An analysis of Giorgio Bassani’s “The Heron”

"The superfluous man" (Turgenev)

This lecture exists at the moment only in German language. A translation is in progress.


 
„Der überflüssige Mensch“ (Turgeniew)

Giorgio Bassani (1916 Bologna – 2000 Rom) ist in Deutschland 1963 besonders durch seinen Roman „Die Gärten der Finzi-Contini“ bekannt geworden. Im Mittelpunkt aller Schriften steht die Stadt Ferrara, womit sich Bassani in die Reihe der großen Schriftsteller einreiht, welche die Gesellschaft im Mikrokosmos einer Stadt beschreiben wie Balzak und Zola: Paris, Thomas Mann: Lübeck, Döblin: Berlin, James Joyce: Dublin, Dos Passos: New York.
Bassani, der wie alle jüdischen Schüler und Lehrer im Faschismus aus dem Gymnasium geworfen worden war, war in der Nachkriegszeit eine herausragende Persönlichkeit des italienischen Kulturlebens. Er fungierte als Redakteur, Lektor, Herausgeber, Vizepräsident des staatlichen Fernsehens RAI, Drehbuchautor (bei Antonioni) und Dozent, und er war mit vielen Schriftstellern und Künstlern befreundet, darunter Morandi, Pasolini, Ginzburg, Carlo Levi. Als Lektor beim linksorientierten Feltrinelli-Verlag brachte er den „Leopard“ von Guiseppe Tomasi di Lampedusa heraus, nachdem er den befreundeten Schriftsteller dazu gebracht hatte, das großartige Buch überhaupt zu schreiben. Auch das verdanken wir Bassani. Visconti hat den „Gepardo“ mit Burt Lancaster als Pricipe kongenial verfilmt.) Als anspruchsvoller Stilist, der seine Romane so akribisch überarbeitete wie Flaubert, wurde Bassani mit fast allen Preisen des Literaturbetriebs geehrt.

Obwohl aus großbürgerlichem Hause – viele jüdische Bürger waren in Ferrara in der faschistischen Partei – geht er als Jude und überzeugter Antifaschist in den Widerstand, wird 1943 verhaftet und ins Gefängnis geworfen. In der Zeit der „Dopoguerra“, die in Italien durch die erbitterte Auseinandersetzung zwischen Kommunisten und Konservativen gekennzeichnet war – eine Auseinandersetzung, die wir hier meist nur als burlesken Streit zwischen Don Camillo und Peppone mitbekommen haben – erhob er seine Stimme unüberhörbar überall da, wo es um Gerechtigkeit und sozialen Fortschritt ging. Er war Mitbegründer und 15 Jahre lang Präsident von „Italia Nostra“, einer inzwischen in fast jeder Stadt vertretenen Organisation, deren Ziel es ist, die Kultur – und Naturgüter gleichermaßen zu bewahren. In dieser Funktion hat Bassani darauf hingewirkt, dass Ferrara um die sog. „Addizione Verde“, einen bis zum Po reichenden Park, erweitert wurde.

Ich will nun zum Thema kommen. Ich habe den Titel meines Vortrags „Der überflüssige Mensch“ nach einem Roman von Turgenjew gewählt. Er wird sich Ihnen bald erschließen.
Bitte versprechen Sie mir, das Buch gelesen zu haben und falls nicht, es bald zu lesen.
Und verstehen Sie, dass eine Analyse die Knochen eines Kunstwerks freilegt – oder wenigstens das, was der Analytiker für das Skelett hält. Das Fleisch, das einen Körper schön macht, interessiert hier nicht. Insofern ist das Analysieren bestenfalls messerscharf und knochentrocken. Das schicke ich voraus, um Sie nicht zu enttäuschen.

„Der Reiher“ ist Bassanis letzter – und wie Kenner sagen – bester Roman.

Als Soziologe erlaube ich mir, den Text unter einer einzigen Hypothese zu untersuchen. Ich behaupte – ob Bassani das beabsichtig hat oder nicht –, dass der „Reiher“, einerseits von Herrschaft handelt, verstanden als Macht über andere und insofern als Souveränität des Handelns, die einen beträchtlichen Freiheitsspielraum voraussetzt, und andererseits von der Zugehörigkeit zu den anderen, die nur mit Einbußen an Souveränität möglich ist. Herrschaft und Zugehörigkeit sind beide ur-soziologische Kategorien. Die beiden Fragen: Wie weit bin ich ein freies, selbst bestimmtes und andere bestimmendes Individuum und wieweit muss ich mich an die Gesellschaft anpassen, machen das aus, was man die conditio humana im soziologischen Sinne nennen kann, eine basale Lebensbedingung, denn für jeden Menschen sind die beiden widersprüchlichen Kategorien Souveränität und Zugehörigkeit bzw. Freiheit und Anpassung fundamental.

Edgardo Limentani, der Protagonist, ist ein 45-jähriger Grundbesitzer, Jude, verheirat mit der „arischen“ Nives, der sein Vater 1939, als auch in Italien die in Deutschland ausgebrüteten Rassegesetze zu greifen begannen, sein 400 ha großen Landgut – die Montina – vermacht hat – vorausschauend, nämlich um der Enteignung durch die Faschisten zu entgehen. Limentani wohnt an der Via Montebello – welche direkt auf den jüdischen Friedhof führt, wie ich feststellen konnte, als ich in Ferrara war, um einige der letzten noch lebenden Freunde Bassanis für unsere Veranstaltung zu befragen. Diese Ausrichtung der Straße kann als erste Andeutung auf den Ausgang der Geschichte über den Reiher gelesen werden.

