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(The Animal) Mit dem Hut in der Hand

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Ergebenster Diener: Bückling, Kratzfuß, Knicks, Kotau – und andere Arten, wie der Mensch zum Tier wird

Noch zu Hitlers Zeiten wurden die Söhne bürgerlicher Häuser dazu erzogen, höflich „den Diener“ zu machen. Dazu schlugen sie mit militärischem Knall die Hacken zusammen. Die Verbeugung ist wahrhaft höflich, denn sie war ursprünglich der Gruß der Untertanen bei Hofe. Vor der Obrigkeit beugte man tief den Nacken, machte den „Bückling“ oder den „Kratzfuß“ (wobei der Fuß scharrend nach hinten gezogen wurde) zum Zeichen der Demut, das heißt der Selbsterniedrigung: Kurzum, man machte sich niedriger und kleiner. „Zu Diensten“ war in Wort und Schrift zu älteren Zeiten der Ausdruck, mit welchem der Untertan seine Bereitschaft erklärte, Befehlen zu folgen und folgsam zu sein.
Im alten China, das bis ins 20. Jahrhundert andauerte, machten die Untertanen vor den Mandarinen viele Kotaus und drückten dabei die Stirn auf den Boden. Es gab auch gestaffelte Verbeugungen nur drei-viertel oder, etwas tiefer, vier fünftel. Im Abendland fordert die Unterwerfungsgeste zudem, den Hut zu ziehen, das Attribut zivilisierter männlicher Würde, und den Kopf und damit auch den Nacken zu entblößen – ganz ähnlich wie das schwächere Tier dem Sieger den Hals zum tödlichen Biss bietet. Und um zu zeigen, dass sie auf der Statusskala ganz unten rangieren, sitzen die Bettler wie die Vierbeiner auf dem nackten Boden im Schmutz, den umgekehrten Hut vor sich.
Wenn sich der große Pavarotti nach der Vorstellung auf der Bühne verbeugt, erkennt er damit das Publikum als obersten Richter an, dessen Urteil er sich unterwirft. Während es bei den Künstlern Brauch ist, sich tief zu verbeugen, kennzeichnet es den „Herrn“ oder Gentleman im Alltag, bloß eine knappe Verbeugung zu machen respektive diese nur anzudeuten. Die Herren geben damit zu erkennen, dass sie Herren sind. Sie haben es buchstäblich nicht nötig.
Doch kann einer tiefe Verbeugung auch als eine ironische interpretiert werden und gilt dann so viel wie keine Verbeugung. Immer noch üblich ist es bei uns, sich vor Frauen (Damen) leicht zu verbeugen, womit der Herr anerkennt, sich den Bedürfnissen der Dame zu unterwerfen. Damit zusammenhängt, dass er sich selbstverständlich bückt, um zum Beispiel ihr Taschentuch aufzuheben, denn einer Dame ist nicht zuzumuten, dass sie ihr Haupt dem schmutzigen Boden nähert, auf den man mit Füßen tritt.
Anders das Mädchen: es knickst artig – ihre Weise, sich dem Staub zu nähern. Indes muss die Putzfrau, bei uns der niedrigste Beruf, runter auf den Boden. Wahrscheinlich darum wird immer wieder erwähnt, dass des Bundeskanzlers Mutter Putzfrau gewesen sei. Die Implikation ist: Welch eine Karriere! Auch der Müllmann hat mit Schmutz zu tun, arbeitet aber hoch aufgerichtet wie ein Homo erectus. Man mag gegen die groben Umgangsformen der Nordamerikaner Einwände haben: Verbeugen tun sie sich vor Menschen nicht. Ihnen fehlt die höfische Tradition. Sie treten jedermann im Bewusstsein der Gleichheit hoch erhobenen Hauptes entgegen.
Mit Beschimpfungen wie „du Sau!“, „die Kuh“, „das Schwein“ hat die Verbeugung gemein, dass sie den Menschen zum Tier, zum Vierbeiner macht. Denn die tiefste Verbeugung endet – wie einst in China – auf Händen und Füßen. Das verächtlichste Tier ist im Christentum die Schlange nicht nur als Verkörperung des Teufels, der Eva den Apfel einredete, sondern weil sie nicht einmal Beine hat und durch den Schmutz kriechen muss. „Kriecherisch“ zu sein ist das Gegenteil der Unbeugsamkeit. Hoch aufgerichtet zu gehen ist eine Körperhaltung, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Bei den Tieren, die sich aufrichten können, bedeutet diese Körperhaltung höchste Angriffsbereitschaft.
Nach der Verbeugung und der Beschimpfung ist eine dritte Art, zum Tier zu werden, Pelz zu tragen. Das ist für einen Eskimo, der nichts Besseres hat, unerlässlich. In unseren Breiten aber ist der Winterpelz im Grunde überflüssig – denn es gibt leichtere und ebenso warme Materialien – und genau darum tauglich als Statussymbol. Aber natürlich schüttelt der Pelz seine Herkunft nicht ab. Wer einen Pelz trägt, erinnert darum selbstverständlich auch an den Bär, Luchs, Fuchs oder Nerz. Ja, er sieht ja tatsächlich aus wie ein Tier.

