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Hochsitz_Oberelz_2001-04-27
Das Provisorische, verstanden als das Behelfsmäßige und Vorläufige, steht im Gegensatz zu dem Perfekten, Fertigen, Endgültigen und Vollkommenen. Provisorische Konstruktionen entstehen meist in Situationen des Mangels und der Not.
Als junger Mann schlief ich jahrelang auf einem Bett, dessen viertes Bein aus einem Stapel dicker Lexika bestand. Ein Sektkorken ersetzt mir den abgebrochenen Knopf auf einem Topfdeckel.
Gab es das Streben nach Vervollkommnung zu allen Zeiten, so entsteht der Anspruch auf Perfektion mit der industriemäßigen Produktion unter den Bedingungen der Konkurrenz für jegliche Ware, die auf den Markt kommt. Mit der Erhöhung des Gebrauchswerts einer Ware steigt gewöhnlich ihr Tauschwert. Perfektion ist jetzt weniger Ausdruck des handwerklichen Berufsethos als notwendige Verkaufsbedingung für die Massenware. Das Streben nach Perfektion schließt den Wunsch nach Stabilität und Dauerhaftigkeit ein. Das Provisorische dagegen ist nicht auf Dauer angelegt.
Das Provisorische entsteht in einer konkreten Situation. Provisorische Konstruktionen werden mit den Materialien gebaut, die gerade zur Hand sind. Diese sind für den situationsbedingten Zweck nicht produziert worden und darum nur ausnahmsweise geeignet – man sagt, sie sind „zweckentfremdet“. Der Nylonstrumpf einer Dame kann – wie in einer witzigen Reklame für eine berühmte französische Zigarettenmarke – durchaus einmal den zerrissenen Keilriemen eines Autos ersetzen, doch lange hält diese Problemlösung nicht. In besagter Reklame war das liegengebliebene Auto der Dame ein teurer Sportwagen, der Wagen des Helfers ein Citroen 2CV, dessen Charme darin bestand, dass es anders war als alle anderen Autos. Der 2 CV war als Gefährt ein Nicht-Auto. Alles war auch von Laien reparierbar, die Scheibenwischer konnte man auch von Hand bedienen und das Gaspedal konnte man mitnehmen, sodass ein Dieb den 2CV schwer fortbewegen konnte. Während man den 2CV oft mit einem Draht oder Klebeband reparieren konnte, gibt es heute für das kleinste Teil der modernen Wagen ein Ersatzteil. Der Wagen kann nur noch mit Ersatzteilen und Spezialisten instandgehalten werden. Provisorische Konstruktionen sind nicht in dem Sinne verallgemeinerbar, dass sie auch anderswo in ähnlichen Situationen zweckmäßig sind. Sie sind eher nicht standardisier-bar. Provisorien sind nicht für den Markt gemacht und insofern nicht in die kapitalistische Produktion integrierbar. Sie werden nicht zur Ware. Sie bleiben Ausnahmen. Provisorien werden nicht industriell in Serie hergestellt, sondern von Individuen in spezifischen Situationen. Die Wirksamkeit der Provisorien hängt von der Kreativität dieser Individuen ab. Im Unterschied zu standardisierten Waren, die maschinell gefertigt werden, womit die Produktion von der individuellen Erfindungsgabe unabhängig wird, bleiben Provisorien individuell gebunden, d.h. sie sind nicht objektivierbar. Sie bleiben subjektiv. (Insofern war der 2CV kein Provisorium, aber er sah so aus.) Der Charme der Provisorien besteht gegenüber einer auf Perfektion gerichteten Herstellung in der Vorläufigkeit und damit in der Offenheit für Verbesserung/Veränderung sowie in der situationsabhängigen Besonderheit und Subjektivität. Reizvoll ist auch das Prekäre: Provisorien sind meist nicht stabil und können leicht auseinanderfallen. Das verleiht ihnen die Aura der Einmaligkeit, die auch den Originalen in der Kunst eigen ist. Der Reiz des Prekären entsteht vor dem Hintergrund zweier entgegengesetzter Vorstellungen von Kostbarkeit. Kostbar ist der Diamant, weil er ewig hält, kostbar ist aber auch die Rose, weil sie bald verwelkt. Als kostbar gilt zum einen, was über das menschliche Leben hinausgeht, zum anderen der vergängliche Augenblick. Provisorien sind vergänglich. Verglichen mit dem Anspruch auf Perfektion wirken Provisorien bescheiden. Bescheidenheit ist in einer Gesellschaft, in der das Auftrumpfen und Übertreiben