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Published in: Süddeutsche Zeitung
Von absichtsvollen Nachlässigkeiten, groben Unhöflichkeiten und anderen Formen der sozialen Ausschließung
Guten Morgen, Herr Müller.“ Doch der Kollege erwidert den Gruß nicht. Warum? Hat er mich nicht gesehen? Vielleicht ist er in Gedanken. So etwas beunruhigt einen Menschen, der den Gruß nicht erhält, den er erwartet. „Guten Morgen, Herr Müller!“ Auch am nächsten Tag bekommt man keine Antwort. Es kann sich, muss man nun glauben, nicht um eine zufällige Unaufmerksamkeit handeln, sondern um böse Absicht. Was habe ich Müller getan, denkt man, dass er mich schneidet? Und beginnt, nach einer eigenen Schuld zu suchen. „Guten Morgen, Herr Meier!“ Keine Antwort. Nun nimmt man an, dass Müller und Meier sich zu dieser Tat verabredet haben. Und wenn auch Frau Keller den Morgengruß verweigert, fühlt man den Beginn einer Einkreisung. Ein Komplott. Da wendet man sich an eine Kollegin, der man vertraut. Doch wenn man bei dieser eine gewisse Reserviertheit zu bemerken meint, beginnt man, das Furchtbarste zu fühlen, das Menschen passieren kann: die soziale Ausschließung, ein Niemand zu werden.
Ein andere Szene: Ein Mann geht den Bürgersteig entlang. Ihm kommt eine Reihe hoch gewachsener junger Leute entgegen, die sich angelegentlich miteinander unterhalten. Da sie die ganze Breite des Gehsteigs einnehmen, werden sie den Mann beiseite drängen oder, so scheint es, ihn womöglich gar umrennen. Er kennt das „Ooohps!“, das sie dann sagen. Doch im letzten Moment vermeidet einer der vier jungen Leute den Zusammenstoß, indem er knapp beiseite tritt, ohne die Unterhaltung zu unterbrechen. Sie reden über seinen Kopf hinweg. Zu Recht vermutet der Mann, dass er für sie bloß ein Hindernis ist, um das man herumgehen muss, mehr noch: ein bloßer Gegenstand, denn sie unterbrechen nicht einmal ihre Rede, wie man es sonst tut, wenn ein Fremder dazwischenkommt. Der Mann ist zuerst empört und schließlich deprimiert. Schlechte Erziehung, denkt er und beschließt, solchen Situationen demnächst aus dem Wege zu gehen. Er würde dann vielleicht lieber stehen bleiben und ein Schaufenster betrachten, bis sie vorüber sind. Die andere Möglichkeit, wäre auf die Straße auszuweichen – „in den Rinnstein“, denkt er bitter. Er erinnert sich der Erzählungen seines Urgroßvaters,˘ dass zur Zeit des wilhelminischen Kaiserreiches ein Zivilist einem Offizier ganz selbstverständlich auszuweichen hatte. Und er weiß auch, was es im Deutschen heißt, „in der Gosse zu landen“ oder „aus der Gosse zu kommen“.
Die Fälle mögen harmlos klingen. Doch beide erläutern Verhaltensweisen, die zum Umkreis des Mobbing gehören, eines Komplexes von oft raffinierten Ausgrenzungsstrategien. Im ersten Beispiel handelt es sich um eine absichtsvolle Handlung, im zweitenumeine unabsichtliche, bereits gewohnheitsmäßige Rücksichtslosigkeit.
