Pereira suchen

In Lissabon auf den Spuren eines Romans von Antonio Tabucchi

„Bom dia, Senhora, hat hier einmal ein gewisser Doktor Pereira gewohnt?“
„Pereira?“
„Ja, ein Journalist. Er ist später ausgewandert, wahrscheinlich nach Frankreich.“
„Und warum ist er ausgewandert?“
„Das ist eine lange Geschichte, Senhora. Es war kurz bevor der 2. Weltkrieg begann.“
„Das ist lange her.“
„Ja, mehr als 60 Jahre, Senhora. Er ging, weil die PIDE hinter ihm her war.“
„Die PIDE. Mein Gott, was hat er denn getan?“

So hätte das Gespräch beginnen können, wenn ich in dem Haus Nr. 22 in der Rua da Saudade, wo Pereira gewohnt hat, eine Frau von etwa 95 Jahren getroffen hätte, die mir auf meine Fragen noch hätte antworten können. Aber tatsächlich hätte sie mir gar nicht antworten können, denn der Kulturjournalist Pereira ist eine Romanfigur, der Protagonist in Antonio Tabucchis berühmt gewordenem Roman „Erklärt Pereira“.
Pereira? Das ist hier ein verbreiteter Name. Er bedeutet „Birnbaum“, und Birnbaum ist ein jüdischer Name. „Damit“, schreibt Tabucchi „wollte ich einem Volk meine Ehrerbietung bezeigen, das in der portugiesischen Kultur bedeutende Spuren hinterlassen und die großen Ungerechtigkeiten der Geschichte erlitten hat.“ Sein mit Marcello Mastroianni verfilmtes Buch spielt in Lissabon, 1938, am Vorabend des II. Weltkrieges, unter der Diktatur Salazars. Ein weltfremder Kulturredakteur, der in der Literatur und der Vergangenheit lebt, entscheidet sich schließlich, da er der Gegenwart nicht mehr ausweichen kann und will, auf seine eigenste Weise Widerstand zu leisten: als Journalist. Ein leises, zartes, unaufdringliches Buch über Zivilcourage. Zivilcourage eines konservativen Journalisten, der schließlich einigen jungen Leuten hilft – aus bürgerlichem Anstand und aus Mitleid und auch, weil der eine ihm ähnlich sieht, als er noch jung war und Hoffnungen hatte.

Ich habe mir das Gespräch mit der alten Frau, die vielleicht etwas von Doktor Pereira weiß, trotz der Unmöglichkeit oft ausgemalt und denke wieder daran, während ich die Rua da Saudade im Lissabonner Stadtviertel Mouraria suche, Tabucchis Buch, den Stadtplan und ein kleines Wörterbuch in der Tasche. Das Viertel, in dem einst die übrig gebliebenen Mauren wohnten, ist noch immer ärmlich. Besonders hier war der Fado zu hören, jener melancholische, gitarrenbegleitete Gesang, der von der „saudade“ (Einsamkeit) handelt. Der Diktator Salazar hatte ihn verbieten wollen, weil der Gesang ihm für seinen „Neuen Staat“ zu fatalistisch war. Aber die Leute lieben den Fado. Auf dem Cimiterio dos Prazeres sah ich zwei Frauen, die das Grab der großen Fado-Sängerin Amália Rodriguez besuchten. Es ist bloß ein Nischengrab, links vom Portal, doch an den vielen Blumen von weitem erkennbar.
Dass Pereira in der Saudade wohnte, ist bedeutsam, weil er fortwährend an den Tod dachte und täglich mit dem Foto seiner verstorbenen Frau sprach. Der Straßenname „Saudade“ wie auch das Datum, an dem der Roman beginnt – es war der 25. Juli 1938 – verorten den Roman in der Wirklichkeit, zum anderen aber spielt die Wortbedeutung auf eine Disposition des fiktiven Protagonisten an. Denn er war wirklich allein. In einem anderen Buch Tabucchis, dem „Lissabonner Requiem“, lässt der Ich-Erzähler den von ihm bewunderten portugiesischen Schriftsteller Fernando Pessoa sagen, der Saudismo sei „unser Hang zur Nostalgie“.