Edgardo Limentani steht in der Frühe auf, um nach langer Zeit einmal wieder auf Entenjagd in den Valli zu gehen, dem Sumpfgebiet, das der Stadt Ferrara vorgelagert ist. Der Hausmeister erblickt seinen Herrn und zieht die Mütze. Limentani ist Jurist – sein Doktordiplom hängt an der Wand – und Grundbesitzer, er ist ein Herr. Doch ist er wirklich ein Herr? Nicht nur gehört die Montina jetzt seiner Frau, die mit dem Verwalter vertrauliche Gespräche zu führen pflegt, sondern Limentani traut sich auch nicht mehr auf das Gut, seitdem ihn die kommunistischen Landarbeiter mit erhobener Hacke bedroht haben, um höhere Löhne zu fordern. Er hatte nachgegeben, sein Versprechen aber nicht gehalten. Er befürchtet, dass die „sozialistisch-kommunistische Flut“ weiter ansteigt und die Gutsbesitzer bald abdanken müssen Grundbesitz, Doktortitel und die Jagd charakterisieren ihn als traditionellen Herrn. Doch: „Die Zeiten des Lächelns, in denen man höflich den Hut zog und sich verbeugte, waren vorbei“. Limentani fühlt sich heute, 1947, von den Arbeitern bedroht – vor den Faschisten hatte er immerhin noch in die nahe Schweiz fliehen können. Für seine Frau Nives fühlt er Verachtung, sie stammt aus der Bassa, dem platten Land und spielt jetzt die Dame. Aber er verachtet auch sich selbst, wie er sich angesichts seines Spiegelbildes eingesteht. Er findet sich kläglich und unsympathisch. Warum geht er überhaupt zur Jagd? Denn Lust dazu hat er keineswegs. Es ist 4 Uhr morgens und es ist feucht und windig.

Die Jagd ist ein traditionelles, früher fürstliches Herrenvergnügen, der – uneingestandene – Genuss und die Demonstration von Macht über Leben und Tod. Vor den Faschisten ist Limentani geflohen, vor den Landarbeitern fürchtet er sich, seiner Frau geht er aus dem Wege, die ihn dazu auffordert, sich auf dem Gut sehen zu lassen: kurzum er sieht nicht nur kläglich aus, er ist kläglich. Aber er geht doch auf die Jagd. Ein kläglicher Herr, unfähig noch Herrschaft auszuüben, aber demonstrieren will er sie doch. Er will seinen sozialen Status nicht verlieren. Am sichersten hat Limentani sich bisher in der kleinen Wohnung seines Hausmeisters Manzoli gefühlt. „Hier war er wirklich und wahrhaftig zu Hause! Auf die Manzolis konnte er sich verlassen.“ Manzoli ist zufrieden, dass Limentani endlich mal wieder auf die Jagd geht, d.h. dass er zeigt, dass er ein Herr ist. Wie viele Bedienstete sind die Manzolis sehr konservativ. Sie mögen Limentanis Frau Nives nicht, weil sie von unten kommt und sich als Herrin aufführt, während doch die einzige Herrin des Hauses für sie die Signora Erminia ist, Edgardos über 80jährige Mutter. Zwischen den Hausmeistersleuten und dem Avv. Limentani herrscht das herkömmliche patriachalische Verhältnis.
Die Manzolis bitten ihn unerwartet, ein Wort mit ihrem Schwiegersohn, einem gewissen William zu reden, den sie für einen Tagedieb und Kommunisten halten, weil er nichts arbeitet, während ihre Tochter Irma sich abrackert „Kommunist? Man brauchte ihm nur zuzuhören, wie er sich in seinem Radio-Italienisch ausdrückte, glatt und ungezwungen …“ Man darf davon ausgehen, dass das Hausmeisterehepaar Dialekt sprach und ihr Herr wenigstens eine herablassende Dialektfärbung erkennen ließ, um seine Verbundenheit mit den Leuten und seine Bodenständigkeit als Gutsbesitzer zu zeigen. Wer dagegen Radio-Italienisch spricht, gibt zu verstehen, dass er auf die lokalen Traditionen nicht viel gibt, überall in Italien arbeiten und leben könnte, und wohl möglich höher hinaus will. William, der junge Elektriker, flösst ihm Widerwillen und Furcht ein. Nein, der Advokat würde nicht tun, was man von ihm als Patriarchen erwartet. „Und jetzt war auch die Küche der Manzolis plötzlich unbewohnbar für ihn geworden.“ Warum? Weil er nicht mehr fähig ist, die Rolle des Herrn zu spielen. Der Elektriker gehört der jungen Generation an, die wohl alles zum noch Schlimmeren verändern würde. Dass er einen anglo-amerikanischen Namen trägt – William – mag eine Erinnerung an einen amerikanischen Besatzer sein – unehelich ist der William wohl möglich. Wie dem auch sei: Limentani verhält sich auch hier nicht wie ein Herr, der für seine Leute sorgt, wenn sie Probleme haben. Der Gutsbesitzer steuert nun seine alte Aprilia (das ist die Limousine der Status-Marke Lancia, die der Marke Mercedes in Deutschland entspricht) – auf die Straße nach Codigoro – ein kleiner Ort, der vor den Valli, den Sümpfen, gelegen ist.

