Fausto Melotti in Darmstadt

 
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Published in: Frankfurter Rundschau


 
Geo-Engel
Fausto Melotti in Darmstadt

Wen der Gedanke bezaubert, dass zwei parallele Linien sich in der Unendlichkeit schneiden, dass eine Tangente den Kreis mit unermesslicher Zartheit berührt und gewisse Kreissegmente "Möndchen des Hippokrates" heißen, wer sich erinnert, dass naturwissenschaftliche Probleme einst auch philosophische waren, versteht Fausto Melottis Forderung nach einer Verbindung von Mathematik und Poesie sofort. „Die Kunst“, sagte Melotti einmal, „ist ein engelhafter geometrischer Gemütszustand.“
Der promovierte Ingenieur hatte zeitlebens eine Liebe zur Musik und Poesie, spielte Klavier und veröffentlichte Gedichte. Am Tag nach seinem Tod, am 22. Juni 1986, wurde die Biennale von Venedig mit einer großen Einzelschau seiner Werke eröffnet. Allein vier Mal war der 1901 geborene Künstler auf der Biennale vertreten. Melotti war mit Lucio Fontana befreundet, Italo Calvino hat über ihn geschrieben und auch Germano Celant, ein Star der italienischen Kunstkritik. In Italien ist Melotti als ein Pionier der Abstraktion bekannt, doch bei uns kennen ihn wenige.
Nun ist auf der Darmstädter Mathildenhöhe die erste, alle Werkphasen umgreifende Retrospektive in Deutschland zu sehen. Chronologisch geordnet sind im ersten Raum die großen, meist weißen Objekte aus den 30er Jahren ausgestellt, heute wohl eher von kunsthistorischer Bedeutung. Im Katalog werden sie Vorwegnahme der „primary structures“ der Minimal Art betrachtet; doch das greift etwas zu weit. Denn obwohl der in seiner Jugend vom Futurismus beeinflusste Künstler sich dann der Reinheit der Geometrie verschrieb, hat er nie darauf verzichtet, figürlich zu arbeiten. Auch in seinen "abstrakten" Arbeiten ist er Poet, nicht Systematiker wie etwa Don Judd oder Sol Lewitt. Die gesichtslose, gliederlose Figurenstele mit dem Abdruck einer Schwurhand gehört zu einer Kolonne von 12 gleichen Stelen aus dem Jahre 1936, der hohen Zeit des Faschismus, der in Italien – anders als in Deutschland – zwar pathetisch, aber in der Kunst nicht völkisch und rückwärtsgewandt war.
Melotti arbeitete auch in Ton und Terracotta. Es sind weniger die großen Vasen aus den 50er Jahren, z.T. mit Gesichtern, und die großen Stahlgebilde mit Kugeln und Pendeln, die heute bezaubern, als die schon 1944 begonnene Werkreihe der „teatrini“, der Theaterchen: kleine, rechteckige, nach vorn offene, nach Art von Setzkästen unterteilte Schachteln aus Ton, in denen flüchtig geknetete Figürchen mit deutlich – wie bei Giacometti – erkennbaren Gesichtern und Fundstücke aus verschiedenen Materialien zu traumartigen Szenen arrangiert sind. Ebenso wie die „teatrini“ führt der Künstler die konzeptuell ähnliche Werkreihe der Reliefplatten aus Gips, Ton und Holz bis ins hohe Alter fort. Die Platten, auf die Figürchen, Drähte, Stoffreste, Streichholzschachteln szenisch appliziert sind, spielen mit dem Verhältnis von Fläche und Raum, wobei zarte Schatten ihre Rolle spielen. Melottis schwebend leichte, filigrane Skulpturen aus dünnen, aneinander gelöteten Stäben, Drähten, Blechen, Gaze (und Glöckchen) aus Messing schließlich sind hauchzarte Gebilde, die in ihrer entmaterialisierten Fragilität die Anmut von Skizzzen haben – so als hätten sie die Idee an deren Ursprung eingefangen. Sie haben den Charakter transparenter Bühnen mit mehreren Etagen, Leiterchen und magischen Zeichen, Bühnen, die wie Pfahlbauten aussehen oder Jahrmarktspodeste. Schiffe mit Segeln sind erkennbar. Die wie musikalischen Konstruktionen – alles andere als systematisch abstraktiv – erinnern an die russischen Konstruktivisten, aber auch an Kandinsky, Miro und besonders Klee (gewisse Tintenzeichnungen und Lithos aus den frühen 20er Jahren). Auch bei Saul Steinberg findet man vergleichbare Grazilität.
Verwandt sind diese so unterschiedlichen Künstler durch ihre oft heitere geistige Verspieltheit, das Improvisierte, das Essayistische – eben das Humane, Offene, Freie des menschlichen Geistes. Streng ist Melotti nicht, wie im Katalog behauptet. Und es fehlt die dogmatische Schwere der Endgültigkeit. Das macht ihn aktuell.

Fausto Melotti, Retrospektive 1928–1986, Mathildenhöhe Darmstadt bis 27. August 2000,
Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg 17. September bis 12. November 2000.