In Lissabons stämmiger Kathedrale Sé Patriacal befindet sich gleich linkerhand ein blau-weißes Kachel-Tableau: Darauf predigt der Heilige Antonius den Fischlein, die mit offenem Maul erstaunt aus dem Wasser gucken. Pereira hat gewiss darüber lächeln müssen, wenn er sich im Kühlen ein wenig ausruhte. Weil es im Juli heiß war, könnte der Doktor sich über die kleine Trinkwasserfontäne geneigt haben, die auf dem Plätzchen vor der Kathedrale steht. Eine Frau füllt gerade geschickt eine Plastikflasche, indem sie den senkrechten Wasserstrahl mit einem Finger zur Seite drückt.
Ich gehe dann an der Kathedrale vorbei die Rua Rosa hinauf. Bald zweigt linkerhand wieder die Rua da Saudade ab. Es regnet. Einige Häuserfassaden sind hier gekachelt, wie öfter gerade in den ärmeren Vierteln Lissabons, das für seine Azulejos berühmt ist. Die Kacheln sind nicht nur schön, sondern halten auch den Regen ab. Da ist das Haus Nr. 12, baufällig, aber bewohnt. Wäsche flattert vorm Fenster. Dann passiere ich eine mit Wellblech überdachte Ausgrabungsstelle; man hat hier, steht auf einem Schild, ein römisches Theater gefunden. Die folgenden Gebäude wurden irgendwann abgerissen. Pereiras Haus existiert nicht. Seine Adresse aufzuspüren, ist ebenso naiv, als wollte ich Marcello Mastroianni hinfort mit Doktor Pereira ansprechen. Ich weiß.
An Nachbarhäusern aber kann man ablesen, wie es ausgesehen haben könnte. Es hätte vier Stockwerke gehabt, ein Mezzanin mit eingerechnet. Die Fenster wären in ein breites Rechteck aus Travertin gefasst gewesen, und im 1. Stock hätte es winzige, niedrig vergitterte Balkons gehabt, auf die der Doktor hätte heraustreten können, um abends die Brise vom Atlantik zu genießen.
Das Gebiet wird saniert. Ein Mann mit einer Atemmaske schleift den Putz von der Rückseite alter Kacheln, die in der Werkstatt zu Tableaus zusammengelegt werden. Ich schaue durch eines der halb offenen Tore, aus denen afrikanische Arbeiter Schutt tragen, und sehe – wie Peireira von seinem Balkon – den schimmernden Atlantik, aber nein: den Tejo, der hier an seiner Mündung schon so breit ist, dass man denken könnte, er sei das Meer.
Die sehr steile, schwarz gepflasterte Rua Saudade führt zum Kastell hinauf. Weil Pereira dick geworden war, musste er öfters stehen bleiben. Er hatte zu hohen Blutdruck und Atemnot. Ich gehe bis zu den Andenkenläden und dann die Rua Saudade wieder zurück. Etwas oberhalb der Kathedrale befinden sich zwei staatliche Gebäude, das Centro de Etudos Judiciarios und ein anderes mit schwer vergitterten Fenstern, in dessen Eingang ein Beamter steht. Die Kaserne, von der Tabucchi spricht? Eine Tafel weist auf die PIDE hin, die mit Hilfe der Gestapo organisierte Geheimpolizei, die ihr Hauptquartier an der Rua Cardoso hatte, in einem Gebäudekomplex, der heute verfällt; die Fenster hängen schräg in den Angeln und sind zerbrochen.
Wenn Pereira in sein Büro am oberen Ende der Altstadt fuhr, wird er die legendäre Straßenbahn 28 genommen haben, die heute eine Touristenattraktion ist. Die Wagen, die die steilen, engen Straßen hin-auf- und hinabzockeln, sind winzig und überfüllt. Jungs hängen aus den Fenstern, die in die Baixa, die Unterstadt, wollen. Pereira hätte, eine kleine Mappe in der Hand, auf der hinteren Plattform gestanden. Er war kein Mensch, der sich in die Mitte setzte.

Die Polizeijeeps, die Pereira an jenem Tag unter den Arkaden des Terreiro do Paco gesehen hatte, standen wohl an der linken Seite des breiten, durch das Prunkportal geteilten Schlosses, in dem heute die Justizbehörden untergebracht sind. Er hatte sich an der Praca da Alegria mit Monteiro Rossi, einem Philosophiestudenten, verabredet, den er als Praktikanten einstellen wollte, damit er – im voraus – Nachrufe auf berühmte Schriftsteller schriebe. Denn Pereira musste, wie gesagt, dauernd an den Tod denken.
Doch kann ein Kulturredakteur es sich angesichts von Zensur und Bespitzelung leisten, einen Nachruf auf Garcia Lorca zu akzeptieren? „Nicht Garcia Lorca, bitte nicht, in seinem Leben und seinem Werk gibt es zu viele Dinge, die sich nicht für eine Zeitung wie die Lisboa eignen, ich hätte Ihnen gern Bernanos und Mauriac vorgeschlagen“, wird Pereira höflich zu Rossi sagen, denn diese französischen Autoren sind einwandfreie Katholiken, wohingegen der Student sich bald als das heraus stellt, was Garcia Lorca in Pereiras Augen ist: ein Umstürzler.
Kandelaber hängen von der Decke der Arkaden. Von dort konnten die Sicherheitskräfte die ganze, zum Tejo sich öffnende Praca do Comercio kontrollieren und auf Befehl dort hin rasen, wo ein Spitzel die Spur einer Menschenansammlung gemeldet hatte. Auf dem Platz fanden zu Zeiten der Inquisition, die in Portugal erst 1820 aufgelöst wurde, die Ketzerverbrennungen statt. Rechts in den Arkaden liegt das Café Martinho da Arcada, wo Fernando Pessoa Stammgast war.