„Wie überlebt er war“ merkt der Protagonist nicht erst angesichts der jungen Kommunisten, die Radio-Italienisch sprechen. Auch sein Cousin Ulderico Cavaglieri kommt im Unterschied zu ihm in der Welt sehr gut zurecht. Ulderico war rechtzeitig von Ferrara nach Codigoro gegangen, hatte schon 1932 katholisch geheiratet und sich taufen lassen. Er hatte nicht wieder eine Villa bezogen wie zuvor in Ferrara, sondern mit einer Mietwohnung Vorlieb genommen, im einzigen Hochhaus von Codigoro – ein fortschrittlicher Mann also wohl. Er lebte „im Schutz seiner stattlichen, patriachalisch-katholischen Familie“ und musste sich weder vor den Faschisten, der SS noch den Kommunisten fürchten, während Limentani hatte in die Schweiz flüchten müssen. Ulderico hatte sich als flexibel gezeigt. Er war sogar in die faschistische Partei eingetreten. (Zu den Merkwürdigkeiten des italienischen Faschismus, wie er unter Italo Balbo in der Gegend Ferraras vertreten wurde, gehört es, dass viele Juden Parteimitglieder waren – solange, bis die deutschen Rassegesetze von 1938 auch in Italien durchgesetzt wurden) Der Avv. Limentani war nicht in der Partei. „Nicht weil er dagegen gewesen wäre,“ sondern aus „dem Mangel an sozialem Empfinden“ Was heißt das? Das heißt, dass Limentani immer eine Distanz wahren möchte, er will sich nicht gemein machen. Er mag keine Kumpanei, nicht das dumpfe Miteinander der Völkischen, er will den Status eines Herrn wahren. Die Vorstellung, dass er es in dieser Partei mit Typen wie Bellagamba zu tun gehabt hätte, dem Korporal der faschistischen Miliz, der damals auf der Piazza von Codigoro vor der Casa del Fascio Posten zu beziehen pflegte und ihn drohend musterte, weil er Jude war, hätte er nicht ertragen. Nun, nach dem Kriege, hat Bellagamba seine ehemalige Schenke Bosco Elìceo zu einem Restaurant herausgeputzt. Und auch der sprach „ein gewandtes, flüssiges, korrektes Italienisch.“ wie Limentani feststellt, als er auf seiner Fahrt zur Jagd in den Valli so frühmorgens mit größter Überwindung bei ihm anklopft, um den alten Faschisten um einen Gefallen zu bitten. Er muss nämlich – wie erniedrigend! – sehr dringend auf die Toilette, und die Cafés haben noch geschlossen. Der höchst erstaunte Bellagamba zeigt sich höflich und, ja, komplicenhaft. Ein feindseliger Empfang wäre Limentani allerdings lieber gewesen, „bei dem es ihm überlassen geblieben wäre, dann die Rolle des großzügig Verzeihenden, des vornehmen Herrn zu spielen, der über gewisse Dinge hinwegsieht.“ Zu verzeihen nämlich, wie verächtlich er von Bellagamba während des Faschismus behandelt worden war. „Und was sollte die Pose des Mitverschworenen, in der sich Bellagamba gefiel?“ Denn der hatte zunächst einen Schreck bekommen, als so früh und unvermutet bei ihm angeklopft wurde. „Denn die Kommunisten waren heute die absoluten Herrscher in Codigoro.“ Bellagamba nahm also wohl an, dass die Kommunisten ihn abholen könnten, wie es die Faschisten getan hatten, im Morgengrauen – und musste nicht auch der Gutsbesitzer heute die Kommunisten fürchten? Das war die Gemeinsamkeit, auf die der Wirt komplicenhaft anspielte. Aber: „keine plumpen Vertraulichkeiten!“ Nicht mit Limentani. Erst als Bellagamba demütig in den Dialekt übergeht und einschmeichelnd fragt, was denn den Herrn Rechts-anwalt in diese Gegend verschlagen habe, gewinnt dieser sein Selbstvertrauen zurück. Und erst dann entschließt er sich, den Wirt nach der Toilette zu fragen. Die Situation ist lächerlich genug: Limentani, der seinen Herrenstatus als Jäger demonstrieren möchte, und in jedem Moment ängstlich darum besorgt ist, ihn zu wahren, muss seinen ehemaligen Todfeind darum bitten, bei ihm aufs Klo gehen zu dürfen. Er macht sich vor Bellagamba fast in die Hose. Die Situation ist zutiefst lächerlich. Dass er ein Mann von gestern war, gesteht er sich auf dem Weg zur Toilette ein, als er feststellt, dass Bellagamba „wirklich alles in großem Stil getan hat“ Alles im Hause war neu. „Die einzigen, die an den Stromkreis der Bankkredite nicht angeschlossen waren, das waren die paar Landwirte alten Stils, die noch übrig geblieben waren“ Solche wie er nämlich. Die bauten wie gewohnt ihren Weizen, Hanf oder Zuckerrüben an und würden mit oder ohne Kommunisten bald von der Entwicklung weg gefegt werden. Vergeblich hatten ihm seine Frau Nives und der Verwalter vor Augen gehalten, mit den traditionellen Kulturen Schluss zu machen und wie die anderen „ausschließlich Obst anzubauen“. Der gewisse William, der Schwiegersohn des Hausmeisters, sein Vetter Ulderico und auch der alte Faschist Bellagamba, sie alle kamen mit der neuen Zeit zurecht, Limentani nicht – denn das hätte bedeutet, auf den Status eines traditionellen Herrn zu verzichten. „Ein anderer, nicht er.“ Er hätte um Bankkredite bitten müssen, er hätte sich mit seinen Arbeitern herumstreiten müssen. Bitten und streiten, nein! Hier wäre ein Vergleich mit Lampedusas „Gepardo“ sehr interessant, insofern es auch dort um die Anpassungsfähigkeit derer geht, die einmal die Herren waren.

In Kapitel 6 des Buches wird das zweite Motiv, das ich für wichtig halte, deutlich angeschlagen: die Frage nach der Zugehörigkeit bzw. der Ausgrenzung. Dieses Problem, das heute unter dem Begriff der „Integration“ sozialpolitisches Gewicht bekommen hat, beschäftigt die Soziologie seit langem und ist in der Literatur exemplarisch von Franz Kafka in seinem großen Werk „Das Schloss“ thematisiert worden. In der langen Geschichte ihrer Diskriminierung haben Juden für das Problem der Ausgrenzung ein scharfes Bewusstsein entwickelt.