zum Lebensstil gehört, da alles und jedes überall und jederzeit zum Verkauf angepriesen wird, eine abweichende, seltene und darum letztlich auffällige Eigenschaft. Dass sich Provisorien in einer durch und durch kommerzialisierten Gesellschaft der Kommerzialisierung entziehen, macht sie zu etwas Besonderem. Provisorien fallen auf, weil sie anders sind. Das Andere wird oft als komisch empfunden. In der Unangepasstheit des Provisorischen schätzt man das Authentische und darin den Hauch von Freiheit, die darin besteht, nicht den Normen zu entsprechen. Auf die gesellschaftliche Erfahrung, die sich im Laufe der Zeit zur Normalität/Standardisierung verdichtet hat, greift das Provisorische nicht zurück. Es ist im Wortsinne abartig. Ein Provisorium ist nicht die beste Problemlösung, die schließlich standardisiert wird, weil sie sich tausendfach bewährt hat. Das gesammelte gesellschaftliche Wissen wird im Provisorischen nicht angewendet, entweder weil es nicht zur Verfügung steht, insofern die Qualifikation nicht vorhanden ist, oder weil in einer Mangelsituation die Materialien und Werkzeuge fehlen. Einerseits also ist das Provisorische defizitär und hat alle Zeichen des Mangels und der Nichtprofessionalität an sich, andererseits strotzt es vor Subjektivität und ist als Herstellung eines Unikats originell, gerade weil das professionelle handwerkliche Wissen (die Qualifikation) nicht vorhanden ist. Das Fehlerhafte wird zu einer Qualität. Die Problemlösung, um die es sich beim Improvisieren ja handelt, basiert nicht auf dem gesellschaftlichen Wissen, sondern ist auf Einfälle angewiesen. Steht man mittellos vor einem Problem, muss man sich etwas einfallen lassen, d.h. man muss ein Mittel erfinden. Die Problemlösung ist neu und tendenziell einzigartig. Das Provisorische ist unangepasst und abseitig. Die Radikalität, die in der Erfindung und Anwendung neuer Mittel steckt und die Einmaligkeit bringen das Provisorische in die Nähe zur avancierten Kunst. Aber nicht jedes Provisorium erreicht eine ästhetische Qualität. Seit Duchamps das readymade in die Kunst einführte, benutzen Künstler in ihren Arbeiten vorgefundene Gegenstände und Materialien, die im Alltag in anderen Zusammenhängen verwendet worden sind. Heute gibt es in der Kunst den trend, Schrott und Müll wieder zu verwerten. Dabei entwickelt das Weggeworfene eine eigene Ästhetik, eben weil es in der westlichen Überflussgesellschaft, in der zunehmend der Preis als Indikator von Qualität gilt, das Ausgestoßene, Billige und Povere symbolisiert, das sich den gesellschaftlichen Bewertungskriterien entzieht oder ihnen sogar entgegensteht. Das Provisorium kann so als Opposition erscheinen. Die New Yorker Installationskünstlerin Phoebe Washburn fährt regelmäßig mit einem Pick-up im südlichen Manhattan herum, und sammelt für ihre riesigen Installationen Bretter, Kisten. Pappen und was sich sonst an den Straßenrändern stapelt. Die Installationen des Schweizer Künstlers Thomas Hirschhorn bestehen aus Unmengen weggeworfener Gegenstände, Stühle, Flaschen, Mobiltelefone usw, die er mit braunem Klebeband zusammenfasst und am Fußboden festklebt. Die eigentümliche Ästhetik des Provisorischen ergibt sich nicht nur aus dem poveren Material, sondern auch durch die lässige Art, in der die Teile miteinander verbunden sind. Alle Materialien sind gebraucht. Die Neuheit einer provisorischen Problemlösung besteht in der Erfindung, nicht in der Beschaffenheit des Materials. Wie in der Kunst ist das Wie, die Methode, das entscheidende Qualitätskriterium. Der Frankfurter Künstler Michael Reiter nagelt, schraubt oder schweißt seine Arbeiten nicht zusammen, sondern umwickelt die Teile mit Draht, dessen Enden in die Luft stehen und so die Vorstellung evozieren, man könne das Ganze mit ein paar Handgriffen wieder auseinander nehmen. Der Japaner Tadashi Kawamata baut schüttere Architekturen aus Dachlatten und Pappe. Material und Machart solcher Arbeiten stehen in bewusstem Gegensatz zum Perfektionismus.