Ich suche nun den anderen Ort, an dem der Doktor Pereira an den Tod dachte. Hier ist es, hier müsste es sein. Hier hatte Pereira für sich ganz allein ein Redaktionsbüro, ein trostloses, kleines Zimmer mit einem alten Ventilator, in dem er nicht besucht werden wollte, damit keiner erfuhr, dass die Kulturredaktion der Lisboa nur aus ihm bestand. Es roch dort immer nach Gebratenem, weil Celeste, die Portiersfrau das Essen für ihren Mann warm hielt, der bei der Polizei war.
Es ist die Rua da Fonseca, Hausnummer 66. Die leicht ansteigende Fonseca hat merkwürdigerweise auf jeder Seite zwei Bürgersteige, je einen an der Straße und je einen, durch schmale Rabatten getrennt, an den Häusern. Sie sind wie überall in Lissabon mit gelblich-weißen Steinen gepflastert, die wie Kuhzähne aussehen. Doch es gibt, wie ich sehe, nur eine Nr. 62 und dann eine Nr. 70. Die Häuser sind aus den 30er Jahren, Wohnhäuser. Der Wirt in der Pastelaria Parque gegenüber, einem dürftigen Café mit falschen Marmortischchen sagt, eine Nr. 66 hat es nie gegeben. Gut gemacht, Antonio Tabucchi!
Die moderneren Häuser in dieser Gegend haben heute vor jedem Fenster einen karnickelstallartigen Kasten für die Klimaanlage. Auf der anderen Seite geht die Rua Fonseca etwas schöner weiter. Zarte Robinien neigen sich über tote Straßenbahngleise. Zusammen mit alten Häusern gibt das eine Atmosphäre, in der ich mir Pereira vorstellen kann. Wo könnte nun aber das Café Orquidea sein, Pereiras Stammcafé, in dem Manuel, der Kellner, ihm die politischen Neuigkeiten zuflüsterte, die man nirgends mehr lesen konnte? Bei ihm hat er sich fast täglich ein Kräuteromelette bestellt. Angeblich ist es einen Katzensprung vom Büro entfernt, neben einer jüdischen Fleischerei.

Viele Frauen tragen heute Schals mit Burberrymuster, und da ein warmer Nieselregen fällt, tragen einige auch Schirme und Hüte mit Burberrymuster. Alte Frauen verkaufen an den U-Bahnausgängen Schirme, denn mit Regen hat wohl kein Passant mehr gerechnet. Auf dem Stadtplan ist am Lago do Rato ein Davidstern eingezeichnet. Dort ist eine Synagoge. Die jüdische Fleischerei wird also nicht weit davon gewesen sein. Die Synagoge befindet sich in einem Hinterhaus, das man durch das Gittertor sieht. Der Tankwart am ehemaligen Mercado do Rato, in dem jetzt Opel Corsa angeboten werden, hat sie mir gezeigt. Der Mercado do Rato, eine Eisenkonstruktion aus dem 19. Jahrhundert – dies könnte der von Tabucchi erwähnte Markt des Viertels gewesen sein. Die Guarda Nacional Republicana hatte dort seinerzeit zwei Polizeiwagen postiert, denn ein sozialistischer Fuhrmann aus dem Alentejo war auf seinem Karren massakriert worden, und alle seine Melonen waren mit Blut bespritzt.
Das einzige Café, in dem der Doktor gesessen haben könnte, heißt „Pastelaria 1800“. Warum hat Pereira in jenem Café immer nur Kräuteromelette bestellt, immer dasselbe? Ich weiß es, seitdem ich in der Casa do Alentejo gegessen habe, einem schaurigen, in allen Reiseführern angepriesenen Clubhaus, in dem im Halbdunkel alte Männer auf elephantesken grünen Sesseln dösen. Aus Resignation, glaube ich, hat Pereira immer Kräuteromelette gegessen. Doch resigniert war er nicht nur über die portugiesische Esskultur, sondern über das Leben überhaupt. Er hatte es satt.

