Wie der Aufklärer zum Designer wurde (Oberflächlichkeit)

In einer Zeit, die nicht mehr auf Gründlichkeit, sondern auf Flexibilität und Vernetzung setzt, ist Oberflächlichkeit oberste Tugend

Oberflächlichkeit war und ist in der deutschen Kultur der Gründlichkeit immer noch ein abfällig verwendeter Ausdruck. Das ändert sich nun – gründlich. Wer einen oberflächlichen Charakter hatte, dem fehlt es nach traditioneller Vorstellung an Tiefgang. Auch wenn er von der Liebe sprach, durfte man ihm nicht glauben. Er galt als Leichtfuß. Doch Leichtfüßigkeit ist genau das, was heute gebraucht wird.

Der Ausdruck „Oberflächlichkeit“ beruht auf einer Raumvorstellung. Unter der Oberfläche ist die Tiefe, die es zu ergründen gilt. Das ist nicht nur Aufgabe des Tiefenpsychologen,sondern auch jedes Richters,der nach Motiven, jedes Wissenschaftlers, der nach Ursachen sucht. Die Raumvorstellung basiert auf der herkömmlichen Auffassung,dass Dinge und Sachverhalte zwar empirisch zu erkennen, doch als Wirkungen nur erklärbar sind,wenn man in die Tiefe dringt, ins Dunkle und Unsichtbare,wo die Ursachen und Gründe angenommen werden. Eine Sache zu erklären bedeutet, sie ans Licht zu ziehen,sie zu erhellen. Der kulturhistorische Begriff „Aufklärung“ heißt im Französischen bezeichnenderweise siècle des lumières, im Italienischen illuminismo. Dem räumlich vorgestellten Erklärungsmodell entspricht die philosophische Auffassung, dass das, was uns unmittelbar erkennbar ist,die Erscheinungen oder Phänomene,Ausdruck von etwas anderem sind. Hinter der Vielfalt der Erscheinungen vermuten Philosophen etwas,das sich gleich bleibt,für die einen das „Sein“, für die anderen das „Wesen“.
Von Philosophen erwarten wir, dass sie sich in die Probleme vertiefen,und wir nennen ihre Art zu denken nicht nur gründlich, sondern tiefgründig. Wie immer diese Dinge philosophisch behandelt werden,die Raumvorstellung ist im Alltagsverstand etabliert,wie viele umgangsprachliche Metaphern belegen, denn was man nicht erkennen kann,liegt für uns im Dunkeln. So die traditionelle Auffassung. Doch vielleicht liegen die Gründe und Ursachen gar nicht in der Tiefe,sondern bloß weit entfernt und darum jenseits unseres Horizonts? Vielleicht ist die Vorstellung von Oberfläche und Tiefe das Resultat einer auf Sesshaftigkeit gründenden Kultur. Und Sesshaftigkeit, steht sie nicht mit der Zunahme von Völkerwanderungen aller Art (Wanderarbeiter jeder Qualifikationsstufe, Flüchtlinge, Touristen) in Frage? Das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe spielt traditionell in Literatur, Kunst und Architektur eine große Rolle. In der Tiefe eines Textes oder Kunstwerks vermutet man Verborgenes,das zu entschlüsseln ist. Linguisten sprechen von der Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur eines Textes. Im europäischen Kunstverständnis vermutet man grundsätzlich hinter dem,was man sieht, noch etwas anderes,das – wie im Bergbau – nur mit Anstrengung zu fördern ist. Lange Zeit galt in der Architektur die Forderung, die Fassade, das Gesicht eines Gebäudes müsse dessen Grundriss spiegeln. Der Baukörper drückt sich in der Fassade aus wie der menschliche Körper in der Haut. Die nackte Wand wird mit einer Tapete bekleidet. Die Anatomen und Chirurgen zerschneiden die Haut, die Oberfläche des Körpers, in dessen Tiefe sie die Krankheitsursachen suchen.
Im 18. Jahrhundert war es nicht nur in Venedig Sitte, das verräterische Gesicht zu maskieren. Schon das Schminken hatte unter anderem die Funktion,das Erröten und Erblassen,den sichtbaren und nicht steuerbaren Ausdruck von Emotion, unkenntlich zu machen. Mit dem Aufkommen des Natürlichkeitsideals zum Ende des 18. Jahrhunderts soll die Haut dagegen durchsichtig sein. Vor allem von der Haut von Kindern und jungen Mädchen erwartet man Durchsichtigkeit; sie soll noch alle Empfindungen zeigen, wie sie sind. Die Oberfläche hat einen ambivalenten Charakter: Sie lässt andeutungsweise erkennen, was in der Tiefe vorgeht, die sie doch zugleich auch verbirgt. Mark Twain, der ausgebildeter Lotse war,spricht einmal von der Wasseroberfläche des Mississippi,an deren Kräuselungen,schönen Wellen und Spiegelungen die Passagiere Gefallen finden, während sie dem Lotsen sagen, welche Gefahren dem Schiff aus der Tiefe drohen. Doch heute wird der Raumals paradigmatische Vorstellung allmählich obsolet. Das ist der Hauptsache nach eine Folge der technischen Entwicklung. Die avancierten Technologien überwinden riesige Entfernungen in Schall- und Lichtgeschwindigkeit und machen so den Raum zunichte, machen ihn irrelevant. Ökonomisch wird der Raum immer mehr von der Zeit dominiert. Auch im Alltagsverstand tritt an die Stelle der alten räumlichen Vorstellungen allmählich die neue Metapher der Vernetzung. Wir sprechen von Verkehrsnetzen, Kommunikationsnetzen, der Vernetzung von Firmen und allgemein von der Vernetzung von Ereignissen. Sie bilden in dieser Vorstellung einen horizontalen Zusammenhang. Wissenschaftliche Erklärungsmodelle gehen davon aus,dass es zumindest für soziale Phänomene stets mehrere Ursachen und Gründe gibt. Monokausale Erklärungen sind von vorgestern.

