Before the red traffic light all are the same
Road traffic as a "school of the nation"
This text exists at the moment only in German language
Published in: Frankfurter Rundschau
Der Straßenverkehr ist heute die "Schule der Nation"
Den "Bauernlümmeln" wurden auf dem Exerzierplatz "die Hammelbeine lang gezogen" und "Menschen aus ihnen gemacht". Das Militär galt einmal als "Schule der Nation". Gedient zu haben war eine Garantie dafür, auch im zivilen Leben gehorchen zu können. Ein Gedienter hatte "Benimm". "Gedient?" war die erste Frage des Arbeitgebers. Durch das Marschieren lernten die ungelenken Dörfler und rachitischen Proletarier das gerade Gehen, doch keineswegs den "aufrechten Gang". Aus der Perspektive der wilhelminischen Gesellschaft wurden sie sozialisiert. Doch das ist lange vorbei.
"Schule der Nation" ist heute der Straßenverkehr. Soziologisch betrachtet hat er eine integrierende Wirkung. Das ist angesichts zentrifugaler Tendenzen in unserer Gesellschaft, die sich aus der zunehmenden Individualisierung, dem Zerfall von Traditionen und Institutionen, der Flexibilisierung der Arbeitszeit und der wachsenden Mobilität ergeben, nicht gering zu schätzen. Der Straßenverkehr ist das einzige gesellschaftliche Subsystem, in welchem Freiheit und Gleichheit, die großen Postulate der Französischen Revolution und die Basis unserer Demokratie, heute fast jedermann unmittelbar und täglich erfahrbar sind. Mobilität wird oft zum Inbegriff von Freiheit verkürzt ("Freie Fahrt für freie Bürger").
Die Mobilität ist eines der Kriterien, nach denen unsere Zeit sich von der feudalen Epoche der Leibeigenschaft, der nachts verschlossenen Stadttore, des begrenzten Warenverkehrs und – in den deutschen Kleinstaaten – der dauernden Passkontrollen augenfällig unterscheidet. Wenn auch das Auto von einigen als Machtmittel oder gar als Waffe missverstanden wird – 1991 titelte die Zeit: "Der lackierte Kampfhund" –, so stellt das die integrative Wirkung des Autoverkehrssystems im Ganzen nicht in Frage. Vor der roten Ampel sind alle gleich, eine Gleichheit, die sicherer gewährleistet ist als etwa die vor dem Gesetz, wo oft entscheidet, ob man seinen Prozess bis zur höchsten Instanz finanziell durchstehen und/oder sich einen guten Anwalt leisten kann. Auto fahren zu können gehört heute zu den zivilen Grundfähigkeiten. Wer diese Qualifikation nicht besitzt, gilt als Kauz, als nicht normal, fast als nicht vollwertiger Bürger, geradeso wie Leute, die kein Telefon besitzen, keinen Fernseher oder keinen Computer.
Es ist weniger die Moral, welche die Autofahrer dazu anhält, die Regeln einzuhalten, als die Selbsterhaltung. Rücksicht und Vorsicht übt man im wortwörtlichen Sinne weniger um der anderen willen als in Sorge um die eigene Person und das heilige Blechle – sieht man von der infantilen Angst vor Strafe einmal ab. Denn Autofahren ist ja mit höchsten Risiko verbunden. Und weil man sich aus Egoismus und weniger aus moralischen Motiven sozial verhält, hat dieses gesellschaftliche Subsystem die denkbar stärkste motivationale Basis – dieselbe Basis wie das Marktsystem.
Die positive soziale Funktion des Verkehrssystems lässt sich an zwei Phänomenen belegen, die jeder kennt. Die Verengung der Autobahn auf nur eine Spur führt zu der Notwendigkeit des Einfädelns, eine Anforderung, die noch in den 60er Jahren kaum erfüllbar war. Ob Lernprozess oder Generationswechsel: Die soziale Leistung besteht heute darin, auf das unmittelbare Recht des Zufahrens zu verzichten in der Einsicht, dass ohne das Vorlassen des anderen das eigene Fortkommen ganz unmöglich würde. Die Fahrer verzichten auf die Durchsetzung eines unmittelbaren Interesses, um es mittelbar durchzusetzen, vermittels des anderen, dem sie den Vortritt lassen: Paradoxerweise wird der Vordermann, das direkte Hindernis, derart zum Mittel für das eigene Fortkommen. Das zu begreifen erfordert strategisches Denken. So instrumentell dies Verhalt auch ist, es ist doch sozial, das eigene Interesse zeitweilig zurückzustellen, damit das Ganze funktioniert, von dem man – wie alle – abhängt. Dies soziale Verhalten unterscheidet sich von den naiven, brutalen Kraftakten unmittelbarer Durchsetzungsversuche jedenfalls durch Kalkül.