Bellagamba hat Limentani inzwischen zu einem Morgenkaffee im gegenüber liegenden Café Fetman eingeladen. Gegen den Willen des Gutsbesitzers sind sie einander doch weiter näher gekommen, denn Bellagamba möchte Limentani gern dessen Wagen abkaufen, er braucht nämlich für die Einkäufe seines Restaurants ein Auto. Der ehemalige Faschist und der Ferrareser Jude gehen zusammen über den Platz „wie alte Freunde“. Ich stelle mir vor, dass Bellagamba in seiner Zudringlichkeit den Rechtsanwalt so vertraulich untergehakt hat, wie es in Italien unter Männern Sitte ist. Limentani möchte im Café mit seinem Vetter Ulderico telefonieren, denn er würde ihm auf dem Wege in die Valli ganz gern einen Besuch abstatten. Als er dem Mann an der Theke, der ihn wie irgendwen behandelt, sagt, dass er mit dem Ingenieur Ulderico Cavaglieri sprechen möchte, erwiderte der „plötzlich beflissen“: Sofort.“ „Als er auf die Kabine zuging, fragte er sich neiderfüllt, wieso er nur den Namen seines Vetters zu nennen brauchte, um auf einmal höflich behandelt zu werden.“ Aber er kann sich die Frage leicht beantworten. „Wenn jemand fünfzehn Jahre in einem Städtchen mit nur ein paar tausend Einwohnern wohnte, mit einer Frau, die dort geboren war, und einem Haufen Kinder, dann gehörte er am Ende dazu.“ Ulderico, der gehörte dazu – das Thema der Zugehörigkeit wird hier explizit formuliert. Im Unterschied zu ihm war sein Vetter offensichtlich geachtet und im Unterschied zu ihm war er problemlos integriert. Ulderico hatte sich vor fünfzehn Jahren – also 1932 – „plötzlich entschlossen, alles hinter sich zu lassen, die erste beste Frau zu heiraten, eine, die gerade zur Hand war, sich taufen zu lassen und eine Familie und einen Hausstand in der Bassa zu gründen, praktisch gesprochen: zu verschwinden.“ Das heißt Ulderico hatte sich bis zur Unkenntlichkeit angepasst – was im faschistischen Italien wohl möglich war, wenn man sich taufen ließ. Limentani aber war Jude geblieben. Er hatte sich nicht angepasst – als ein Herr.
Da der Ingenieur noch nicht aufgestanden war, verlangt Limentani, dessen Frau Cesarina zu sprechen. Die Bedienstete solle sagen: „Ihr Vetter aus Ferrara“. Das über die Lippen zu bringen, hatte ihn eine beträchtliche Anstrengung gekostet.“ Denn Cesarina ist ihm fremd, und Verlegenheit und Dünkel machen ihn befangen. Dünkel? Gewiss. Auch Uldericos Frau ist aus der Bassa wie seine eigene – Nives. Statt ihrer spricht ein kleiner Junge in den Apparat – im Hintergrund spielen die anderen Kinder Fußball in einem offenbar sehr geräumigen Zimmer. „Er blieb stehen, den Hörer ans Ohr gepresst, und lauschte mit einer Art sehnsüchtiger Gier, gegen die er sich vergebens wehrte, auf Stimmen und Geräusche.“ Doch gleichzeitig denkt er, sich mit vielen Kindern zu belasten, das müsse „einfach die Hölle“ sein. Und nach dem Gespräch mit dem Kleinen fühlt er sich „von einer brennenden Sehnsucht ergriffen, in den Valli zu sein – ganz allein.“ Der Wunsch dazuzugehören mischt sich mit dem Wunsch, nicht dazu zu gehören. Hier zeigt sich wieder das, was er als „Mangel an sozialem Gefühl“ an sich festgestellt hat: anstatt dazuzugehören, sei es zu einer Partei oder zu einer großen Familie, bleibt er lieber allein – ein Herr, wenigstens dem Anschein nach, doch einer, der sich heimlich sehnt, dazuzugehören.
Man kennt dieses „gemischte“ Gefühl, auch ohne Jude zu sein. Die Frage, gehöre ich dazu oder nicht, und wenn ich dazugehöre, will ich das überhaupt, kennt jeder, der einerseits nicht ausgegrenzt werden, aber andererseits auch nicht in der Herde laufen will. Bassani thematisiert nicht ein Problem, das nur Juden haben, wir alle kenne es.

Bellagamba will Limentani inzwischen davon abhalten, auf die Jagd zu gehen. Es sei schon zu spät für die Jagd, sagt er, das Wetter sei schlecht, Nebel komme auf. Bellagamba will gern die Verkaufsverhandlung weiterführen, vermute ich. „Soll ich Ihnen nicht lieber ein Zimmer richten und ein Bett beziehen lassen?“ fragt er, die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. Wie gewöhnlich zwinkerte Bellagamba ihm zu.“ Und er hörte (ein wenig später) wieder die einschmeichelnde Stimme Bellagambas: „Hören Sie auf mich, und fahren Sie nicht weiter!“ „Doch nein, er durfte nicht aufgeben, nicht resignieren.“ Resignieren, das hieße, der Verführung Bellagambas nachzugeben, hieße sich hinabziehen zu lassen in die Kumpanei mit dem alten Faschisten, der sich nicht schämt, dem Juden den römischen Gruß zu entbieten, hieße sich ins warme Bett zu legen, anstatt mit einer letzten Anstrengung hinaus zu fahren, um den Herrn zu spielen. Bellagambas Restaurant erscheint ihm als dunkle Höhle, Bellagamba mit seinen behaarten Händen, seinem Stiernacken und seiner Brust wie die einer Frau hat etwas Animalisches, der Geruch seiner Achselhöhlen ekelt den Rechtsanwalt. Bellagamba, das ist die warme Nähe, die komplizenhafte Gemeinschaft – doch als Herr, der er ja immer noch sein will, muss Limentani kalte Distanz wahren. Er sehnt sich nach „einem Platz, so ruhig, so sicher, so weit fort von allem und allen“. Diesen Platz wird er zum Ende des Romans finden.
Schließlich, nachdem er Codigoro verlassen hat, trifft er bei den Valli auf Gavino, den Mann, den ihm sein Vetter als kundigen Jagdbegleiter geschickt hat, ein junger, gelassener Mensch von militärischer Knappheit – und auch er spricht ein ruhiges, korrektes, fast akzentloses Italienisch. Er war aktiver Partisan gewesen, wahrscheinlich Kommunist. Das ist beunruhigend auch darum, weil das akzentlose Sprechenkönnen eigentlich Sache der Herren ist, die sich hin und wieder herablassen, auch Dialekt zu sprechen, um ihre Verbunden-heit mit den Leuten zu zeigen. Akzentloses Italienisch, das war ein Anspruch auf mehr. Vielleicht sogar Studium. Bescheidene Landleute sprachen nur im Dialekt und drehten dazu verlegen die Mütze in der Hand, das machte einen Teil ihrer Unbeholfenheit aus und gibt dem Herrn Gelegenheit zur Herablassung.

