(Ottmar Hörl) BH oder Bibel

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Published in: Süddeutsche Zeitung


 

Der Künstler Ottmar Hörl lässt fotografieren, was wichtig ist

Was ist wirklich wichtig im Leben: der Familientisch, die Eheringe, das Telefon, Bücher, die Duschkabine, das Vogelhäuschen, das Kinderbett, Dessous, die Bibel? 1 400 Motive haben die Einwohner des Städtchens Götzenhain bei Frankfurt am Main für den Künstler Ottmar Hörl fotografiert. Vor einiger Zeit hater jeder Familie eine gesponserte Kamera in die Hände gedrückt mit dem Auftrag, das zu knipsen, was ihr im Leben unverzichtbar erscheint – nur Menschen sollten nicht abgelichtet werden.
Ottmar Hörl? Das ist der mit den 4000 Gartenzwergen im letzten Jahr vor der Münchener Oper. Ein paar von den Zwergen machten den „Effenberger“, man erinnert sich. Im Projekt „Ich sehe was, was du nicht siehst“ hat sich Hörl des hintergründigen Witzes enthalten, der sonst viele seiner Arbeiten bei den Medien beliebt gemacht hat. Diesmal war die Sache ernst, und die inszenierten, um Verständlichkeit bemühten Fotos sind es mit wenigen Ausnahmen auch.

Die Kunst der Mülltonne
Hörl orientiert sich an der industriellen Massenproduktion und stellt ausschließlich Multiples her, indem er vorgefertigte Objekte – Papierkörbe, Mülltonnen, Besen, Drainageschläuche, Gartenzwerge –wie einst Marcel Duchamp in ihrer simplen Faktizität ausstellt, höchstens farbig verändert. Dass er damit die Position des Künstlers so weit wie möglich zurück nimmt, kreiden ihm manche als Verkaufsmasche an. Die Fotos, welche die Leute von Götzenhain gemacht haben, sind für ihn Halbfabrikate, die er zu einer raumfüllenden Collage montiert hat. Hörl versteht sich als Bildhauer – sein Raumbegriff ist weit: die „soziale Plastik“, die laut Joseph Beuys gesellschaftliche Dimensionen einbezieht, umfasst hier einen ganzen Ort.
Öffentlichkeit war schon immer wichtig in den Arbeiten Hörls. Die vielen Gespräche, die er vom Angelsportverein bis zum Geflügelzuchtverein geführt hat, um die Bürger zu gewinnen, sind ebenso Treibsatz des Projekts wie die familiären Auseinandersetzungen um die Entscheidung für ein einziges Lieblingsobjekt. Sie gehören – ähnlich wie die Bundestagsdebatte um Christos Verhüllung des Reichstages – zum Kunstganzen. Der Künstler als Sozialforscher, der etwas erfahren will, was bisher noch niemand weiß.
Das Ergebnis versteht Hörl als ein Sittenbild in der Tradition der niederländischen Stillleben- und Genremalerei. Im Stillleben des 17. Jahrhunderts stehen erstmals Dinge an Stelle von Personen. Damals gaben sie Auskunft über Stand und Reichtum, heute künden sie immer noch von Schicht und Selbstverständnis, aber auch von Wünschen und verborgenen Erfahrungen.
Die abgelegene Gartenbank und das ruhige Klo: Die Motive zeigen überwiegend ein Bedürfnis nach Zurückgezogenheit und Sicherheit. Neben der Reduktion künstlerischer Eingriffe auf das Allernotwendigste und dem klugen Umgang mit der Öffentlichkeit finden sich bei Hörls Arbeiten zwei konzeptuelle Besonderheiten: Alle Gegenstände, die Hörl verwendet, haben nach dem Vorbild von Duchamps berühmtem Urinoir auch im Bedeutungsfeld der Kunst noch ihre kunstexterne praktische Bedeutung. Ein Besen verliert durch seine Transformation in Kunst nicht seine Besenhaftigkeit. Gegenstände des Alltags sind in neuen Kontexten ebenso verfremdet wie wieder erkennbar. Die Wiedererkennbarkeit war mit der gegenstandslosen Kunst, die sich von allen Bezügen zur Alltagswelt befreit hatte, verloren gegangen für ein Publikum, dessen hauptsächliches Beurteilungskriterium der Vergleich des Abbilds mit der Realität war. Ottmar Hörl hat den Satz „Ich verstehe nichts von Kunst“ fragwürdig gemacht. Das Publikum wird mit allbekannten Dingen konfrontiert. Die Bürger von Götzenhain diskutierten bei der Vernissage zum zweiten Mal über die Fotos. Wer hat wohl das Foto mit der Unterwäsche gemacht? Wieso ist das das Wichtigste? Der Praxisbezug der Fotos ist hier die öffentliche Selbstreflexion. Die Bibel? DerMercedes? Fraglos hat die allgemeine Diskussion des selben Themas einen integrativen Effekt.Die Fotos repräsentieren die Vielschichtigkeit der Bewohner, die Nicht-Repräsentierbarkeit des Ortes. Sie sind Soziogramm. Hörl ist ein politischer Künstler. Doch zeigt er nicht mit dem Finger auf gesellschaftliche Übel. Er belehrt nicht und klagt nicht an. Er fragt. „Ich verlange von den Menschen genau das, was sie als Menschen auszeichnet: eine Entscheidung zu treffen“, sagt Hörl. Und stürzt damit einen ganzen Ort in eine lebhafte Auseinandersetzung um das Wichtigste im Leben. Mehr kann Kunst selten bewegen. „Wie finden Sie das Ganze?“ „Toll!“, sagt ein Götzenhainer, eine Bratwurst in der Hand. „Das Foto mit dem Hund ist von mir.“