Mit den heute üblichen Multifaktorenanalysen geht einher,dass Ursachen und Gründe,die zuvor in der Tiefe gesucht wurden,zunehmend in der engeren und weiteren Umgebung, im Kontext, angenommen werden, das heißt auf der gleichen Ebene. Die unabhängigen Variablen, die Grundbedingungen, die man sich zuvor in der Tiefe vorstellte, liegen dann bloß weiter entfernt. Es bedarf vieler Vermittlungsschritte,das heißt, man muss, anstatt stufenweise hinabzusteigen eher ziemlich weit gehen. In vielen Wissenschaften hat man es längst aufgegeben, nach Ursachen zu suchen, und begnügt sich mit der Korrelierung bestimmter Ereignisse. Immer wenn das eine Ereignis auftritt, tritt auch das andere auf – oder doch mit einer statistisch bestimmbaren Häufigkeit. So ist ein Zusammenhang festgestellt, und man kann in der Folge davon ausgehen, dass dann, wenn X eintritt, mit einer angebbaren Wahrscheinlichkeit auch Y auftauchen wird.
Man muss dann zum Beispiel nicht wissen, welche Ursachen eine bestimmte Krankheit hat,denn man kennt ihre Symptome,das heißt den Zusammenhang beobachtbarer Ereignisse. Für das praktische Handeln genügt das im Allgemeinen. Im Alltag bedienen wir uns oft des Vergleichs. Um uns eine Sache zu erklären,suchen wir nicht nach Ursachen,sondern stellen fest, dass diese Sache einer anderen Sache ähnlich ist. Wir stellen die unbekannte Sachen damit in einen bekannten Kontext, um ihre Fremdartigkeit in Gewohntes zu verwandeln. Es entstehen Netze von Ähnlichkeiten. Die Einebnung der alten Raumvorstellung zu einer Vorstellung von Oberfläche lässt sich auf vielen kulturellen und sozialen Gebieten feststellen. Die Auflösung des Dogmas „form follows function“, das Architektur und Design der Moderne seit den zwanziger Jahren anleitete,hat dazu geführt, dass die Fassade eines Gebäudes wie auch die Oberfläche von Produkten von ihren sozialen und technischen Funktionen unabhängig werden. So kann sich Fassadengestaltung und Design nach Gesichtspunkten von Werbung und Verkauf richten. Der relativ neue Ausdruck „Benutzeroberfläche“ wird ganz allgemein verwendet,nicht nur für den Computer. Auch die Daten auf dem Bildschirm erscheinen als miteinander vernetzt, mithin als Ausschnitte aus einem Datennetz, das nicht als Raum, sondern als riesige Oberfläche vorgestellt wird. „Design“ im Sinne bewusster Gestaltung ist,auf Sprache angewendet, absichtsvoller Stil. Er betrifft nicht den Inhalt, sondern die Form, obwohl er sich von jenem nie ganz lösen kann,da Sprache ja Verständigungsmittel ist. Es war der Dandyismus,der danach strebte, die Form von inhaltlichen Bestimmungen weitgehend zu befreien und nicht nur in der Sprache, sondern in der ganzen Lebenshaltung möglichst artifiziell zu sein.
Oscar Wilde lässt den Dandy Lord Illingworth von einer „Philosophie des Oberflächlichen“ sprechen, und er selbst sagt: „Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol.“ Auf die Gestaltung der Körperoberfläche
durch modische Kleidung folgte das Design der unbekleideten Körperoberfläche durch Bräunung,Piercing und Tattoo. Während jedoch das Bräunen des ganzen Körpers bei der Freikörperkultur der zwanziger Jahre noch im Zeichen von Volksgesundheit und Körperertüchtigung gestanden hatte, sind Piercing und Tätowierung ohne die sexuelle Revolution der 60er Jahre und die Verbreitung sadomasochistischer Praktiken nicht denkbar. Und im Unterschied zum 19. Jahrhundert bezieht Sexualität heute den ganzen Körper,die ganze Oberfläche ein.
Das Tätowieren – ursprünglich ja eine Stigmatisierung – ist ein bedeutungsvolles Phänomen. Die Identität eines Menschen, die vom frühen 19. Jahrhundert an und weit in das 20. Jahrhundert hinein in der Innerlichkeit gesucht wurde, soll nun an der Oberfläche ablesbar sein. Die tätowierte Haut ist weit mehr als eine Bekleidung. Sie wurde unter Schmerzen bearbeitet,und auswechselbar ist sie nicht. Die neuartige Identität wird durch Erleiden geschaffen. Das Tattoo verbürgt Dauerhaftigkeit und Authentizität gegenüber dem beschleunigten Wechsel aller Moden.