Bevor Limentani zur Jagd geht, will er noch einen Imbiss nehmen. Es gibt dort eine Baracke mit einigen alten Männern und einfachen Lebensmitteln. Die Baracke kommt ihm wie eine „Schutzhütte“ vor. „Wie glücklich er hier wäre.“ Glücklich, weil es hier so ähnlich war wie in der Hausmeisterwohnung, die er nun nicht mehr betreten wird, weil er nicht mit dem Radio-Italienisch sprechenden Schwiegersohn des Hausmeisters zusammen treffen möchte. Hier, in der Schutzhütte war alles wie früher. Auf Gavinos Gesicht, der im Unter-schied zu Bellagamba schweigsam ist, meint er einen „unbestimmten Ausdruck von Spott“ zu erkennen, das heißt einen Mangel an Respekt gegenüber dem Herrn. Gavino hält auf Distanz, obwohl er doch Grund hätte; eine Bemerkung darüber zu machen, dass er viele Stunden lang an einer Straßenbiegung hatte warten müssen. Limentani bereut es, ihn mit dem Auto mitgenommen zu haben. Das Picknick, das er sich in der Baracke hat einpacken lassen, schmeckt ihm nicht.
Er bietet nun das bereits angebissene Brot Gavino an und schämt sich im selben Augenblick. Vermutlich weil er fürchtet, Gavino könne das als Herrengehabe missverstehen aus einer Zeit, als die Bediensteten von den Resten lebten. Um das wieder gut zu machen, bietet er ihm eines der beiden Gewehre an. „Ein Gewehr?“ fragte Gavino überrascht. Er lehnt ab. „Jeder bleibe bei seiner Rolle“, meint er. Das heißt, Entenschießen ist Herrensache. Gewiss, aber Ablehnen, Distanz halten ebenfalls. Wie ein Herr lehnt Gavino ab, was traditionell Herrensache ist. Limentani – von oben bis unten in Jagdkleidung verpackt – steigt in die im Wasser schwimmende Tonne – das ist der in den Valli übliche, sozusagen schwimmende Anstand. Doch am Ende willigt Gavino ein, nimmt das Gewehr und „zeigt im Umgang mit der Waffe die Geschicklichkeit und Unbefangenheit eines überaus geübten Mannes.“ „Pam-pam. Pam-pam-pam. Pam-pam-pa-pan. Pam-pam-pam-pam-pam“ . In kurzer Zeit stieg die Zahl der von Gavino abgeschossenen Vögel auf etwa dreißig. Er hingegen in seiner Tonne kauernd, tat nichts. Er sah zu; und das war alles.“ Ja, die Position des Herrn könnte Gavino ohne weiteres einnehmen. Er, Limentani, hat es aufgegeben, den Herrn zu spielen. Wie gelähmt erlebt er seine eigene Unfähigkeit. Leute von der Art Gavinos, das waren die kommenden Leute. Andererseits, war Gavino „trotz seines Gehabes halb als Herr, halb als KP-Mitglied, und seiner stolzen Weigerung, auch nur das geringste Geschenk anzunehmen, und seien es nur ein paar Enten,“ doch „ein armer Teufel“, ein Tagelöhner. Aber einer, der sozusagen den Marschallstab im Tornister trug, einer, aus dem ein Parteisekretär oder ein Bürgermeister werden könnte. Stolz ist er. Schenken lässt er sich nichts, der Kommunist. Auch der William: ein Kommunist. Auf seinem Landgut: Kommunisten. Überall Kommunisten.
Und nachdem sie das tote Geflügel in dem Kofferraum verstaut haben, rast Limentani die Straße nach Codigoro zurück, „als ob ihm Gavino schon auf den Fersen wäre.“ „Er hat die anhaltende Empfindung, verfolgt zu werden.“ Von wem? Von Gavino, dem Vertreter der neuen Zeit, dem Kommunisten, dem er sich ebenso wenig gewachsen fühlt wie dem sogenannten William, der nicht Dialekt sprechen will, wie es sich für einfache Leute gehört.. Diese Flucht ist das Eingeständnis seiner Unterlegenheit.
Aus der Anthropologie und Soziologie weiß man, dass das Schenken das uneingestandene Ziel hat, sich andere Menschen zu verpflichten. Das Schenken ist also mitnichten altruistisch, auch wenn es dem Schenkenden so vorkommen mag, sondern ein Herrschaftsakt. Darum beschenken die Herren ihre Ehefrauen und Geliebten so reichlich. Die sind dann zu Dank verpflichtet. Darum versuchen viele Menschen, Geschenke abzulehnen. Die üblichen Ablehnungen: „Das kann ich nicht annehmen!“, „Das soll für mich sein?“ Und der Beschenkte muss dann versuchen, sich zu revanchieren. Das militärische Wort „Revanche“ lässt erkennen, dass der Austausch von Geschenken weniger friedlich ist, als es aussieht. Es geht dem Beschenkten darum, wieder Äquivalenz herzustellen und das Sozialverhältnis aus zu balancieren. Damit dies nicht geschieht und seine Verpflichtung bleibt, müssen Geschenke möglichst groß sein. Also etwa die ganze Jagdbeute, etwa 40 Vögel wird Limentani dem Bellagamba schenken, um den Herrn heraus zu kehren. Auf der Fahrt nach Codigoro stellt er sich das Restaurant vor, ein Milieu, „das heute eine so starke, ja unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn ausübte.“ Warum? Er würde so gern dazugehören. Und als er ankommt, hört er ein „Durcheinander von Stimmen und Geschirrklappern“ und findet, „was er suchte: Frieden, Sicherheit, unerschütterlich gute Laune, innere Ausgeglichenheit.“ Geborgenheit also, die er bei den Hausmeisterleuten glaubt, nicht mehr finden zu können, und von der er in der Baracke („der Schutzhütte“) träumte. Bellagamba eilt ihm mit offenen Armen entgegen, er „überließ sofort die Tischgesellschaft (fremde Herren aus Mailand) sich selbst.“ Bellagamba zwinkert vertraulich, aber behandelt ihn sofort als Herrn. Limentani will essen, viel essen. „Er stürzte sich auf die Vorspeisen.“ Dieser Heißhunger ist nicht nur der Wunsch, einmal richtig zu leben, sondern auch das Bedürfnis, so zu sein wie die anderen. Essen ist seit je eine Prozedur zur Stiftung und Bestätigung von Gemeinsamkeit – kirchlich ritualisiert im gemeinsamen Verzehr der Hostie. Das Gefühl dieser Gemeinsamkeit beginnt mit dem Vernehmen des Geschirrklapperns und entsteht auch dann, wenn man zwar im selben Speiseraum, aber nicht am selben Tisch sitzt. Und Limentani schlingt und trinkt bis zum Ekel. Stärker als zuvor „ergriff ihn ein Gefühl von Neid“ angesichts der anderen Gäste, die im Restaurant speisten. „Wie zufrieden mit sich die anderen waren, wie gut sie es hatten, die anderen! Wie gut verstanden sie, ihr Leben zu genießen.“ Anstatt es sich gut sein zu lassen, „fiel er wieder in seine üblichen Grübeleien zurück.“ Wie gern würde er dazugehören. Das da war die Welt, in der man aß und trank und sich dann in einem der Zimmer von Bellagambas Etablissement von einer Hure bedienen ließ. Eine einfache Welt, ein wenig tierisch, eine niedere Welt, in die ihn der Wirt mit dem Stiernacken, dem Boxergebiss und den Tieraugen hinein – und hinabziehen will. In dieser Gemeinschaft von schmatzenden, lachenden und einander zu zwinkernden Männern kann er den Status eines Herrn aber nicht aufrecht halten, denn dazu braucht es Distanz. Und die Grübeleien, das waren wohl die trüben Gedanken, die er sich als Grundbesitzer und Herr darum macht, weil man ihn nicht mehr so selbstverständlich respektiert wie früher. Da fällt ihm wieder ein, Bellagamba die gesamte Jagdbeute zu schenken. „Wohlgemerkt: Es ist ein Geschenk“, betont er, denn Bellagamba hat verschmitzt zu lächeln begonnen, weil er glaubt, der Rechtsanwalt wolle ihm ein Geschäft anbieten, „ein bisschen Wild gegen ein Essen, vielleicht eine Übernachtung dazu“. Bei einem solchen Handel hätte Limentani sich auf die soziale Stufe von Bellagamba herabgelassen, aber mit einem so großzügigen Geschenk, das schwer zu entgelten war, zeigt er sich dagegen als Herr. Aber Bellagamba lässt nicht nach, den Rechtsanwalt vereinnahmen zu wollen. Er kommt wieder darauf zurück, ihm sein Auto, seine Aprilia, abzukaufen. Durch das Geschäft hätten sich beide wieder auf gleicher sozialer Stufe befunden. „Aber statt es ihm zu verkaufen, wäre es beinahe besser, es ihm zu schenken, zusammen mit allen Vögeln.“ Das wäre ein so großes Geschenk, durch das er zwischen sich und den schmierigen, komplicenhaften Bellagamba eine unüberbrückbare Distanz herstellen würde. Zusammengefasst: Bellagamba will über den Ankauf des Autos, über einen Handel, die Gleichheit herstellen, die zwischen Geschäftspartnern herrscht. Limentani dagegen will über ein nicht zu übertreffendes, großes Geschenk den Status herrschaftlicher Überlegenheit bewahren.