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Als Beispiele für provisorische Problemlösungen, die in einer Notsituation gefunden werden, sollen hier Giacomo Casanova und Robinson Crusoe dienen, der eine saß im Gefängnis, der andere war auf einer menschenleeren Insel gestrandet.
Giacomo Casanovas Flucht aus den Bleikammern des Dogenpalastes in Venedig, die der berühmte Abenteurer noch vor seinen Lebenserinnerungen veröffentlicht hat, die ich die Ehre hatte, im Ullstein Verlag als Taschenbuch heraus zu gegeben, enthält eine Anzahl beeindruckender Beispiele für die Findigkeit, die einem gebildeten und praktisch wie sozial geschickten Menschen in einer Not- und Mangelsituation zuwachsen.
Casanova war bekanntlich ohne Anklage und Gerichtsverhandlung verhaftet und in die berüchtigten Bleikammern des Dogenpalastes gebracht worden, wo er zwischen „hasengroßen Ratten“ in einer winzigen, sommers glühheißen und winters eiskalten Zelle dahinvegetierte, die so niedrig war, dass er sich nicht einmal aufrichten konnte. Als er nicht mehr hoffte, wenigstens die Gründe für seine Verhaftung zu erfahren, setzte er alles daran zu entfliehen. Nie ist zuvor oder danach einem Häftling das Entkommen gelungen. Die Gefängnisse im Dogenpalast, wozu außer den „piombi“ unter dem Dach auch die vom Wasser des Kanals immer wieder überfluteten „pozzi“ gehörten, waren im 18. Jahrhundert die sichersten Europas. Casanovas spektakuläre Flucht machte ihn in ganz Europa berühmt. In alle Salons wurde er eingeladen, seine Geschichte detailliert zu erzählen. Sein Bericht hatte großen Anteil daran, dass der Sohn einer Schauspielerfamilie ohne sozialen Status Zutritt zur höheren Gesellschaft fand. Da er im Gefängnis selbstverständlich keinerlei Werkzeug zur Verfügung hatte, musste er improvisieren. Zuerst baute er sich eine Öllampe aus dem Tontöpfchen, in dem er sein Essen bekam, aus Salatöl und einem Docht, den er sich aus der Baumwolle der Bettdecke drehte. Zum Anzünden der Lampe ließ er sich unter dem Vorwand, angeblich Zahnschmerzen lindern zu wollen, einen Feuerstein bringen (der nach dem Aberglauben in Essig getunkt auf den Zahn gedrückt wird), den er an seiner metallenen Gürtelschnalle reiben konnte. Anstatt der notwendigen Streichhölzer ließ er sich Schwefelpulver bringen, das er unter dem Vorwand, einen Juckreiz bekämpfen zu müssen, angeblich mit Butter zu einer Salbe vermengen wollte. An den Zunder gelangte er, indem er seinen Taftrock auftrennte, in welchen der Schneider unter den Achseln gegen Schweißflecken Zunderschwamm eingenäht hatte. Er gedachte, durch den Fußboden zu entweichen, den er durchbohren musste. Während seine Zelle gefegt wurde, fand er auf einem Rundgang durch den Speicher „ein gerades, daumendickes Stück Eisen, einen Stab, der über anderthalb Fuß lang war“. Und außerdem fand er „ein Stück polierten schwarzen Marmor“, das ihm als Schleifstein diente. Nur mit Hilfe seines Speichels schliff er sich in 14 Tagen ein achteckiges Stilett zu, das er in der Polsterung seines Sessels versteckte. Mit diesem spitzen Eisenstab, den er, wenn nötig, auch als Waffe zu benutzen, nicht gezögert hätte, begann er unter seinem Bett die Bretter zu durchbohren. Als er nicht weiterkam, weil er auf harten Marmorterrazzo stieß, weichte er diesen mit Salatessig auf. Das Loch wird allerdings von Lorenzo, dem Wärter, entdeckt, der Casanova in eine andere Zelle verlegen will. Als der wütende Wärter die Herausgabe des Werkzeugs verlangt, droht Casanova, er werde dem Inquisitor sagen, dass er das Werkzeug nur von ihm selber bekommen haben könne. Den Eisenstab wird Casanova später als Brechstange benutzen, mit der er Schlösser und Türen aufbricht. Da ihm auch der Besitz einer Schreibfeder verboten war, ließ er sich einen Fingernagel der rechten Hand lang wachsen. Als Tinte verwandte er Brombeersaft. Bei der Öllampe, dem Eisenstab und dem langen Fingernagel handelt es sich um erfundene Werkzeuge, die man als Provisorien betrachten kann. Solch praktische Problemlösungen sind durchaus nicht immer spektakulär und auch nicht in eigentümlicher Weise ästhetisch wie z.B. die von den Bauern willkürlich zusammengebauten Hochsitze in den deutschen Wäldern. (Weil mich das Provisorische, also Nichtstandardisierte, Subjektive daran so fasziniert hat, habe ich vor Jahren bei OHIO ein kleines Fotobuch gemacht, auf dem die unterschiedlichsten Hochsitze zu sehen sind.) Auch die Hütten, die sich die Arbeiter früher in den Schrebergärten aus alten Türen, Autoreifen, Brettern, Eisenbahnschwellen zusammenbauten, zeugen von großem Improvisationstalent. Heute sind diese Häuschen längst standardisiert.