Die Tätowierung ist eine Zuspitzung des Bodyshaping, jener Form der Selbstgestaltung, die ganz nach außen gerichtet ist. Die durch Tätowierung geschaffene Identität ist demonstrativ. Identität und Image verschmelzen wie Gesicht und Maske. Die Haut ist ein Zeichenträger und, weil eingebrannt,sind die Zeichen ernster gemeint als ein Ansteckbutton oder das in-group-spezifische Markenzeichen auf den Jeans. Identität definiert sich hier nicht mehr über Introspektion in die Tiefen der Seele und des Denkens. Der vornehmlich in den USA entwickelte Trend zur Oberfläche beschleunigt sich mit der Globalisierung ökonomischer Prozesse und der mit ihr Hand in Hand gehenden Entwicklung der modernen Kommunikationstechnologien. Auch in der übrigen Welt kann man sich dem schwer entziehen. Denn zu den Anforderungen, welche die globalisierte Ökonomie stellt,gehört jene viel zitierte Flexibilität,die in der Unabhängigkeit von Orten und menschlichen Bindungen besteht. Aus der Perspektive derer,die den Job machen, heißt sie Ungebundenheit; und Verfügbarkeit aus der Sicht der anderen,die den Job vergeben. Der mobile und flexible Mensch des neuen Zeitalters,der nicht mehr sein Leben lang einem einzigen Beruf nachgeht, sondern hintereinander und nebeneinander mehrere Jobs verrichtet – mit der Folge der oft genannten „Patchwork“-Biografie –, kann nicht mehr in Orten, Sachen, Themen, Milieus und Menschen Wurzeln schlagen. Er muss oberflächlich sein, um sich jederzeit lösen können, wenn ihm der bessere Job am besseren Ort winkt. Er muss immer bereit sein. Mit Heimatlosigkeit in lokaler,intellektueller und emotionaler Hinsicht scheint er zurechtzukommen – solange er jung ist. Borniert und dysfunktional muten demgegenüber bodenständige Eigenschaften wie Treue und Verantwortungsbewusstsein an,die mit langfristigen Perspektiven verbunden sind und notwendig, um die Folgen eigenen Handels zu ertragen und abzuarbeiten. Das vermeiden jene, die wie Manager internationaler Konzerne nach dem Rotationsprinzip mal hier und mal dort in der Welt einen Job machen. Anstatt Liebe gibt es kurze „Verhältnisse“, anstatt gründlicher Gespräche den schnellen Witz.
Bei „tief schürfenden“ Gesprächen ging es darum,einen Standpunkt zu finden, zu festigen oder zu verteidigen: Vertiefung, Verwurzelung, Eingrabung. Doch Standpunkte sind dem flexiblen Menschen hinderliche Festlegungen. Er hat Meinungen, und die kann er wechseln. Faszinierend ist seine Schnelligkeit, Wendigkeit, geistige Beweglichkeit. Er ist bei aller notwendigen Selbstdarstellung hochkommunikativ,eine heute in jeder Organisation wünschenswerte Eigenschaft. Aber es muss gesagt werden, dass Oberflächlichkeit zur Grundausstattung des Abenteurers gehört. Das wundert nur den, der übersieht, dass unser Leben im Ganzen abenteuerlicher wird. Die Auflösung der alten,vielfach gebundenen Arbeitsgesellschaft verlangt, dass jedermann die Vermarktung seiner Arbeitskraft selber managt. Sich selbst gut zu verkaufen,sich selbst zu inszenieren, das ist es,was den anspruchsvollen Abenteurer zur „blendenden“ Erscheinung macht. Wir werden alle oberflächlicher werden müssen, wenn wir mithalten wollen. Wollen wir das?

„Zugegeben, der junge Herr Quickstepp ist eine blendende Erscheinung, äußerst wendig, sehr kommunikativ. Und er verkauft sich gut. Keine familiäre Bindung, keine feste Beziehung, spricht Englisch, Französisch, Spanisch. Aber er erscheint mir als etwas oberflächlich. Außerdem, wenn ich das erwähnen darf, trägt er ein auffälliges Tattoo . . .“
„Ausgezeichnet. Bitten Sie ihn zum Vorstellungsgespräch. Vielen Dank. Sie können gehen.“
„Aber er ist oberflächlich!“
„In wie vielen Sprachen?“
„Zugegeben: vier.“
„Auftreten?“
„Zugegeben: souverän. Brillanter Smalltalker.“
„Ab wann verfügbar?“
„Ab sofort.“