmer spritzen zur Seite. Passanten bleiben stehen. Paare fassen sich am Arm. Man erspäht die blitzenden Helme über festen Gesichtern. Ist die Erscheinung in der Ferne verschwunden, breitet sich Zufriedenheit aus. Ja, unsere Feuerwehr. Und was für prächtige Wagen sie hat, mit allen Schikanen, wieviel PS? Alle Schrauben glänzen. Wer sonst darf so fahren? Nur noch die Polizei und die Ambulanz.
Jemand hat die Feuerwehr in Venedig gesehen: mit einem schweren Boot, das, wenn es startet, die Wassermassen derart über das Kanalufer schleudert, daß die Touristen laut aufschreien. Jedoch obwohl durchnäßt, sind auch sie zufrieden.
Diese Dienste verkörpern das "gute Allgemeine", für das wir gern unsere Steuern zahlen. Feuerwehr muß sein, kein Zweifel. Mobilität, die im Automobil inkarnierte Bewegungsfreiheit, gilt als Freiheit der Freiheiten, viel mehr jedenfalls gilt sie vermutlich bei uns als die Meinungsfreiheit, für welche die Speakers Corner am Londoner Hyde Park steht. Die Feuerwehr darf dieses Gut verletzen, indem sie sich Vorfahrt erzwingt. Die Gleichheit aller Verkehrsteilnehmer vor der Ampel wird ausgesetzt. Freiheit und Gleichheit, die obersten Rechte des Bürgers, werden um der allgemeinen Sicherheit willen oder um ein Menschenleben zu retten vorübergehend beschränkt. Doch toleriert man es gern.
Dies um so mehr, als die machtvolle Durchsetzung des "guten Allgemeinen" als Feier der Mobilität genossen werden kann. Der exzessive Individualismus der Städter, so unbezähmbar und zunehmend anarchisch er heute mitunter erscheint, ist doch keineswegs so borniert, daß nicht die Vorstellung möglich wäre, man könne irgendwann auch selber betroffen sein. Vorstellungen über die unmittelbaren Bedürfnisse und Interessen hinaus zu entwickeln und zu unterhalten, ist ein Zeichen von Zivilität, doch heute nicht mehr ganz selbstverständlich.
Feuer, Krankheit, Überfall: dies sind Gefahren, die man aus eigener Erfahrung kennt, traditionelle Gefahren. So staatsverdrossen die Bürger sein mögen, so sehr sie dazu neigen, nach amerikanischem Vorbild die Angelegenheiten in die eigenen Hand nehmen zu wollen, so sehr sie sich in ihrer Besonderheit oft überheben, so stolz begrüßen sie andererseits das "gute Allgemeine": die geballte Kraft, die alle Individualitäten übersteigende Potenz des Staates und der Kommunen.
Verwandt ist diese Haltung der Bewunderung, welche die meisten Menschen Projekten entgegenbringen, die allein schon durch ihre Größe erkennen lassen, daß sie das Tätigkeitsvermögen des einzelnen weit übersteigen: das Verkehrssystem einer Stadt, die Autobahn, der Flughafen, der Bahnhof. In diesen Systemen drückt sich das Überindividuelle oder Gesellschaftliche aus, welches der Bürger offenbar um so leichter respektiert, je anschaulicher es ist. Doch weisen die Tendenzen in die entgegengesetzte Richtung. Im Zeitalter der Globalisierung und informativen Vernetzung nehmen Anschaulichkeit und Überschaubarkeit ab. Viele machtvolle Systeme sind unsichtbar.

Artikel in der Rubrik der Frankfurter Rundschau "Times mager"