Das von Limentani verabscheute höhlenartige Milieu wird drastisch durch die grauenhaft schmutzige Toilette dargestellt, in die er sich begeben muss. Da hat er Gelegenheit, sein beschnittenes Glied zu betrachten: „Da schau dir das an, grinste er. Grau, dürftig, nicht der Rede wert.“ Nimmt man dazu, dass er mit seiner fett gewordenen ehemaligen Geliebten und jetzigen Ehefrau seit einer Ewigkeit nicht mehr geschlafen hat und dass ihn die im Restaurant in einer Ecke aufdringlich lächelnde Hure erschreckt, wird klar, dass er nicht nur kein Herr, sondern auch im physischen Sinne kein ernst zu nehmender Mann ist. Er verachtet sich. Diese Verachtung wird noch einmal in seinem Traum bestärkt, als er überfressen, angetrunken und todmüde in einem der kleinen Zimmer eingeschlafen ist, zu dem er sich – lächerlich vollgepackt mit allen möglichen Jagdutensilien – Stufe für Stufe mühsam hoch geschleppt hat, kafkaesk beschrieben wie ein Albtraum. Er träumt dort von der Hure, deren „Zunge dick und kurz war, tierisch in der Form“. Auch ihre Augen waren wie die „mancher Tiere auf dem Lande“ Sie hatte dicke Schenkel und ihr Haar hatte „den Geruch von geröstetem Aal“ Sie arbeitete im Bosco Elìceo vielleicht „nicht einmal als ein Zimmermädchen, sondern tatsächlich als Küchenmädchen.“ Diesem tierähnlichen niederen Wesen erklärt er – im Traum – er habe für sie keine Zeit, weil er „zur Jagd in den Valli“ fahren müsse. Sogar im Traum kehrt er seinen Herrenstatus hervor. Und dann sagt die Hure, als sie ihm trotz seines Widerstandes die Hose aufknöpft, „Du bist tatsächlich ohne“. Wie lächerlich, einer der Herr sein will und nicht einmal ein Mann ist – und das als Italiener. Diese erniedrigende Szene – teils im Traum, teils in Wirklichkeit – schließt sich unmittelbar an jene an, die er im Restaurant „voller Bitterkeit“ erlebt. Er betrachtet die laut tafelnde Jagdgesellschaft aus Mailand um den Comendatore Ceresa. Mehr noch als die teure Jagdausrüstung dieser Industriellen, die ihm Bellagamba ehrfürchtig als „Leute mit viel Geld, sehr viel Geld“ preist, ärgert ihn „die Art und Weise, wie sie fünf oder sechs überzählige Stühle mit ihren Sachen belegt hatten.“ Die neuen Herren machen sich mit großer Selbstverständlichkeit breit. Auswärtige. Mailänder. „Es war klar, dass in der Nähe solcher Leute alles, alles, Faschismus, Nazismus, Kommunismus. Religion, Familienangelegenheiten, Agrarprobleme, die Frage von Bankkrediten oder was Sie sonst wollen – dass dies alles mit einem Schlag jede Bedeutung verlor“ Neben diesen Neureichen war er – ein herkömmlicher Grundherr – ein Nichts. „Es war ihr Zaster, wie Bellagamba augenzwinkernd sagte.“ Der Zaster verlieh ihnen diese Sicherheit und den Anschein, als gehörten sie zu einem anderen, gesünderen Menschenschlag, als wären sie höhere Wesen. Vor dem großen Geld, d.h. vor dem erfolgreichen Kapitalismus wird es unwesentlich, ja lächerlich, ob Menschen durch die Faschisten, die SS oder die Kommunisten verfolgt werden. Diese armen Leute vom Schlage Limentanis sind bloß die Kosten der Geschichte, die Geschichte des fortschreitenden, sich ausbreitenden Kapitalismus. Limentani fühlt sich angesichts dieser Exemplare einer kraftstrotzenden Species von Parvenüs als das, was in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, „überflüssiger Mensch“ genannt wurde, der Vertreter einer untergehenden Schicht, nämlich der Schicht der adligen Grundbesitzer. Bassani kannte Tschechov und Turgenjew natürlich, dessen „Tagebuch eines überflüssigen Menschen“ dem Typus den Namen gab, dessen Haupteigenschaften der Selbstzweifel und die Unfähigkeit zu handeln ist – was ja auf den Protagonisten von „Der Reiher“ genau zutrifft.
Bei den Gründen zur Ausgrenzung des Avv. Limentani handelt es sich um zwei nacheinander wirkende Kräfte: als Jude hatte er die Ausgrenzung während des Faschismus erfahren, konnte sich aber in die Schweiz retten – der Faschismus ist nun vorbei – doch jetzt, in der Dopoguerra, ist er als Grundbesitzer ein „überflüssiger Mensch“, da er nicht die Flexibilität besitzt, sich den neuen Verhältnisse anzupassen, etwa als Unternehmer wie die Herren der Tischgesellschaft – aber dann, dann wäre er eben nach seinen Vorstellungen kein Herr mehr gewesen.
Auf andere Weise ist dieser Sachverhalt der Flexibilität Thema in Tomasi di Lampedusas berühmten und von Visconti kongenial verfilmten Roman „Der Leopard“, den Giorgio Bassani entdeckt und gefördert hat. Auch „Il gepardo“, der Fürst, der ebenso stolze wie tiefsinnige Repräsentant des Grundadels, ist der Vertreter einer zum Untergang bestimmten Klasse und ist müde. Ihm gegenüber steht Don Calògero, der Bürgermeister, der tüchtige, ehrgeizige und gerissene Vertreter des unaufhaltsam aufstrebenden Bürgertums. Der Fürst ist noch unbestreitbar der Herr, der jedoch in dem unbeholfenen, verlegenen Bürgermeister, der täppisch jede Etikette verletzt, den künftigen Machthaber erblickt, mit dem es gilt, sich zu arrangieren. „Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich verändert“ verabschiedet sich der (vom jungen Allain Delon) gespielte Neffe Trancredi vom Fürsten und formuliert in diesem programmatischen Satz die Maxime, nach der die abgelebte Schicht des Grund-adels überleben kann. Der Fürst ist bereit, Kompromisse zu machen, der kleine Landbesitzer Limentani dagegen nicht. Er kann nicht. Warum? Weil er als Jude längst akzeptiert hat, ein überflüssiger Mensch zu sein.

