(Jean Dubuffet) Schmetterlinge fliegen lassen

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Published in: Neue Züricher Zeitung


 

Auf den Spuren von Jean Dubuffet

In Reden und brillanten Essays polemisierte Jean Dubuffet gegen den Professionalismus in der «kulturellen Kunst». Er hatte erkannt, dass «Millionen von Ausdrucksmöglichkeiten existieren abseits der bekannten Hauptstrasse der Kultur». Er wollte beim Betrachter «eine Erneuerung seiner Sehgewohnheiten bewirken» und glaubte, dass es über das Sehen auch zu einer Erneuerung des Denkens kommen könne. Eine Spurensuche – nicht nur in Paris.

Strichmännchen. «Und was ist das?», frage ich. Das Zünglein im Mundwinkel, malt sie mit Buntstiften eifrig an einem merkwürdigen Gebilde. «Das ist ein Schiff.» Ein Schiff? Wir befinden uns im Zug nach Lausanne. Die junge Mutter hängt mit geschlossenen Augen am Walkman. – «Jeder Mensch kann malen, wie jeder Mensch sprechen kann.» Der provokative Satz ist Programm. In Reden und brillanten Essays polemisierte Jean Dubuffet gegen den Professionalismus in der «kulturellen Kunst». «Typisch für die Kultur ist, dass sie Schmetterlinge nicht fliegen lassen kann. Sie ruht nicht eher, als bis sie aufgespiesst und etikettiert sind. Das ursprüngliche, massenhafte Gewimmel, der fruchtbare Humus, auf dem tausend Blumen wachsen können, wird von der Kulturpropaganda nicht gepflegt.» «Aufspiessen», damit meinte er das Registrieren, Analysieren, Klassifizieren, Hierarchisieren, Evaluieren, d.h. das Zuschnappen der kulturellen Begriffssysteme, das dafür sorgt, dass die «kulturelle Kunst» bloss tote Schmetterlinge hervorbringt. «Ich bin eher für das Durcheinander», schrieb Dubuffet. Warum? Eben weil für ihn «die unendliche, horizontal ausgebreitete Vielfalt unterschiedlicher Dinge» das Leben selber ausmacht. In der ihm eigenen luziden und anmutigen Ausdrucksweise schrieb er einmal, man dürfe «den Wind nicht vom Baum trennen». Lebendige Realität war für ihn nur das «gleichzeitige Nebeneinander der Vielfalt». Es ist in allen Werkphasen die durchgehende Dimension. Heterogenität gegen Homogenität – gegen die Reinheit, die in vielerlei Hinsicht eine unrühmliche Geschichte hat. Längst berühmt, verstand Jean Dubuffet sich doch so sehr als Amateur, dass er es ablehnte, zwischen «Berufskünstlern» auszustellen. Und im Museum schon gar nicht. Zu Vernissagen erschien er nicht. Ehrungen lehnte er ab. Seine Bilder verkaufte er ungern. Er wollte Outsider bleiben, nicht integriert in den Kulturbetrieb. «Fixierung des Denkens, Blei an den Flügeln, das ist der Kulturapparat», schrieb er. 1945 erfand Dubuffet für die nicht angepasste Kunst den Namen «Art brut».

