(Saul Steinberg) Kritzeln ist das Grübeln der Hand

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Published in: Süddeutsche Zeitung


 

Der Zeichner als Menschenforscher:
Vor 60 Jahren begann der Cartoonist Saul Steinberg seine Karriere

Zu einem runden Geburtstag kann man Saul Steinberg nicht gratulieren. Er ist jetzt 82. Aber vielleicht paßt es ja sogar, einen Künstler, der die soziale Identität zum zentralen Thema seiner Arbeit macht (und sich für Natur nur als soziales Faktum interessiert), nicht zum Geburtstag, sondern zum Beginn seiner Karriere zu beglückwünschen: 1936, vor sechzig Jahren, erschien im Mailänder Blatt Bertoldo seine erste Karikatur, heute gilt Steinberg als der bedeutendste Cartoonist der Welt.
Anläßlich der ersten Retrospektive im Whitney Museum im Jahre 1978 schreibt der amerikanische Kunstkritiker Harold Rosenberg in einem facettenreichen Essay, Steinberg habe ‘Kernfragen der Kunst’ behandelt. ‘In seinen Händen wurden der Cartoon zu einer wichtigen Kunstform.’ Ähnlich wie Truman Capote die zuvor als Sensationsjournalismus wenig angesehene Reportage zur Literaturform entwickelte, erweiterte Steinberg den auf den schnellen Witz abgerichteten Cartoon zu einem Mittel geistvoller und witziger Reflexion. Seine Zeichnungen haben den Charakter von Aperçus. Rosenberg rangiert Saul Steinberg neben Duchamp, nennt ihn einen Vorläufer der Pop Art, weil er wie diese auf Gemeinplätze reagiert, und vergleicht ihn wegen der Fähigkeit, zugleich mehrere Stile parodierend zu balancieren, auch mit James Joyce. Der Künstler selbst hält sich für eine Art Schriftsteller: ‘Die ununterbrochene Linie meines Zeichnens kommt aus meiner Kindheit und ist vielleicht eine Art zu schreiben aus jener Zeit, als ich noch nicht schreiben konnte.’ Und: ‘Das Kritzeln ist das Grübeln der Hand.’
Die Arbeiten aus den vierziger Jahren zeigen Steinberg vorerst als genau beobachtenden, treffsicheren Cartoonisten, die späteren Arbeiten haben zunehmend den Charakter vielschichtiger Kommentare zur Welt. Der Cartoonist stellt in erstklassigen Galerien (Sidney Janis Gallery in New York, Galerie Maeght in Paris) und Museen (Stedelijk Museum Amsterdam, Kunstmuseum Basel) aus. Wie nur wenige Künstler hat Saul Steinberg einen soziologischen Blick. Viele seiner analytischen, stets sehr ‘kopfigen’ Cartoons kreisen um die Herstellung des sozialen Selbsts, um die Selbstentfremdung in sozialen Rollen. Obwohl vor rund vierzig Jahren entstanden, lassen sich so manche Arbeiten doch auf unsere gegenwärtigen Probleme hin lesen. Etwa ‘Cube’s Dream’: Ein massiver Würfel, durch kräftige Kontur und Schatten als wirklich dargestellt, denkt sich selbst in einer Sprech- oder Gedankenblase als einen feineren, transparenten, an allen Ecken durch Buchstaben präzisierten Würfel. Nichts anderes als einen Würfel kann der Würfel sich denken. Er geht nicht - wie es ja oft im Traum geschieht - über sich hinaus: Ein Vogel oder eine Blume zu sein, liegt außerhalb seiner Vorstellungskraft. Dies scharfkantige, spitzeckige, allem Lebendigen entgegengesetzte stereometrische Paßstück denkt sich nicht anders als durchsichtig und präzise, als kontrollierbar, kalkulierbar und paßgenau. Der Würfel kann hier als Metapher für einen phantasielosen, selbstbezogenen, perfektionistischen Rationalismus stehen. Die selbstgefällige Beschränktheit einer gegen das Soziale und die Natur gleichgültigen Intelligenz läßt sich eleganter kaum ausdrücken. Selbstbezogenheit zum Thema hat auch der Cartoon, in dem ein Mann eine Sprechblase vollquatscht, in deren Mitte er selber steht - leicht erhöht. Vor dem Gebilde, dessen Hermetik durch Rechteckigkeit betont wird, steht ein zweiter, der den Redner hinter dem Wortverhau verständnislos betrachtet. Sprechen, das soziale Mittel, das uns Menschen potentiell auch und gerade dann miteinander verbindet, wenn