Die Thematisierung der Nichtzugehörigkeit am Beispiel der Hausmeisterwohnung, der Baracke in den Valli, des Restaurants von Bellagamba wird ein viertes mal aufgenommen, als Limentani überlegt, ob er nach der Jagd seinen Cousin Ulderico noch besuchen soll, von dessen glücklichem Familienleben er schon morgens am Telefon einen Eindruck gewonnen hat, der ihn mit Neid erfüllt. „Und dann stellte er sich vor, wie es bei den Cavaglieris sein würde: warm, strahlend hell.“ Sogar der Familientrubel zieht ihn an und „erfüllte ihn mit Hoffnung und Sehnsucht.“ „Vielleicht – so malte er sich aus – würden alle, nach der Tasse Tee, nach der Scheibe hausgebackenen Brezelbrots und dem Glas süßen Albana, den man langsam zu dem Brot schlürfte, ihn drängen zum Abendessen zu bleiben… Vielleicht würde es wirklich so kommen. Und das wäre ja nur zu wünschen.“ So beschließt er, nochmals anzurufen. Am Hörer ist eine Frauenstimme, „eine tiefe warme, schleppende Stimme“. Cesarina, Uldericos Frau, duzt ihn sofort. Ulderico sei ausgegangen. Die Kinder seien im Kino. Sie sei allein und sie sagt, dass sie ihn erwarte. „Er hatte am Telefon nur ihr langgezogenes, an das Miauen einer Katze erinnernde ‚Jaaa’ zu hören brauchen. Sie musste groß, üppig und ruhig sein … Eine dieser schönen Frauen um die Vierzig, die ihn schon dermaßen in Erregung versetzt hatten …“ „Groß, üppig und ruhig. Und vor allem: Hure.“ Unentschlossen räsoniert er weiter. „Er (Edgardo) war zwar nicht gar so jung mehr – der Vetter aus Ferrara – doch ein Herr war er gewiss, genauso gut wie (Ulde)Rico, wenn nicht ein größerer.“ Er verlässt Bellagambas Restaurant und gelangt zu dem Hochhaus der INA, wo Ulderico und seine Familie wohnen, und Cesarina vermutlich im Bett liegt – er glaubt das Rascheln des Lakens gehört zu haben. Er berührt „leicht mit dem Zeigefinger den Klingelknopf – nicht um ihn zu drücken.“ Auch hier vermeidet er, sich um die Zugehörigkeit zu bemühen, was ihm als Vetter ja hätte leichter fallen können, und begnügt sich mit der Feststellung, dass er ein Herr und sie eine Hure sei. Grundlos bezeichnet er Uldericos Frau als Hure, also aus seiner Sicht als etwas tierhaft Niedriges wie die Hure in Bellagambas Lokal und erweist sich so als Macho, der eine Frau diskriminiert, weil er nicht mehr fähig ist, eine Frau zu befriedigen. Grübelnd wandert Limentani durch Codigoro. Wieder wird das Thema der Nichtzugehörigkeit aufgenommen – und zwar zusammen mit der Distanz, die Limentani gegenüber der Welt einnimmt, einnehmen muss, um als Herr zu gelten. Er macht aus der Not eine Tugend, wenn er feststellt: „Man brauchte die Dinge des Lebens nur aus einer gewissen Distanz zu betrachten, um zu sehen, was an ihnen war – nämlich nichts oder so gut wie nichts.“ Mag diese Distanz ein Schutz sein, so ist sie mit dem schmerzlichen Gefühl verbunden, nicht dazu zu gehören. Auf seiner Wanderung durch die Stadt erblickt er durch ein Fenster vier Kartenspieler in einer Gastwirtschaft, die ihm „dort, hinter Glas, eingeschlossen in diesem Zimmer dermaßen fremd und unerreichbar erschienen … Er meinte, vor einem gerahmten Bild zu stehen. Unmöglich, dort einzutreten. Es gab keinen Platz mehr, es fehlte der Raum.“ Und als er kurz darauf eine Kirche betritt, nimmt er „in einem Winkel Platz, um nicht gesehen zu werden.“ Nein, hier gehört er auch nicht hin. Die Zugehörigkeit wird also mehrfach thematisiert: die Hausmeisterwohnung, Bellagambas Restaurant, die Baracke in den Valli, die Wohnung Uldericos, die Kneipe mit den Kartenspielern und die Kirche. Bassanis „Der Reiher“ ist ein Buch über die Einsamkeit. Eine Einsamkeit, die nicht psychologisch, sondern soziologisch begründet ist.