Entscheidend ist, dass es sich bei einem Provisorium um eine praktische Erfindung handelt, die funktioniert. Denn das, was uns in einer durch und durch standardisierten Industriegesellschaft abhanden kommt, ist die Erfindungsgabe, die Kreativität, die oft eine in der Armut oder Not entwickelte, auf praktischen Erfahrungen basierende Eigenschaft ist. (Als erfindungsreich stellten sich in den Schützengräben der beiden Weltkriege immer wieder die Bauern heraus, die nie genug Geld besessen hatten, um einen Handwerker zu bezahlen. Sie mussten auf dem Hof alles selber machen.) Provisorien findet man bei uns darum meist nur noch hier und da auf dem Land, in Slums oder Schrebergärten, wo Rentner, meist ehemalige Arbeiter, den Ehrgeiz hatten, ihre Gartenhäuschen mit nutzlos Gewordenem und Weggeworfenem zu errichten und auszustaffieren. Die merkwürdigen Behausungen der Kleingärtner, sind oder waren aus Sperrmüll und übrig gebliebenem oder überflüssig gewordenen Materialien erbaut, beispielsweise mit alten Reifen, alten Türen usw. Armut und Sparsamkeit gehören auch hier zu den Bedingungen der Improvisation. Leider führen die regiden Ordnungsvorschriften in den Schrebergärten dazu, die individualistisch und originell errichteten Behausungen durch standardisierte, eben ordentliche Baracken zu ersetzen.
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Unter den Soldaten, die im 1. Weltkrieg in Frankreich in den Schützengräben lagen, waren die Bauern, habe ich gelesen, diejenigen, die die praktischen Probleme am ehesten lösen konnten. Denn zuhause hatten sie nie so viel Geld besessen, um einen Schreiner, Spengler oder Dachdecker zu bezahlen. Sie mussten alle Reparaturen selbst erledigen. Da sie keine Fachleute waren, mussten sie improvisieren. Die Not hielt ihre erfinderischen Kräfte wach.
Demgegenüber verkümmern die kreativen Fähigkeiten, wenn in der sogenannten Überflussgesellschaft alle Mittel zur Bewältigung eines Problems vorhanden sind. Kaufbar sind nicht nur die kleinsten und spezialisiertesten Gegenstände, sondern angeboten werden auch die von einer Unzahl von Ratgebern herausgegebenen Gebrauchsanweisungen. Die Experten sind es, die das verlorene, weil überflüssig gewordene Wissen besitzen. Sie wissen, wie man eine Beleuchtung repariert, einen Garten zum Blühen bringt oder Liebe macht. Ohne dieses Expertenwissen ist der Laie heutzutage rat- und hilflos. Während der Mensch, der improvisiert, über ein altmodisches, technisches und soziales Allgemeinwissen (z.B. Wadenwickel gegen hohes Fieber) verfügt und getrost auf seine eigenen kreativen Fähigkeiten vertraut, die ihn in einer riskanten Mangelsituation relativ unabhängig machen, gerät der Konsument, der nur noch sicher weiß und nur noch sicher kann, was rein beruflich notwendig ist, in Angst – die sichere Basis für jede Manipulierbarkeit.
Indessen gibt es auch eine gegenläufige Tendenz: da berufliche Qualifikationen durch den technischen Fortschritt in einer dynamischen Gesellschaft schneller verfallen als früher, muss, wer mit dem Verkauf seiner Arbeitskraft überleben will, flexibel sein: das heißt, er arbeitet mal in diesem, mal in jenem Job. In vielen unterschiedlichen Arbeitssituationen erfahren, hat er Fähigkeiten und Umsicht erworben, ein neues Allgemeinwissen, das das Improvisieren in Mangelsituationen erleichtert.
