Praise of the pickled herring
Dutch still lifes between 1550 and 1720 in an Amsterdam exhibition
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Published in: Frankfurter Rundschau
Lob des Pökelherings
Niederländische Stillleben zwischen 1550 und 1720 in einer Amsterdamer Ausstellung
AMSTERDAM. So sehr fasziniert die Besucher die gelungene Nachahmung der sichtbaren Wirklichkeit, daß sie immer wieder davon abgehalten werden müssen, die Gemälde von Samuel van Hoogstraten (1627–1678) zu betasten. Er hat die Augentäuschung, das Trompe-loeil (das „betriegertje“), zu unglaublicher Perfektion gebracht. Schon 5 nach 10 steht das Publikum in der Ausstellung Das Niederländische Stilleben 1550–1720 im Amsterdamer Rijksmuseum dicht an dicht.
Im Stillleben vollzieht sich ein Übergang von der Personendarstellung zur Darstellung von Sachen. Sie haben sich aus den Marktbildern von Pieter Aertsen (1508–1575) und Joachim Beuckelaer (1533–1574), welche die Ausstellung einleiten, wowie aus den Kaufmannsportraits verselbständigt, doch stehen sie noch längst nicht nur für sich selbst wie später bei Morandi, sondern weisen im Sinne eines dinglichen Portraits auf Stand, Beruf, Reichtum und Wohlanständigkeit der abwesenden Personen hin und/oder stehen als Symbole für Mäßigung und Vergänglichkeit alles Irdischen (Vanitas).
Der historische Hintergrund zur Emanzipation der Sachen von den Personen ist die Emanzipation der Künstler vom Auftraggeber. Die erfolgte nicht freiwillig. Mit dem "Bildersturm" der radikalen Calvinisten, der das Verbot von Heiligenbildern durchsetzte, verloren die Maler ihre Aufträge. Sie wurden freie Unternehmer, spezialisierten sich und konkurrierten mit gleichen oder ähnlichen Motiven auf einem anonymen Markt. Händler verkauften die kleinen transportablen Bilder z.B. auf der Frankfurter Messe. Die Kunst war zur Ware geworden.
Die Amsterdamer Ausstellung mit 71 Exponaten zeigt erstmalig alle Arten des Stilllebens in hervorragenden Beispielen: Das Blumenstück geht auf Jan Breughel (1568–1625) zurück, der Rubens die Blumen malte. Von botanischer Präzision: Ambrosius Bosschaert (1573–1621). Caravaggios Früchtekorb gilt als Vorläufer des Früchtestillebens, das Frans Snyders (1579–1657) und Jan Davidsz de Heem (1606–1684) zum barocken Prunkstilleben ausarbeiten, in dem sie Blumen, Früchte und Jagdbeute mit anderen Naturalien, chinesischem Porzellan, venezianischem Glas, Goldpokalen und exotischem Getier komponieren, eine Repräsentation des Reichtums und der weltweiten Handelsverbindungen der holländischen Kaufleute. Voraussetzung solcher Darstellungen ist der von Floris van Dijk (1575–1651) zum Typus entwickelte Gedeckte Tisch (das ontbijtje), auf dem alle Delikatessen ausgebreitet sind.
Im ontbijtje ist der Augenschmaus genau kalkuliert und unterstellt nur manchmal Personen, die hier soeben noch waren. Eine besondere Art des ontbijtje ist das Monochrome banketje der Haarlemer Meister Willem Claesz Heda (1593–1680) und Pieter Claesz (1597–1661), die sich durch einen tonige Malweise auszeichnen, welche die Gegenstände atmosphärisch verbindet. Zugleich ist die Darstellung der unterschiedlichen Materialien vollkommen. Beide reduzieren die Zahl der Gegenstände radiklal: eine Reduktion des "was" zugunsten des "wie".
Auch der von Vermeer und Rembrandt beeinflußte Willem Kalf (1619–1693), berühmt für die magische Präsentation von Kostbarkeiten, beschränkt sich. Eines der Bilder von Claesz zeigt wenig mehr als ein Glas schaumigen Bieres, einen Hering auf einem Zinnteller, daneben ein Stück Weißbrot.
Verglichen mit der Dynamik, Farbenpracht und katholischen Üppigkeit der flämischen Stillleben herrscht hier protestantische Strenge, Klarheit und Kargheit, doch von größter Delikatesse.
