Lukanien ist überall

Realismus als Herausarbeitung einer verborgenen Wirklichkeit
Zum 100. Geburtstag des Malers und Sozialromantikers Carlo Levi

Mit gefesselten Händen kam er in Aliano an, einem abgelegenen Flecken in der Mondlandschaft Lukaniens. So steht es auf der ersten Seite seines in 37 Sprachen übersetzten Buches Christus kam nur bis Eboli, für das Jean Paul Sartre ein Vorwort geschrieben hatte.
Der Verbannte, der zeitlebens für Freiheit und Autonomie gestritten hat, war einer der Köpfe der antifaschistischen Untergrundorganisation Giustizia e Libertà. Der riesige Erfolg seines bewegenden Berichts über die archaischen Verhältnisse im Mezzogiorno, die er während seiner Konfinierung im Jahre 1935 erlebt und 1944 beschrieben hat, machte Carlo Levi nach dem Krieg derart berühmt, dass er seine Tätigkeit als Maler völlig verdunkelte. Als bedeutender Maler des Realismus ist der 1975 gestorbene Carlo Levi, der am 29. November einhundert Jahre alt wäre, in Deutschland nahezu unbekannt, obwohl er allein fünf mal auf der Kunst-Biennale von Venedig vertreten war. Geboren und aufgewachsen in einer bürgerlichen, gleichwohl sozialistisch eingestellten Familie in Turin, hatte Levi sich schon als Schüler gegen den Faschismus engagiert, der in Turin, dem industriellen und intellektuellen Zentrum Italiens in den 20er und 30er Jahren, schon vor den Sondergesetzen von 1926 Militanz zeigte.
Unabhängiger Senator
Viele der verratenen und inhaftierten Turiner Verschwörer waren jüdischer Herkunft, darunter Natalia Ginzburgs Mann Leone, ihr Bruder und ihr Vater, bei dem Carlo Levi als angehender Arzt Anatomie studiert hatte. Die damalige faschistische Presse schrieb von einem „jüdischen Komplott.“ Als kritischer Publizist, der 1958 das geteilte Deutschland bereiste, war Levi für die mit dem Wiederaufbau beschäftigten Deutschen wenig willkommen.
Besonders passte er als sozial engagierter realistischer Maler – neben Renato Guttuso der bedeutendste Italiens – nicht ins westliche Nachkriegsdeutschland. Denn der Realismus galt als eine durch die völkische Nazi-Malerei diskreditierte und längst überholte Position, da doch die ungegenständliche Malerei sich endlich durchgesetzt und Westdeutschland kulturell den Anschluss an die internationale Entwicklung gefunden hatte.
Der Realismus blieb der DDR überlassen, die ihn als Sozialistischen Realismus – mit der berüchtigten Widerspiegelungstheorie hinterfüttert – zum Dogma erhob. Levi sympathisierte mit der PCI immerhin so sehr, dass er sich – wie auch andere Intellektuelle von Rang – als unabhängiger Senator aufstellen ließ. Pia Vivarelli, die Präsidentin der Fondazione Carlo Levi, bezeichnet das politische Engagement als Kern von Levis malerischer Tätigkeit.
