Things in the light-flooded haze
Work and effect of Jean-Simeon Chardin – an exhibition in Karlsruhe
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Published in: Frankfurter Rundschau
Dinge im lichtdurchfluteten Dunst
Werk und Wirkung von Jean-Simeon Chardin – eine Ausstellung in Karlsruhe
KARLSRUHE. Während Francois Boucher Madame Pompadour mit dekorativen Gemälden entzückte, auf denen Girlanden rosiger Amoretten Göttergestalten umschweben – was alles er ohne Modell entwarf –, mühte sich Chardin, tote Hasen, Karaffen und Pfirsiche nach der Natur zu malen. Er arbeitete unendlich langsam an immer nur einem Bild. Seine Produktion war klein. Niemand hat ihn je malen sehen.
Nicht zufällig findet zum 300sten Geburtstag von Jean-Simeon Chardin (1699–1779) die erste umfassende deutsche Ausstellung in Karlsruhe statt. Denn die kunstsinnige Markgräfin Karoline Luise von Baden gehörte zu seinen ersten Bewunderern und Sammlern.
Um Chardins Herkunft und Wirkung nachvollziehbar zu machen, zeigt die Karlsruher Ausstellung 34 Gemälde des Meisters zwischen vergleichbaren Bildern niederländischer, flämischer und französischer Maler, ein kluges und beispielhaftes Ausstellungskonzept ohne aufdringlichen "Event"-Charakter. Unter den zahlreichen kostbaren Leihgaben aus ganz Europa und den USA befinden sich außer 30 Chardins in Öl, darunter weltbekannte Bilder wie Das Tischgebet und Der Silberbecher (beide Louvre, Paris), Genrebilder von Pieter de Hooch, Jan Steen, Teniers und Stilleben von Kalf, Snyders, Desportes, Oudry, Delaporte u. a. Außerdem ein breites Spektrum von Druckgraphiken.
Obwohl nahezu Autodidakt und nie über Paris hinausgekommen, wurde der Sohn eines Billardtischlers mit seinen Stilleben und Genrebildern schnell berühmt. Es gelang ihm, beide Gattungen weit über ihren traditionellen Rang hinauszuheben. Die Kunstkritik lobte die Wahrhaftigkeit und Natürlichkeit seiner Bilder, allen voran und tonangebend Diderot.
Stilleben und Genre standen in der Hierarchie der Malerei freilich zuunterst, denn nach damaliger Kunstauffassung malte der Genremaler bloß für das Auge, der Historienmaler hingegen, der sich in Geschichte, Mythologie, Anatomie und den Leidenschaften auskennen mußte, auch für den Geist. Chardin besaß keine klassische Bildung. Doch bewunderte alle Welt die Getreulichkeit, mit der er typische Familienszenen aus dem kleinbürgerlichen Alltag darstellte, den er kannte und liebte. Dabei waren seine Motive keineswegs neu. Frauen und Kinder in ihrer häuslichen Umgebung hatten vor ihm schon andere gemalt. Doch atmen die Genre-Szenen (stets ohne Blickkontakt zum Betrachter) die gleiche Ruhe wie die Stilleben, mit denen Chardin seine Karriere begann: nicht Personen, die handeln, sondern innehalten.
Ein konzentrierter, langer Augenblick in einer bekannten Situation. Die Pariser Bürger bewunderten in den Kunstsalons die authentische Darstellung ihres genügsamen Lebens, die Frauen nicht frivol wie bei Boucher, nicht rührselig wie bei Greuze und die Kinder ohne Koketterie. Verglichen mit den Modemalern waren Chardins Preise unglaublich niedrig. Stiche nach seinen Gemälden hingen bald in den Häusern ganz Frankreichs. Aber auch Hof und Adel liebten die "Naivität" seiner Motive, ein Wort, das damals die natürliche Anmut gegenüber der Geziertheit des Rokoko meinte. Man war das öffentliche Posieren leid und sehnte sich nach Intimität und der von Rousseau eingeforderten Natürlichkeit. Die Einfachheit und Anmut der in ihrer Hausarbeit versunkenen Frauen und der stillvergnügt spielenden Kinder entsprach dem französischen Geschmack im Grunde mehr als die Derbheiten und Pikanterien der niederländischen und flämischen Genremaler des 17. Jahrhunderts.
Chardins lockerer, pastoser Pinselzug unterscheidet sich von der spitzpinseligen Feinmalerei flämischer und niederländischer Stilleben. Während diese oft eine Fülle ausgesuchter Kostbarkeiten in kunstvollen Überschneidungen zur Schau stellen, malt Chardin den eigenen schlichten Hausrat (der berühmte silberne Glockenbecher) und reduzierte die Motive auf wenige Gegenstände, die er oft einfach nebeneinander anordnet. "Nichts war seinem Pinsel zu gering", schrieb Diderot: Nicht nur verleiht er noch dem alltäglichsten Ding Schönheit und Würde, sondern er lenkt durch das Malen nichtssagender Gegenstände die Aufmerksamkeit von der peniblen Imitation der realen Welt auf die Malerei selber. Die Gegenstände werden in den späten, kleinformatigen Stilleben zum bloßen Vorwand für das Zusammenspiel der Farben.
Chardin löst die Malerei sacht von ihrer Abbildfunktion und schafft ihr eine eigene Wirklichkeit. Diderot hat Chardin „den großen Zauberer“ genannt, als er herausfand, daß sich seine Farben anders als in der Trompe-l'oeil-Malerei erst aus der Entfernung zusammenschließen und den Gegenstand erkennen lassen (wie schon bei Tizian, doch nicht im Stilleben). Erst wenn man zurücktritt, bilden die Farben den "wahren Ton", ein Vorgriff auf den Impressionismus.
Doch der wahre Ton entsteht bei Chardin durch die Reflexe, welche die Farben eines Dings auf die benachbarten Gegenstände werfen. Das geht über die Spiegelungen bei Heda, Claesz, Kalf, Teniers hinaus. Über allem liegt ein lichtdurchfluteter farbiger Dunst. Chardins Eigenart liegt weder in der Komposition noch im Motiv, sondern allein in der bezaubernden „peinture“. Darin fand er, wie die Ausstellung zeigt, keine direkten Nachfolger. Anne Vallayer-Coster übernimmt zwar Chardins Stilleben-Motive, doch brilliert sie in illusionistischer Abbildung. Auch der wunderbare Roland Delaporte hatte nicht "Licht und Luft auf der Pinselspitze", wie Diderot von Chardin schwärmte.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts ist Chardin nicht nur der anerkannt größte Kolorist, sondern auch der erste bewußt bürgerliche Maler, der jedoch weder wie sein englischer Zeitgenosse James Hogarth die Laster aufs Korn nimmt, noch wie sein Kollege Jean-Baptiste Greuze die Tugend preist, sondern nur malt - was er sieht: ohne moralisierenden Pathos, ohne Vanitas-Symbolik, ohne Effekte, ohne Manier. Chardin erscheint in seinem Verzicht auf interessante Sujets, auf Handlung, auf Dekor, auf Symbolik und durch die tendenzielle Erlösung der Malerei von der detaillierten Abbildung der Wirklichkeit als ein Vorfahre der modernen Kunst. Etwa 130 Jahre vor Cezanne.
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, bis 22. 8. 1999, Katalog 68,- DM.