An diesem Bild argumentiert Julie Berger Hochstrasser im Katalog gegen den traditionellen Deutungsansatz, der im Stillleben generell einen implizierten moralischen Appell zur Mäßigung sieht, Bier, Brot und Hering glorifizierten vielmehr die ökonomischen Grundlagen des Volkswohlstandes zu einer Zeit, da im nahen Deutschland der dreißigjährige Krieg tobte. Der Heringsfang war eine Säule der holländischen Wirtschaft. Sicher gilt die materialistische These für Joseph de Brays Lob des Pökelherings. Viele sonst christologisch oder mit Bezug auf Sprichwörter moralisch gedeuteten Motive - etwa drei Haselnüsse als Symbol der Dreieinigkeit - sieht die Autorin mi Kontext zeitgenössischer medizinischer Ratgeber zur gesunden Lebensführung. Die geschälte Zitrone bei Kalf, van Utrecht und vielen anderen, ein Motiv, das in Emblembtüchern etwa als Zeichen für falsche Freundschaft (schönes Äußere, saures Innere) angeführt wird, sei eher ein Hinweis, den süßen Wein bekömmlich zu machen. In Verbindung mit Austern (ein Aphrodisiakum) und Pfeffer gerät die Zitrone in den Umkreis der Völlerei. Zudem ist sie ein Luxusgut wie die Tulpe.
Die Bedeutungen sind meist vielschichtig, aber es gibt auch Eindeutigkeiten: Die Fliege ist ein Sinnbild des Bösen. Gott der Fliegen heißt Mephisto im Faust. Mit Ausnahme der Raupe, die zum Schmetterling wird - ein Symbol der Erlösung der Seele aus dem Gefängnis des Leibes -, sind Insekten negativ besetzt. In den Blumenbildern wimmelt es von gefräßigem Geziefer und Gewürm, das die Schönheit und Frische der Blumen und Früchte als eitlen Sinnengenuß denunziert und mahnt, an das Ende zu denken. Blumen waren damals unvorstellbar teuer, weit teurer als die Bilder und darum ein Symbol des Reichtums. Die Bedeutungsvielfalt, darunter auch sexuelle Anspielungen, mochte Gespräche und Nachdenklichkeit anregen.
Unter den Vanitas-Bildern mit ihren typischen Symbolen: Totenschädel, geöffnete Deckeluhr, erloschene Pfeife, schwelender Kerzendocht, zerfleddertes Buch, Musikinstrumente, Seifenblase u.a.m. sind in Amsterdam besonders geistreich zwei, die dem Vanitasgedanken eine positive Wendung geben: eine Glaskugel (in der Bedeutung der Seifenblase) spiegelt den Künstler Simon Luttichuys (1610–1661) bei der Arbeit. Er ist sozusagen immer im Bild, ein Fingerzeig auf die Macht der Malerei. David Bailly (1548–1657) portraitiert sich in einem Vanitasbild, die Linke auf einem Portrait seiner selbst, das ihn älter zeigt. Ein Paradox. Beide Bilder behaupten so den Maler als Überwinder der Zeit. Vita brevis, ars longa. Bei den Jagdstücken nach dem Geschmack des Adels ragt Jan Weenix (1640-1719) hervor: Keiner malte die Schwäne so ergreifend tot wie er. Eine Besonderheit ist schließlich das tabakje: Typisch sind Gouda-Tonpfeifen, Bier- oder Weinglas und Spielkarten. Rauchen galt – bis es allgemein etabliert war – als liederlich.
Mit den Johannisbeeren des wenig bekannten Adriaen Coorte (1665–1707) macht das Museum auf Plakat und Katalogcover darauf aufmerksam, daß es in der "goldenen Zeit" einer unglaublichen ökonomischen und künstlerischen Prosperität Tausende ziemlich gleichwertiger Künstler gab, deren Werke oft verschollen sind. Kein wohlhabender Bürger, der nicht mehrere Stillleben besaß. Zugleich war das Stilleben in der Hierarchie der Malerei das niederste Genre. Den höchsten Rang nahm die Historienmalerei ein (Rembrandt, Rubens), da sie klassische Bildung voraussetzte. Im Stillleben kündigt sich das bürgerliche Bewußtsein an: nachdenklich, moralisch, nicht elitär, und in Sachen, die immer auch Waren sind, wie das Stillleben selber.
Rijksmuseum, Amsterdam, bis 19. September 1999. Katalog in Holländisch und Englisch, 65 Gulden.