Little Big City (1): Alltag

Normaluhr

An einigen zentralen Orten der Großstadt wundert man sich über eine so genannte Normaluhr, die etwa in Little Big City Frankfurt am Ende der "Fressgass", am Opernplatz, an der Hauptwache, am Ende der Zeil, in Bornheim und an einigen U-Bahnabgängen meist auf hohen, manchmal kunstvollen Sockeln angebracht ist, damit man sie schon von weitem sieht. Warum das aber, wenn doch jedermann eine Armbanduhr trägt?
Die Normaluhr ist ursprünglich eine Einrichtung des frühen 20. Jahrhunderts, als die Arbeit in Fabriken, Büros und Geschäften überall zur selben Zeit begann und endete. Die Normalzeit wurde – gegenüber der so genannten mittleren Ortszeit – schon wegen der Koordinierung der Eisenbahnen eingeführt und hieß darum zunächst "Eisenbahnzeit". Die Zeit, welche die Normaluhr zeigt, war die Norm, sie galt als objektiv und war verbindlich. Nach ihr stellte man seine eigene Uhr, sofern man eine besaß.
Die Normaluhr ist ein Pendant der Fabrikuhr: Die Unternehmer des 19. Jahrhunderts, die von der eingekauften Lebenszeit der Arbeiter keine Minute zu verlieren gedachten, brachten eine große, weit sichtbare Uhr über dem Fabriktor an: Zeichen auch der Herrschaft über die Zeit der anderen. Selbst die großen Turmuhren der zur vorletzten Jahrhundertwende errichteten Bahnhofskathedralen waren Hoheitszeichen: Fabrikuhr und Bahnhofsuhr normierten den Tag der Arbeitsgesellschaft.
Die Normaluhr demonstriert die Ablösung unserer ökonomisch regierten Zivilisation von der Natur, sie demonstriert in der Großstadt, der Hochburg modernen Lebens, die Emanzipation von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, von der Zeit des Reifens und Wachsens, von den Jahreszeiten, denn hier gelten die natürlichen Regelmäßigkeiten nicht mehr, nach denen sich die agrarischen Gesellschaften noch richten, wo punktgenaue Verabredungen nicht möglich sind.
Goldene Taschenuhren wurden von Chefs aller Rangstufen an Ketten getragen. Die Uhr war aus dem Spielzeug des Barock und Rokoko zum bürgerlichen Herrschaftsinstrument geworden, Werkzeug zur Kontrolle fremder Lebenszeit. Unpünktlichkeit galt als Verstoß gegen die bürgerliche Ordnung. Disziplin war alles, solange man die Arbeiter als mögliche Rebellen, wenn nicht als Revolutionäre zu fürchten hatte. Herrschaftssymbol war die Taschenuhr noch als Nickelzwiebel in der Weste des kleinbürgerlichen Patriarchen und Schullehrers. Das Ticken der Pendeluhren in den Wohnstuben, das heute Nostalgiker gemütlich finden, war in Wirklichkeit das Mittel, das unaufhaltsame Vorrücken der Zeit stets bewusst zu halten.
Das mechanische Zerhacken der Dauer setzt nun die Digitaluhr fort. Das Zeitbewusstsein – mühsam anerzogen – befestigte sich endgültig, und das Reglement wurde schließlich ganz verinnerlicht, als es jedermann möglich war, eine Uhr zu besitzen. Gewöhnlich war sie ein Geschenk zur Konfirmation und bedeutete, dass der Jüngling – zunächst trugen nur Männer Uhren – in die Gesellschaft der Erwachsenen aufgenommen war, eine Initiation wie heute die Verleihung des Führerscheins.
Mit ihrer Massenhaftigkeit als Taschen- oder Armbanduhr hörte die Uhr auf, ein Symbol der Fremdherrschaft zu sein. Sie ist nicht mehr Instrument hauptsächlich zur Kontrolle über andere, sondern Mittel der Selbstkontrolle. Man richtet sich nun nach der eigenen Präzisionsuhr, die man allerdings morgens mit der Radiozeit vergleicht – der Normaluhr unserer Tage. Die eigene Uhr geht einher mit dem Anspruch auf eigene Zeit und eigene Zeiteinteilung.
Die Uhr am Arm von Jedermann ist ein Zeichen der Emanzipation geworden – wenigstens dem Anspruch nach. Denn zugleich bleibt sie noch immer das Gegenteil: allgegenwärtiges Mittel zur Unterwerfung von Körper, Seele und Geist unter ein weltweit geltendes System, nach dem die globale Ökonomie funktioniert. Carlo Levi, der italienische Schriftsteller und Maler, der heute hundert Jahre alt geworden wäre, sagte, die wahre Zeit sei das schwankende Euter einer Kuh. Damit nicht etwa auch andere so mit den Naturzeiten kokettieren, steht die Verkörperung des Zeitregimes mitten in der Stadt: die Normaluhr.

Frankfurter Rundschau v. 29.11.2002, S. 30, Ausgabe: S Stadt