wir einander fremd sind, wird hier zum Werkzeug des Einschließens und Ausschließens pervertiert. Eine Variation des Themas zeigt einen Redner, der sich nicht nur durch sein eigenes Geschwätz erhöht - er hat sich auf eine Säule geredet -, sondern auf seiner Redewolke gar mannshoch über dem Boden schwebt. Die drei hier - notgedrungen, denn Steinberg ist ungeheuer heikel bei Abdruckrechten - mit Worten beschriebenen Cartoons aus den frühen fünfziger Jahren (1961 in ‘Labyrinth’) lassen sich auf ein auffälliges Phänomen unserer Tage hin lesen: den Realitätsverlust durch zunehmende Ich-Bezogenheit und den Verlust der Kommunikationsfähigkeit. Man könnte in den Akteuren aller drei Zeichnungen ‘Nieten in Nadelstreifen’ sehen: Manager, Politiker, Experten. Daß sich bei zunehmender gesellschaftlicher Pluralisierung Gruppen in Soziolekten verbarrikadieren - von Pseudo-Fachsprachen bis zum Rockjargon -, ist eine absichtsvoll geschürte Tendenz, Insider zu produzieren, zusammenzuschließen und auszunehmen. Ausgrenzung ist die andere Methode: Ein Outsider ist in Steinbergs Cartoon der kleine Mann, der fragend vor dem exklusiven Gerede des Insiders steht. Der kleine Mann wird bald zu den politikverdrossenen, teilnahmslosen Wahlbürgern zählen, die es hierzulande neuerdings, in den USA schon lange, gibt. Eines von Steinbergs großen Themen ist der Schein, das Theatralische, die Kostümierung und Maskierung, die Erfahrung, daß nichts so ist, wie es aussieht. Harold Rosenberg hat diesen Aspekt besonders herausgestellt. Als Immigrant und als Künstler, dazu Künstler in einem Grenzbereich, hat Steinberg einen scharfen Sinn für das Fremdsein. Daß nicht nur er, sondern alle einander fremd sind, stellt er dar, indem er die 14 Personen einer Party in 14 unterschiedlichen Stilen zeichnet. Auf dieselbe Weise wird die wechselseitige Fremdheit der Geschlechter an einer Serie von Paaren vorgeführt.
Wenn - in einem anderen Cartoon - die Frauen Vögel und die Männer Kater sind, erscheint ihr Verhältnis als asymmetrisch und gefährlich. Fremdheit ist in einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft auch darum heute ein wichtiges Thema, weil sie, wie der New Yorker Soziologe Richard Sennett gezeigt hat, durchaus auch positive Seiten hat. Die Menschen haben, um nicht mit ihren unmittelbaren Bedürfnissen und Interessen aufeinanderzuprallen, Verkehrsformen und Maskierungen erfunden, in denen sie sich verfremden, das heißt anders darstellen, als sie sind. Handelt es sich dabei einerseits um Normierung und Zwang, so andererseits auch um einen Schutz des Ichs.
Saul Steinberg hat den Prozeß sozialer Kultivierung und seine Lächerlichkeiten in vielen Varianten dargestellt. Schon 1936 in ‘Bertoldo’: ‘Verdammt, das bin ich ja gar nicht!’, sagt ein Mann, der in den Spiegel schaut. 1945, in ‘All in Line’, tritt erstmals der Mann als Zeichnung auf, die sich selbst zeichnet, einer, der sich ‘selbstverwirklicht’, ohne zu ahnen, daß er das Konstrukt eines Autors (sagen wir: der Gesellschaft) ist. In ‘Passeport’, 1954, streicht er sich durch, nachdem er seinen Kopf zunächst als bombastische Unterschrift, als geschäftsfähige Kritzeleikonstruiert hat.
Dann Fingerabdrücke in Dokumenten, verwendet als Gesichter: bürokratisch beglaubigte Identitäten auf der Basis eines unveränderbaren natürlichen Merkmals. Es entstehen gesichtslose, entpersönlichte Ichs, erfunden zur Kontrolle oder Ausgrenzung des Fremden, des Menschen, der einen Paß braucht, entworfen aus der Perspektive der Macht. Dann die Masken aus gerissenem Papier, Sinnbild des sozialen Images: Verbergen sich unter ihnen weitere Masken oder endlich doch das Kaninchen, Steinbergs Metapher für Ich? Auf einem der raren Photos trägt Steinberg selber eine Maske. Er hat sich eine Einkaufstüte über den Kopf gestülpt. Er ist selbst zu einer seiner Figuren geworden.