Die Merces-Kirche, in welcher Pereira einmal im Monat Pater Antonio besuchte, um sich ein wenig auszusprechen oder zu beichten, ist schwer zu finden. Man betritt die Igreija Paroquial nossa Senhora das Merces durch einen Hintereingang, jenen, den auch Pereira genommen hat. Er befand sich dann in einem mit blau-weißen Azulejo-Tableaus gekachelten Raum, dessen Tonnengewölbe ebenfalls gekachelt ist. Es handelt sich für Azlejo-Liebhaber um eine Sehenswürdigkeit. Hier war es, wo der Pater zu dem einsamen Pereira sagte: „In welcher Welt lebst du denn, du, der du in einer Zeitung arbeitest, hör mal, Pereira, informier dich doch ein wenig.“ Denn Pereira, der früher einmal Reporter gewesen war, zog es in diesen Zeiten vor, nichts zu wissen. Ausländische Zeitungen gab es nicht mehr.

Die dunkelgelbe Straßenbeleuchtung wirkt weich. Es sieht irgendwie alteuropäisch aus. Auf jeder Straßenlaterne thront ein goldenes Segelschiff, das Wahrzeichen der Stadt Lissabon. Als Pereira – es war neun Uhr abends, und er hatte sein graues Jackett an – auf der mit Papiergirlanden geschmückten Praca da Alegria Menschen sah, die ein grünes Tuch um den Hals trugen, blieb er entsetzt stehen. Es waren Parteigänger Salazars. Und er dachte, dass Monteiro Rossi, jener Philosophiestudent, mit dem er sich hier treffen wollte, womöglich einer der ihren war.
Es gab kleine Tischchen damals auf dem Platz und einen Kellner. Heute stehen hier an einem Springbrunnen zwei große Palmen. Und eine Polizeistation ist hier, vor der drei Streifenwagen parken. Ein junger Polizist mit Sonnenbrille scheint zu beobachten, dass ich den „Platz der Freude“ fotografiere. Und die Polizeistation.
Die im Roman erzeugte Atmosphäre durchwebt die aktuellen Eindrücke. Diese sind im Wortsinne nicht ungetrübt, wenn ich plötzlich die karabinerbewehrten Polizisten Salazars dort sehe, wo sie Pereira stehen sah. Zwischen den Passanten aus der Jetztzeit glaube ich, hier und da, zum Beispiel auf jener Bank dort drüben, nach der Mode von 1938 gekleidete Personen zu bemerken, die schöne revolutionäre Marta vielleicht, die Pereira für Rossis Freundin hielt, und deren volles, kupferfarbenes Haar über ihre Schultern fiel. Später wird sie die Haare abgeschnitten haben, blondgefärbt sein und sehr schmal geworden.

Als der unschlüssige Pereira den Pater Antonio noch einmal in der Merces-Kirche aufsuchte, um ihn zu fragen, wie er sich als Christ verhalten solle, ohne sich der Häresie schuldig zu machen, blickte der Beichtvater ihn – so schien es ihm – fast ärgerlich an: „Hör zu, Pereira“, sagte er, „die Situation ist ernst, und jeder muss seine eigenen Entscheidungen treffen.“ Es war ein paar Tage nach der Zerstörung Guernicas durch deutsche Bomber. Und Pereira entschied sich dann bald.
Ich treffe im Vorraum der so schön gekachelten Kirche den Gemeindepfarrer, einen für einen Portugiesen recht großen Mann mit einem festen Gesicht. So könnte Pater Antonio ausgesehen haben. Ich sage dem Priester, während ich meinen Fotoapparat einpacke, seine Kirche sei nicht nur wegen der Kacheln bekannt. Und als er mich fragend anschaut, sage ich auf italienisch: „Sie kommt in einem sehr guten Buch vor. Der Autor ist Italiener, Antonio Tabucchi.“ Und weil in der portugiesischen Sprache viele Silben schwer verständlich zusammengezogen werden, sage ich langsam betonend: „An-to-nio Ta-bu-cchi.“
„Ich kenne ihn“, antwortet mir der Pater auf italienisch, „Tabucchi war ein paar mal hier, und wir haben über Pessoa gesprochen. Sie kennen Pessoa, unseren großen portugiesischen Dichter?“