Die zweite, harmloser erscheinende Handlung ist – objektiv betrachtet – die schlimmere, denn die jungen Leute nehmen den ihnen auf dem Gehsteig Entgegenkommenden als Menschen und damit als ihresgleichen gar nicht wahr. Er könnte ebenso gut eine Mülltonne sein. Das ist etwa so, wie wenn ein Käfer über ein beliebiges anderes Tier einfach hinwegläuft, mit dem es weder durch Fress- noch Fluchttriebe verbunden ist. Beide Lebewesen gehören verschiedenen Systemen an, die miteinander direkt nichts zu tun haben. Tatsächlich ist besonders in der Großstadt eine Tendenz zu beobachten, nach der die Mitglieder des einen sozialen Milieus die eines anderen ignorieren, weil die anderen für sie vollständig uninteressant sind. Während zum Beispiel ein Bettler eine höhere soziale Kompetenz besitzt, insofern er sich für jeden Passanten interessiert, weil er von ihm eine Gabe erwartet, können Cliquenmenschen mit niemandem etwas anfangen, der nicht zu ihnen gehört. Es entsteht so eine gewohnheitsmäßige, selbstverständliche Rücksichtslosigkeit, die allerdings in absichtsvolle Verletzung umschlagen kann, wenn sich die Clique herausgefordert glaubt. Im ersten Beispiel wird die Verweigerung des Grußes als verletzend empfunden, weil man annehmen muss, die anderen schöben einem tückisch eine Schuld zu.Man will den Vorfall nicht auf sich beruhen zu lassen, will nachfragen, aufklären. Im zweiten Fall aber hat man nicht einmal die Chance, sich zu wehren. Man weiß, man stieße auf Unverständnis. In beiden Beispielen ist der eine für den anderen Luft, in beiden Fällen wird dem anderen im Grunde abgesprochen, ein Mensch zu sein. Er gehört nicht mehr zur Gesellschaft. Er wird willentlich oder unwillentlich geächtet. Dies ist, genau betrachtet, härter, als würde man mit den übelsten Schimpfworten überschüttet, die doch immerhin beweisen, dass man nicht gleichgültig, sondern wenigstens ein Gegner oder Feind ist und für voll genommen wird.
Die Verweigerung des Gutenmorgengrußes bedeutet den Beginn einer Ächtung. Wie schwer diese Weigerung wiegt wird klar,˘ wenn man die Behauptung der antiken griechischen Philosophie, der Mensch sei ein zoon politicon, also ein soziales Lebewesen, auch in trivialen Alltagssituationen ernst nimmt. Sozial ist der Mensch ja nicht erst durch die Sozialisation, sondern bereits biologisch. Das nackte und darum schutzbedürftige Menschenkind wächst langsamer als alle anderen jungen Lebewesen und ist daher länger abhängig.
So sehr Menschen sich später als selbstständige Individuen fühlen und sich gern der Illusion hingeben, ganz unabhängig zu sein, sie täuschen sich schwer: Denn ihre Individualität oder was sie dafür halten können sie im Allgemeinen erst auf Grund der Leistung einer gesellschaftlich nützlichen Arbeit sowie der Vorleistungen anderer ausgestalten; sozialen Vorleistungen, wie sie sich in der Infrastruktur einer Stadt materialisieren: dem Dach über dem Kopf, Heizung, Wasser, Straßen, Telefon . . . Auch Aussteiger, die sich in wüsten Landstrichen endlich allein und frei dünken, mobilisieren im Falle der Not einen Rettungsdienst mit dem Handy. Sie bleiben grundsätzlich mit der Gesellschaft verbunden. Auf diese sozialen Vorleistungen – das, was unsere Vorfahren geschaffen haben – kann man natürlich nicht stolz sein, aber dankbar dafür schon. Die Tatsache, zur Reproduktion des eigenen Lebens grundlegend voneinander abhängig zu sein, zwingt die Menschen, zusammen zu leben und sich Regeln zu geben, wie sie in Gemeinschaft leben wollen. Über die Anerkennung der fundamentalen Regeln – wie des Grundgesetzes – und über die arbeitsteilige Warenwirtschaft sind alle miteinander verbunden. Vermittels der durch Erziehung tradierten Regeln anerkennen sie einander als zusammengehörig. Wer die Regeln bricht, handelt darum unsozial. Jeder gehört in allgemeiner Weise „dazu“. Aber diese soziale Zugehörigkeit muss immer wieder bestätigt werden.
Dies geschieht, indem wir Dinge tun und sagen, die konkret – in den Umgangsformen – zum Ausdruck bringen: Wir wollen dazu gehören und wünschen, dass die anderen dieses Bedürfnis akzeptieren. So wie gesellig lebende Tiere einander immer wieder betasten, haben auch wir Menschen Rituale herausgebildet. Wir wünschen dem Nachbarn auf der Treppe einen guten Morgen. Und der Nachbar ist gehalten, diesen Gruß zu erwidern. Wir machen einem anderen auf der Straße Platz. Wir alle streben nach sozialer Anerkennung unseres Daseins und nach der Erhaltung dieser Anerkennung. Schon die Verweigerung des allmorgendlichen Grußes gegenüber einer Person, die man kennt, ist deshalbtatsächlich der Versuch, sie aus der Gemeinschaft auszustoßen. Und dies ist für ein zoon politicon der Anfang vom Ende. Die absichtsvolle oder gewohnheitsmäßige Gleichgültigkeit ist kein Kavaliersdelikt. Denn ihr Ziel – oder ihre Folge – ist der soziale Tod.