Auch bei dem zweiten Phänomen, das die integrative Funktion des Systems belegen kann, handelt es sich um einen Verzicht. Die Autobahn nach Berlin ist streckenweise vierspurig und ohne Geschwindigkeitsbeschränkung. Auch die letzten "Rennpappen" drücken dort auf die Tube. Verwundert bemerkt man dagegen hin und wieder schwere und schnelle Wagen, die die gebotene Möglichkeit nicht ausnutzen, sondern die übliche Geschwindigkeit einhalten – und das nicht etwa, weil die Fahrer telefonieren. Ob sie nun vor sich hingrübeln oder Beethoven hören, bei den Überholenden hinterlassen sie den Eindruck, auf etwas zu verzichten, das sie ohne weiteres tun könnten. Porsche etwa exportiert nach den USA, wo rigide Geschwindigkeitsbeschränkungen bestehen. Warum dort einen so schnellen Wagen fahren? Auf etwas zu verzichten, das man tun könnte, ist eine Art sublimen Genusses, möglicherweise verwandt mit der Askese. Es handelt sich um das Gefühl, dass man könnte, wenn man wollte. Freilich handelt es sich auch bei dem Verzicht um eine Demonstration, ob man will oder nicht: Man zeigt, dass man es nicht nötig hat. Die britischen Oberschichten haben daraus die distinguierte Haltung des understatement entwickelt, die mit dem Konzept des gentleman zusammenhängt, wie es einst Beau Brummel (1778–1840) begründet und vorgelebt hatte. Der gesellschaftliche Status erhöht sich durch den Verzicht. Der Herr ließ der Dame einst den Vortritt und demonstrierte so die Stärke gegenüber dem "schwachen Geschlecht", weshalb Feministinnen sich diese Höflichkeit verbitten und sogar den angebotenen Platz in der U-Bahn ablehnen. Verzicht aus der Position der Stärke: Man könnte von einer Kultur des Lassens sprechen.
Der Begriff, der sich in ökologischen Argumentationen findet, geht wahrscheinlich auf die Große Verweigerung zurück, die Herbert Marcuse den Studenten in den 60er Jahren als Strategie empfohlen hatte. Handlungsfolgen verstellen den Horizont. So viel ist in die Welt gestellt, dass der Gedanke der Unterlassung bestechend ist. Viele Künstler arbeiten darum mit vergehenden Materialien. Doch ist nicht zu vergessen, dass auch jede Unterlassung Fakten setzt – wie etwa die unterlassene Hilfeleistung bei einem Unfall. Dennoch kann es sehr kultiviert sein, Dinge zu unterlassen, die man tun könnte. Darauf beruht Freuds Konzept der Sublimierung, nach welcher Kultur aus der Umsetzung der Triebe entsteht. Doch auf das zu verzichten und anscheinend gering zu achten, was andere liebend gern täten oder besitzen wollten, kennzeichnet auch den Snobismus. Aber mag es vielleicht auch snobistisch sein, eine Möglichkeit zur Durchsetzung ungenutzt zu lassen, so erscheint doch dieser Verzicht, betrachtet man die Handlungsfolgen, in einem anderen Licht. Aus welchen Gründen immer die Starken in einer Gesellschaft sich zurücknehmen und einreihen, entscheidend ist, dass sie es tun und damit denen, für die sie Vorbild sind, den Eindruck geben, rücksichtsvoll zu sein, auch wenn es sich dabei bloß um Kalkül, Softi-Allüren oder raffinierten Genuss handeln mag. Die deutsche Sprache drückt ein gewisses Sozialverhalten als Perspektive aus: Rücksicht, Vorsicht, Voraussicht, Übersicht, Nachsicht. Ob diese Perspektiven aus moralischen Motiven oder aus Berechnung eingenommen werden, ist praktisch unbedeutend: dass sie eingenommen werden, ist entscheidend. Toleranz ist eine urbane Haltung, die nicht auf Nächstenliebe beruhen muss. Sie kann ganz unedle Gründe haben.