FREI SEIN VON NORMEN
Im Chˆateau Beaulieu, einem hübschen Gebäude aus dem 18.Jahrhundert, ist das «Antimuseum » untergebracht. Jean Dubuffet hat seine «Collection de l‘Art Brut» der Stadt Lausanne vermacht, denn viele Art-brut-Künstler stammten aus der Schweiz. Aber wohl auch, weil der Pariser Stadtrat sich für die sonderbare Sammlung nicht interessierte. Was sind das für Künstler? Museumsdirektorin Lucienne Peiry: «Das sind Autodidakten, die den kulturellen und sozialen Mechanismen entkommen sind, d.h. Einzelgänger, Nichtangepasste, Anstalts- und Gefängnisinsassen, Medien, d.h. Menschen, die Verbindungen zu Geistern und den Toten unterhalten, exzentrische Personen, alles Menschen, die als ‹deviant› bezeichnet werden.» Das «Antimuseum » ist gut besucht. Bei meinem ersten Rundgang durch das dreistöckige, durch Galerien offen strukturierte Haus notiere ich mir – von aufgeregten Kindern umflüstert – aus den Lebensläufen der Künstler: «Einweisung in die psychiatrische Anstalt», «blind», «taub», «als zurückgeblieben eingestuft», «autistisch», «Waise», «Heim», «Vater Säufer, Mutter tot». Einer wurde eingewiesen, weil er einen Zug entgleisen liess. Unangepasst, weil kreativ? Oder kreativ, weil unangepasst? Dubuffet hatte, durch Hans Prinzhorns «Bildnerei der Geisteskranken» beeindruckt, schon 1924 erkannt, dass «Millionen von Ausdrucksmöglichkeiten existieren abseits der bekannten Hauptstrasse der Kultur». Er stand seitdem mit Psychiatern in Verbindung, die ihm Werke der abseitigen Kreativen vermittelten. Unter den erstaunlichen Bildern und Objekten fällt mir besonders ein vogelnestartig fein verstrebtes Gebilde aus dünn geschabten Rinderknochen auf, das mich an ein Gefängnis denken lässt: «Le nouveau monde» des Carabiniere Francesco Toris (1863 bis 1918), Insasse der Turiner Irrenanstalt. Mögen die Künstler der Art brut, denke ich, vielleicht frei sein von den Normen der bürgerlichen Welt, so scheint es mir doch, als wären sie dafür oft in den Grenzen ihres isolierten Bewusstseins gefangen. Mit naiver Kunst hat Art brut jedenfalls nichts zutun, denn jene sucht sich mit dem Charme ihrer geringen Mittel der Welt anzupassen. Art brut dagegen bleibt unbeugsam. Auf die oft gestellte Frage, ob er, Jean Dubuffet, selber Art brut mache: «Diesen Anspruch wage ich nicht. Ich fürchte, so weit bin ich nicht gekommen.» Und er nennt die «Heroen der Art brut» seine «Vorbilder». Der Künstler, der heute neben Picasso und Giacometti zu den Grossen der europäischen Kunst zählt, mochte damit meinen, dass es ihm nicht gelungen war – und als einem hochgebildeten, vielsprachigen Menschen auch nicht gelingen konnte –, sich ganz von den Konditionierungen der offiziellen Kultur frei zu machen.
Als Dubuffet 1944 seine Existenz als Weingrosshändler endgültig aufgegeben hatte und – schon 43 Jahre alt – zum ersten Mal in der Pariser Galerie Drouin ausstellte, machten seine Strichmännchen einen derartigen Skandal, dass sie von der Polizei bewacht werden mussten. Anlässlich einer Ausstellung in New York meinte ein boshafter Kritiker: «Kinderzeichnungen haben Charme. Zeichnungen eines alten Kindes amüsieren nicht mehr.» Doch hat nicht Picasso gesagt, er habe ein ganzes Leben gebraucht, um wie ein Kind malen zukönnen? Es geht den Grossen der Kunst darum, die Unschuld und die Freiheit zurückzugewinnen, ein Terrain, das noch nicht von sozialen Werten und Normen kontaminiert ist. «Ich will die Dinge an ihren Ausgangspunkt zurückversetzen, an ihren Nullpunkt, bevor sie Vokabular geworden sind.» Das heisst: bevor der analytische Geist der Sprache die Schmetterlinge «aufge spiesst» hat.