In der Auseinandersetzung zwischen den gegenständlichen und den ungegenständlichen Malern, die in Italien nach dem Kriege mit Leidenschaft ausgetragen wurde, polemisierte Levi gegen den „astrattism“, dem er Feigheit vor dem Leben vorwarf. „Abstrakt“ war für ihn der Ausdruck einer Schizophrenie der Moderne, nämlich des Auseinandertretens von Denken und Alltagswirklichkeit – einer Entfremdung. „In jenen Jahren,“ sagt Pia Vivarelli, „entschieden sich politisch engagierte Autoren natürlich für eine realistische Malerei. Das bedeutete auch die Entscheidung für Inhalte sozialer Art.“
Die Wiedererkennbarkeit, die natürliche, leicht nachvollziehbare Beziehung zwischen Kunst und sichtbarer Wirklichkeit, ist von je her die Basis politischer Kunst gewesen, die sich nicht an Eliten, sondern an alle richtet – wie einst für die mittelalterlichen Analphabeten die Darstellungen des Jüngsten Gerichts im Dom. Politisch sei Levis Malerei, sagt Vivarelli, „weil er sie nicht als Flucht, nicht als Augenschmaus verstanden hat, sondern immer als Werkzeug, um die äußere Realität bewusst zu machen.“
“Bewusst machen?“ Dazu erzählt Levi, dass, als er am Ort seiner Verbannung, von einem Haufen Kinder umgeben, einmal ein Bild malte, ein Bauer gekommen sei, das Bild genommen, es zu seinem Haus getragen und es draußen an die Hausmauer gehängt habe. „Sie erkannten auf dem Bild den nackten Hügel im Hintergrund, auf dem sie ein Leben lang gehackt hatten. Diese Orte hatten nun endlich einen Namen, eine existentielle Sicherheit, eine Form: sie waren zum ersten Mal real. In ihren Mienen stand das seltene Glück der Entdeckung, sowohl von sich selber wie von der Welt.“ So geschehen im Jahre 1935.
Der politische Künstler ist hier weder Aufklärer noch Agitator, aber er öffnet den in Selbstverständlichkeiten des Alltags ganz versunkenen Menschen die Augen. Er schafft ihnen die Möglichkeit, die Wirklichkeit neu und anders zu sehen. Realismus ist für Levi ausdrücklich keine Widerspiegelung des Gegebenen, sondern ganz im Gegenteil das Herausarbeiten einer noch ungeäußerten, verborgenen Realität, ein Ausdruck des Entstehenden. Sein Stil zeichnet sich durch flüssige Formen aus, als entsprächen sie einem bewegten, magmaartigen, vorzeitlichen Chaos. Ein Rezensent sprach vom „Brodeln des Werdens“.
Levi hat viele berühmte Leute porträtiert, darunter Leone Ginzburg, Anna Magnani, Italo Calvino, Frank Lloyd Wright, Pablo Neruda, der ihn eine Eule nannte, weil er bis in die Dämmerung weiter zu malen pflegte, wobei er – die „toscano“ zwischen den Zähnen – die Modelle in lange Gespräche verwickelte, die sie aus dem Status eine Objekts erlösten und den Porträts große Lebendigkeit verleihen.
Oft gleichen die mit breitem Pinsel und starken Farben gemalten Gesichter Landschaften – das andere große Thema des Malers, der in den 30er Jahren in Paris zwischen den Künstlern vom Montparnasse gelebt hatte.
In seinem Atelier in Rom wimmelte es in den 50er Jahren von Besuchern aus Lukanien, zwischen den Malmitteln sah man Öl, Wein und Käse. Seit seiner Verbannung trat Levi in Reportagen, als Kolumnist der Stampa und Parlamentarier für „seine“ armen Bauern ein, die ihn in Aliano als Wohltäter verehren. Levi erhoffte sich eine Erneuerung der Gesellschaft durch eine Bauernerhebung – als Fortsetzung der Resistenza, in der sich Intelligenz und Bauern näher gekommen waren.
Anhänger Rousseaus
Alberto Moravia hat Pasolini, weil er an das Gute sogar der kriminellen Subproletarier glaubte, als Anhänger Rousseaus bezeichnet. Gilt das auch für seinen von der Unverderbtheit der Bauern überzeugten Freund Levi? Zuletzt malte er Bäume: „Ich bin so veranlagt, dass ich alles Loslösen schmerzlich empfinde,“ schrieb er.
Die durch die sozialen Verhältnisse erzwungene Entwurzelung der armen Bauern und ihre Emigration prangerte Levi als das größte denkbare Unrecht an. Was immer man im Zeitalter der Globalisierung von seiner Position halten mag, Levis Ausspruch „Lukanien ist überall“ mit Bezug auf die so genannte Dritte Welt bleibt bedenkenswert.
Das Jüdische Museum in Frankfurt wird dem Maler voraussichtlich im Januar nächsten Jahres die erste größere Ausstellung in Deutschland ausrichten.