Auch Robinson Crusoe, den es als Schiffbrüchigen auf eine einsame Insel verschlagen hat, muss all seinen Verstand zusammen nehmen, um Werkzeuge und Vorrichtungen zu erfinden.
Da er keinen Anker hat, steckt er das Ruder in den Sand, um daran sein Floß zu befestigen, auf dem er alle möglichen Gegenstände aus dem Schiffswrack birgt und auf die Insel schafft.
Da er weder Papier, noch Feder noch Tinte hat, um die Tage zu zählen, schneidet er täglich eine Kerbe in einen Pfahl. Anstelle einer Spitzhacke benutzt er eine eiserne Brechstange. Um sich eine Höhle zu graben, braucht er einen Spaten. Das Blatt schneidet er aus einem Klotz des „Eisenbaums“, der ein besonders hartes Holz hat. Zum Fortschaffen der ausgehobenen Erde, wozu er eine Schubkarre gebraucht hätte, flicht er sich aus Reisern einen Korb, den er über den Boden schleift. Einen schweren Ast benutzt er als Egge, um die Erde aufzukratzen. Geschirr stellt er sich her, indem er kleine Kuchen aus Erde formt und sie in der heißen Sonne brennt. Schließlich baut er sich einen Ofen und brennt die Töpfe. Eine Glasur entsteht durch den geschmolzenen Sand, Siebe stellt er sich aus alten Halstüchern her. Aus Fellen fertigt er sich eine Mütze, einen Anzug und einen Schirm gegen die Tropensonne und den Regen. Obwohl es sich bei seinen Werkzeugen und Vorrichtungen um Provisorien handelt, ist doch keine seiner Erfindungen originell. Er baut lediglich das gesellschaftlich Vorhandene kenntnisreich, aber mit unzulänglichen Mitteln nach, während Casanova doch einige Neuheiten erfindet.
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Perfektion wird nicht nur bei Waren, sondern auch von Menschen erwartet. Man spricht von „vollkommener Schönheit“, „perfekter Familie“ usw. Insbesondere von den Frauen wird Perfektion verlangt: die perfekte Hausfrau, die perfekte Köchin, die perfekte Geliebte, die perfekte Dame usw. Angewandt wird allerdings hier das Kriterium des Funktionierens, das man sonst an Maschinen anlegt. Verglichen mit Maschinen sind Menschen schwach und fehlerhaft. So wohnt der Perfektion eine Erbarmungslosigkeit inne, die als Haltung gegenüber Menschen unangemessen ist. Nur bei Oldtimern nimmt man auch Fehler in Kauf. Würde man nun umgekehrt den Begriff des Provisorischen auf menschliche Verhältnisse ausdehnen, hätte man es mit Beziehungen zu tun, die, weil nicht dem Standard entsprechend, anders sind. Das Verhalten und Handeln etwa in einer provisorischen Familie wäre situationsabhängig, d.h. nicht stabil und verallgemeinerbar und insofern unzuverlässig, nicht kalkulierbar. Wenn man unter „Charakter“ die Grundeigenschaften versteht, die einen Menschen für andere berechenbar und damit auch sozial integrierbar machen, sind Menschen, auf die das Provisorische passt, nicht sozial, sondern unangepasst, anders. Derartige provisorische Gemeinschaften finden sich beispielsweise in den Weiten der USA.
Provisorische Lösungen sind nicht vollkommen, weil nicht stabil, sind hinfällig und unzuverlässig, also tendenziell fehlerhaft. Darin haben sie etwas Menschliches. In perfekten Lösungen dagegen ist das Wissen der Menschheit aufgehoben, sie sind tendenziell stabil und können verallgemeinert werden. Perfekte Lösungen werden in unserer Gesellschaft zu Waren, Provisorien nicht.
Den Charme des Unvollkommenen, Humanen, bewahren die Keramiken Japans. Sie sind absichtlich nicht präzis geometrisch, von grober, unauffälliger, erdfarbener Oberfläche und sehen gebraucht und fehlerhaft aus, Eigenschaften, die unter Wabi Sabi zusammengefasst werden. Diese Keramiken waren vor Jahrhunderten vom japanischen Keramikern gegen den Perfektionismus des chinesischen Porzellans entwickelt worden. Bei gebildeten Traditionalisten findet man die kulturelle Einstellung des Wabi Sabi in Japan noch heute.