HERVORRAGENDER MANAGER
Seine «Collection de l‘Art Brut» hatte Dubuffet zuvor in der Rue de Se` vres Nr. 137 untergebracht. In dem mitten in Paris hinter einem kleinen, jasminduftenden Garten verborgenen Haus befindet sich jetzt die «Fondation Jean Dubuffet», die gerade eine repräsentative Übersicht seiner Arbeiten zeigt. Der Künstler hat dafür gesorgt, dass sein Werk auch nach seinem Tode unabhängig vom kommerziellen Betrieb der Öffentlichkeit zugänglich bleibt. Die Fondation besitzt über 1000 Arbeiten aus allen Werkphasen. Die vorausschauende Sicherung seiner Hinterlassenschaft und die Organisation seiner Grossprojekte aus dem L‘Hourloupe-Zyklus – jene puzzleartigen zellularen Zusammenhänge, die zuerst auf einer Serviette, dann auf Leinwänden, auf Wänden, schliesslich als begehbare Architektur («Villa Falbala») und sogar als bewegliches Theater («CoucouBazar») sich zueinem eigenen Kosmos ausweiten, in welchem das Publikum die Orientierung verliert – mögen der Bemerkung von Kurt Wyss Recht geben. Dubuffets Photograph sagte mir in Basel: «Er war auch ein hervorragender Manager.» Anders als der gleichaltrige Giacometti, der mit seinem Bruder Diego in einem Loch hauste, verstand es Dubuffet, seine Arbeit und sein Leben zu organisieren. Ja, auch sein Leben. Der «Vertreter der Unordnung» (J.D.) war ein ordentlicher Mensch. Ich sehe in der Rue Lhomond, wo der Künstler von 1935 bis 1944 wohnte und arbeitete, zum Atelierfenster hinauf. Dort muss es gewesen sein, dass er Le Corbusier ein Bild schenkte, weil das Verkaufen ihm unanständig erschien. Er wohnte in der Nr. 34 und arbeitete in der Nr. 35. Die alten, kleinstädtisch wirkenden Häuser stehen einander dicht gegenüber. Um zur geliebten Lilli zukommen, brauchte er nur über die Strasse zu springen. «War es ein glückliches Verhältnis?», frage ich Madame Armande de Trentinian- Ponge, Dubuffets engste Mitarbeiterin und lange Direktorin der Fondation: «Ja, sehr!», sagt sie lächelnd. Übrigens hat Dubuffet seine Bilder immer wieder als ein «Fest» bezeichnet. Er wollte, dass nicht nur er, sondern auch die anderen sich freuten. In Madame de Trentinians Wohnung steht auf einer Staffelei ein Bild aus der letzten Serie der «Non-lieux». Der Hintergrund ist schwarz, und mit der Fröhlichkeit ist es vorbei. 1984, kurz vor seinem Tode, bezeichnete sich Dubuffet oft als Nihilisten, der die etablierte Wirklichkeit als illusionär betrachtete und die Unterscheidung zwischen Sein und Nichtsein nicht mehr gelten liess. Vor dem Haus in der Rue de Vaugirard 114bis, in dem er die längste Zeit wohnte und 1985 gestorben ist, treffe ich auf einen Geschäftsmann aus dem Viertel, der sich an Dubuffet erinnert: «Ein grosser Künstler, ein grosser Mann!» Er sagt mir, dass die Ateliers im hinteren Haus heute nicht mehr existieren. Es war dort nach dem Kriege so kalt, dass Dubuffet mit Lilli in die Sahara floh und sich für die Spuren im Wüstensand begeisterte. Als ich die neuen Pariser Papierkörbe sehe: grüne durchsichtige Säcke mit der Aufschrift «Vigilance Proprete´ », fällt mir der kleine Film ein: Dubuffet verlässt in Hut und Regenmantel – er ging stets sehr korrekt gekleidet – sein Haus in Vence (bei Nizza), lüftet den Deckel einer Mülltonne, sucht wie selbstverständlich darin herum und lässt etwas in die Tasche seines Trenchcoats gleiten. Er hat etwas für seine Assemblagen gefunden. Denn für ihn waren Collage und Assemblage die adäquaten Methoden, ungewohnte Zusammenhänge herzustellen. «Ich glaube, das Unpassende ist ein wirksames Mittel. » «Kakaismus!», heulte die Kritik angesichts seiner ersten Materialbilder, als er in den «hautes pˆates» Ölfarbe mit Dreck gemischt hatte. Die dichotomischen Unterscheidungen hässlich und schön, gut und böse, wahr und falsch erklärte er zureiner Konvention, die er nicht anerkannte. Die «Corps de Dames» sind denn auch grotesk anmutende Frauenkörper, die eher wie schrundige Landschaften aussehen. Ein Kritiker meinte, Dubuffet habe die Pariserinnen platt gemacht wie Crˆepes. ALLES IST SCHÖN Der Körper der Frau, war er nicht in der abendländischen Kultur zum Schönen schlechthin stilisiert worden? Alles ist schön, meinte der Künstler, alles. Was er wollte, ist, «beim Betrachter eine Erneuerung seiner Sehgewohnheiten [zu] bewirken». Und da Sehen und Denken eng miteinander verflochten sind, würde es, wie er glaubte, über das Sehen auch zu einer Erneuerung des Denkens kommen können. Aber er lebte und kleidete sich wie ein Bourgeois. Andreas Franzke, dem wir die Herausgabe einer Auswahl aus Dubuffets umfangreichen Schriften verdanken, erzählte mir über den Freund: «Bei Dubuffet waren das Private und das Professionelle sehr getrennt. Man wurde nur ausnahmsweise in den Salon gebeten, und bei Tisch wurde über Kunst nicht gesprochen.» Er hatte in seiner Vaterstadt Le Havre, wo er in gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen war, das humanistische Gymnasium besucht – zusammen mit dem mit ihm befreundeten Sprachkünstler Raymond Queneau. Franzke erinnert sich, dass er «Lateinisch sprach wie unsereiner Englisch». Dubuffet war stets der Beste, erinnern sich alte Freunde. Später sprach er nicht nur viele Sprachen, sondern interessierte sich besonders für die Umgangssprache und verfasste mehrere kleine Werke in phonetischer Schrift, d.h., auch hier suchte er, den Regeln zuentkommen und am sinnlich Unmittelbaren zubeginnen. Er hatte Orgelspielen gelernt, machte aber zusammen mit dem Maler Asger Jorn eine Musik, die aus Geräuschen bestand. Geräusche waren für ihn ein Stück Leben, Musik aus Tönen dagegen eine Abstraktion. Bevor er den realitätsabgehobenen Kosmos L‘Hourloupe entwickelte, war es stets das Alltägliche, Unbeachtete, das ihn anzog: Graffiti, Kinderzeichnungen, Marktbudenschilder, die Oberflächen von Mauern und Strassen. Mit Freunden im Auto unterwegs, hielt er fortwährend an, um irgendein kleines Ensemble von Steinchen, Gräsern und Überbleibseln zu untersuchen, stets das, was als nebensächlich gilt. Um aus dem System L‘Hourloupe sein totales Theater «Coucou Bazar» zu entwickeln, das seine Bilder beweglich machte – die durch Wyss‘ Vermittlung von Basler Fasnachtskünstlern kostümierten Tänzer unterschieden sich von den Kulissen nur dadurch, dass sie sich bewegten –, musste er riesige Hallen anmieten, z.B. die Cartoucherie im Park von Vincennes. Man fährt dorthin mit der Metro Linie 1, diesem wunderbaren, nicht in Waggons abgeteilten Zug, der eine 250 Meter lange Durchsicht erlaubt. So geschieht es, dass ein weit entfernter Musette-Walzer langsam näherkommend sich zuletzt konkretisiert: Ein junger Russe spielt auf seiner Ziehharmonika. In der Cartoucherie liess Dubuffet die Maquetten seiner Projekte mit Hilfe eines Pantographen vergrössern und in Puzzlestücke umsetzen, die mit einem glühenden Draht aus Polyester herausgeschnitten wurden. Ich wollte den Ort sehen, wo er mit wechselnden, bis zu20 Mann starken Equipen von Handwerkern, Technikern und Künstlern gearbeitet hat. Nach «Coucou Bazar», der nach einem Desaster im Grand Palais erst 1978 in Turin zu Dubuffets Zufriedenheit aufgeführt worden war, befinden sich dort heute diverse Theater, darunter das «the´ aˆ tre de soleil». Kostümierte Schauspieler sitzen an ihren Wohnwagen und lesen ihre Rollen zwischen spielenden Kindern.

