6 Meter für Flaneure

6 Meters for Strollers
A Reflection on Sidewalks in Frankfurt and elsewhere

 
This text exists at the moment only in German language
Published in: Frankfurter Rundschau


 
Eine Betrachtung über Bürgersteige in Frankfurt und anderswo

"Welche Luftsprünge muss einer nicht machen, der es unternimmt, sich vom Faubourg Saint-Jaques zum Faubourg Saint-Honoré zu begeben … Warum gibt es keine Gehsteige wie in London?" klagte Louis-Sébastien Mercier 1781. Nun, inzwischen gibt es sie in allen Städten. Altmodisch heißen sie "trottoir" doch der Ausdruck "Bürgersteig" ist treffender. Es waren nämlich die Bürger, die zu Fuß gingen, während der Adel zu Pferde saß oder in der Kutsche. Hohe Kleriker und adlige Damen ließen sich in der geschlossenen Sänfte tragen.
Mercier war sich bewusst, dass der Bürgersteig, der in Paris schließlich 1805 eingeführt wurde, keine technische Einrichtung, sondern eine demokratische Errungenschaft sein würde: "Sobald man auf dem Straßenpflaster von Paris steht, merkt man gleich, dass das Volk hier nichts zu sagen hat: das Fehlen von Bürgersteigen schafft keine Annehmlichkeit für die Fußgänger. Die Reichen und Vornehmen mit ihren Kutschen besitzen das barbarische Vorrecht, das Volk auf der Straße zu überfahren und zu verstümmeln. Sie reiten mit ihren Pferden im gestreckten Galopp ihre Mitbürger nieder und kaufen sich durch Zahlung einer geringen Summe frei, um anderntags damit von neuem beginnen zu können. Hat ein Kutscher einen lebendigen Leibes zermalmt, dann wird vom Kommissar untersucht, ob es das kleine oder große Kutschenrad war; der Kutscher ist nur für das kleine verantwortlich, und wenn ihr euer Leben unter dem großen aushaucht, gibt es für die Hinterbliebenen keinen finanziellen Schadenersatz. Es gibt im übrigen einen Tarif für die Arme, Beine und Oberschenkel; der Preis dafür ist im voraus festgesetzt." Glück hatte, wer noch rechtzeitig auf einen Prellstein oder in einen Hausgang springen konnte, doch war man von den Schuhen bis zur Perücke mit Straßenkot bespritzt, ein Dreck, der aus allen nur denkbaren Ausscheidungen bestand.
London, Paris und Berlin haben sechs Meter breite Bürgersteige, etwas, das sich Frankfurt nur in der Kaiserstraße leistet. Unter diesem Gesichtspunkt hat die little big city am Main wenig Großstädtisches. In der Belle Epoque strömte das Volk in Sicherheit die breiten Bürgersteige der neuen Boulevards entlang. Auch der "kleine Mann" promenierte, ohne die Angst niedergeritten zu werden, und besah sich die Auslagen in den Schaufenstern der neuen Warenhäuser. Der großstädtische Bürgersteig und das riesige, erleuchtete Schaufenster, sie gehören zusammen.
Zola hat es eindringlich beschrieben. Das Trottoir, das in einer Kleinstadt auch heute so schmal ist, dass man einander kaum ausweichen kann, ist im Interesse der Kaufhäuser, denn um die Waren zu begutachten, muss man stehen bleiben können, ohne andere aufzuhalten.
Die Pariser Bürgersteige sind so breit, dass sich die Straßencafés ins Freie ausdehnen und die untergehakten Paare und Pärchen bequem aneinander vorbeiströmen. Ja, man konnte Bekannte umständlich begrüßen und großartig den Zylinder ziehen. Niemals zuvor hatte es die Möglichkeit gegeben, müßig durch die Innenstadt zu schlendern. Im entsetzlichen Gewühl der alten engen Gassen war man voll damit beschäftigt gewesen, seine Börse zu umklammern.
Die breiten Bürgersteige, aus denen sich Mitte des 20.Jahrhunderts dann die heutige Fußgängerzone entwickelt hat, ließen den Typ des Flaneurs entstehen. Er bummelte dahin, beäugte die Mädchen und koketten Damen und begrüßte Freunde im Café. Allein der breite Bürgersteig erlaubte es damals, durch auffällige Garderobe und Hutkreationen Aufmerksamkeit zu erregen, und den Ammen und jungen Müttern, den Kinderwagen zu schieben.
Für solch altmodische Gemächlichkeit ist Frankfurt nicht eingerichtet. Auf dem Bürgersteig der kleinen Metropole machen sich dazu oft Geländewagen mit mächtigen Kuhfängern breit, zwischen denen kein Durchkommen ist.
In der wilhelminischen Gesellschaft, die den Mann nach "gedient" und "ungedient" unterschied, musste ein braver Bürger manchmal ausladend einherstolzierenden Offizieren in die Gosse ausweichen. Dann stand er da und ballte sozialdemokratisch die Faust in der Tasche. Und heute?
Im Frankfurter Westend kann man die "deutsche Harke" (Cora Stephan) erleben, wenn man baumlangen Studenten begegnet, die angelegentlich überkopf diskutierend den ganzen Bürgersteig einnehmen, ohne den Entgegenkommenden eines Blicks zu würdigen. Da tritt man lieber beiseite und betrachtet ein Schaufenster.