Und dann kommt er auf seiner Wanderung durch Codigoro vor dem Laden des Tierpräparators zu stehen. Hier erst beginnt man den Titel des Romans „Der Reiher“ zu begreifen. Als Limentani in den Valli in seiner Tonne auf die Vögel wartete, von denen dann nicht er, sondern Gavino vierzig Stück herunter schoss, erblickte er einen Reiher, der sich für die Lockvögel zu interessieren schien. Gavino sagte: „Er schmeckt nach Fisch …, Aber ausgestopft macht er noch immer Eindruck.“ Hier wurde die Szene vor dem Laden des Tierpräparators vorbereitet. Gavino schoss auf den Reiher, traf ihn am Flügel. Der Vogel stürzte und kam „den Flügel im Wasser nachschleppend“ auf Limentanis Tonne zu, sodass er ihn ganz genau betrachten konnte. Er hatte „Gelegenheit, den Blick des Reihers ziemlich lange zu erwidern“ Limentani „versetzte sich in seine Lage.“ Wenn er auf den Reiher schösse, hätte er die Vorstellung „er schieße in gewissem Sinne auf sich selbst.“ Kurzum, Limentani identifizierte sich mit diesem verwundeten Vogel, dessen Situation Ähnlichkeit mit der seinigen zu haben schien. Das Thema der Zugehörigkeit wird nun vor dem Laden des Tierpräparators zum Finale geführt: fasziniert betrachtet Limentani – getrennt nur durch eine Glasscheibe – eine Welt für sich, „die greifbar nah und doch unerreichbar war. Auf der Schaufensterscheibe sieht er sein Spiegelbild. „Um diesen schattenhaften Rest völlig auszulöschen und sich einbilden zu können, da sei gar keine Fensterscheibe, tritt er so nah heran, dass seine Stirn fast an das Glas stößt. Und nun der entscheidende Satz: „Hinter dem Glas: Stille, vollkommene Bewegungslosigkeit, Frieden. Eins nach dem anderen betrachtete er die ausgestopften Tiere, prächtig in ihrem Tode, lebendiger, als wenn sie lebten.“ Diese Geschöpfe waren „für immer in Sicherheit, hinter der gläsernen Wand.“ Dies ist der Frieden und die Sicherheit, die er zuvor in der Hausmeisterwohnung, bei der Familie seines Cousins, in der Baracke, im Wirtshaus mit den Kartenspielern und zuletzt sogar in der Kirche vergeblich gesucht hat. Er blickt nun auf die ausgestopften Vögel, die „endlich ruhig, ohne zu erschrecken, ohne den Zwang, sich in der Luft halten zu müssen“ im Schaufenster aufgereiht waren. Sie waren nun „von einem Leben, das dem Verfall und der Gefahr nicht mehr ausgesetzt war.“ Sie erscheinen ihm vollkommen in „ihrer endgültigen und vor dem Verderben gesicherten Schönheit.“ Und er fühlt, „wie ein geheimer Gedanke sich langsam in ihm formte…ein Gedanke, der ihn frei machte, der ihn rettete.“
Limentani fährt nach Hause und bereitet in einer Kaltblütigkeit und Gelassenheit, die sich von seinen Gefühlen und Grübeleien während des Jagdausfluges krass unterscheidet, seinen Tod vor. Die Souveränität des Herren, die ihm als einem „überflüssigen Menschen“ verwehrt war, gewinnt er zurück ein einziges Mal, nämlich durch die Entscheidung, diese Welt zu verlassen. Er handelt. Der Freitod macht in frei und schafft ihm zugleich die Ruhe und Sicherheit, die er in seiner Sehnsucht, dazuzugehören, nicht finden konnte: Zugehörigkeit erlangt er zwar nicht zu den Lebendigen, aber zu den Toten. Dass man als Jude erst als Toter ein Mensch sein kann wie die anderen – denn der Tod macht ja zu guter letzt alle gleich –, das wäre ein bitteres Paradox. Aber Limentani stirbt nicht, weil er Jude ist – der Roman spielt in der Nachkriegszeit –, sondern weil er als „überflüssiger Mensch“ einer untergehenden Schicht angehört. Durch seinen Freitod kommt er seinem demütigenden Ruin zuvor. Dass der Konflikt zwischen Souveränität und Zugehörigkeit, der die conditio humana, also die Bedingung des Lebens – soziologisch betrachtet – ausmacht, sich erst im Tode löst, jedenfalls bei solch einem, wie Limentani, der zu wenig flexibel ist, um Kompromisse zu machen – kurz, dass man nur im Tode sowohl souverän und frei als auch dazugehörig sein kann, das ist Limentanis schreckliche Erkenntnis.

Geht man davon aus, dass ein Grundzug der Demokratie die Fähigkeit ist, Kompromisse einzugehen, dann ist der „überflüssige Mensch“ dekadent. Für Menschen wie Gorgio Bassani, der sich als „citoyen engagé“ dem sozialen und kulturellen Fortschritt verschrieben hat, ist Dekadenz zweifellos kritik-würdig. Der Avv. Limentani ist ein erbärmlicher Mensch, erbärmlich verstanden im Doppelsinn von verachtenswert wie bemitleidenswert. Als einen solchen stellt ihn Bassani mit subtilen Einfühlungsvermögen dar, als einen Unfähigen. Es sei dahingestellt, ob darin auch eine Kritik an den Juden mitschwingt, die sich nicht gewehrt haben, solange die Möglichkeit dazu bestand – wie Bassani selber, der zur Resistenza ging.