WIDERSPRÜCHLICHKEITEN
Dubuffet hatte seine Arbeiten in den renommiertesten Kunsttempeln gezeigt: im MoMA, im Guggenheim, auf der Documenta und der venezianischen Biennale. Der Kulturapparat hat inzwischen auch sein Werk ergriffen und beginnt es zuverdau en. Als ich Madame de Trentinian frage, ob ihn die Anerkennung verdross, meint sie: «Ja und nein.» Für Dubuffet war die Anerkennung der Beweis, dass er sich vom Gewohnten noch nicht völlig frei gemacht hatte. Erntete er dagegen Ablehnung, «fühle ich mich», wie er schrieb, «in jeder Hinsicht bestätigt, aber gleichzeitig verbittert durch die öffentliche Missachtung». Mit dieser Widersprüchlichkeit lebte er. Dubuffet wusste, dass auch seine widerborstigen Werke irgendwann der «kulturellen Kunst» angehören würden. «Ich weiss zwar, dass wir uns niemals vollständig von der Konditionierung und der Bezugnahme auf die Kultur befreien können. Aber dass wir es nicht restlos können, hindert uns nicht, dass wir es bis zueinem gewissen Grade versuchen.» Er wusste um die Unmöglichkeit und tat es trotzdem. Heroismus? Anspruchsvolle Bescheidenheit? Es geht um die Freiheit. «Jeder Mensch ist ein Künstler» – das Joseph Beuys zugeschriebene Wort stammt ursprünglich von Dubuffet.