Erotisierend im Pelz
„Second life“ hat darum die Künstlerin Olga Chernysheva ihre auf der venezianischen Kunst-Biennale im russischen Pavillon ausgestellten Fotos genannt, auf denen Personen im Pelz zu sehen sind, die sie von hinten auf der Rolltreppe der U-Bahn aufgenommen hat. Es ist in diesem Zusammenhang beachtenswert, dass es meist die Männer sind, welche Frauen einen Pelz schenken. Frauen im Pelz gefallen den Männern. Eine nackte Frau im Pelz gilt als hocherotisch. Viel erotischer als im Bademantel. Auch Rubens malte seine junge nackte Frau im Pelz und gab dem Gemälde den hübschen Titel „Das Pelzchen“ (Wien). Gerade der Gegensatz von menschlicher Nacktheit und tierischem Pelz wirkt erotisierend. Denn wenn Frauen im Pelz an Tiere erinnern, liegt der Gedanke nahe, dass sie – nach Vorstellung der Altvorderen – als scheues Wild auch gehörig gejagt werden mussten, wenn nicht um den Tisch, dann wenigstens mit anzüglichen Worten, bis sie sich – die Augen niederschlagend – ergaben. Keine Frage: Der Pelz macht die Frau zum Tier und das um so anschaulicher, wenn sie dazu, wie in der Werbung, ein Raubtierlächeln aufsetzt. Dann darf auch der Mann zum Tier werden – denn sie hat ihn ja herausgefordert – und die „Sau rauslassen“. Nicht ohne Grund heißt der so genannte Eingriff seiner Beinkleider „Stall“.
Eine andere Nuance war die Mode, sich einen vierpfotigen Blaufuchs oder Marder samt Kopf mit glühenden Glasaugen um den Hals zu werfen. Dass nicht die Frau Jägerin der wärmenden Trophäe sein konnte, verstand sich von selbst. Der Mann war es, der ihr die schöne Beute um den Hals geschlungen hat, er ist der große Jäger. War die Frau hier zwar nicht wie ein Tier, so war sie doch nahe dran. Bemerkenswert, dass die Herren in unseren Breiten selten Pelz tragen – allenfalls Nerz nach innen, was Bedeutung nur als Status hat, als understatement. Männer überlegen sich genau, ob sie sich zum Tier erniedrigen. Die Frau im Pelz sieht nur aus wie ein Tier, aber sie ist keines. Es ist ein Spiel. Doch das Spiel hört auf bei den Resten des eigenen Pelzes, bei den eigenen Haaren. Die zu entfernen, die Achseln zu rasieren, die Beine zu depilieren, ist neuer Brauch und in den USA geradezu Vorschrift. Nur auf dem Kopf˘ ist das Offentragen der Haare heute erlaubt. Früher trugen die Frauen Kopftücher und Häubchen, um ihr Haar und damit das Tierische zu verbergen – wie heutzutage noch immer in den islamischen Ländern. Der Bart der Männer dagegen gilt als Zeichen der Würde, also als genaues Gegenteil des Tierischen.
Doch nicht immer und überall galt das. Die Europäer waren für Asiaten haarige Halbtiere. „Den Einheimischen (die Rede ist von Japan im 17. Jahrhundert) imponierte an den Fremden vor allem die starke Behaarung . . . In den Gesichtern der europäischen Handelsleute und˘ Matrosen sprossen unterhalb des Mundes und der Nase zerzauste Bärte. Auch auf den Armen und der Brust und bei manchen sogar auf dem Rücken kräuselte sich das Haarfell . . .“ Mit Erstaunen und Abscheu wurde auch registriert, welch große Rolle Hunde im Leben der Europäer spielten. Die Intimität zwischen den „Rothaarigen“ und Hunden ließ auf eine bestialische Verwandtschaft schließen. Im Volk hielt sich der Glaube, dass die Männer aus dem Westen ein Bein heben müssten, wenn sie urinierten, und dass in ihren Hosen buschige Schwänze steckten. (Frank Böckelmann: Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen, Frankfurt 1998)

(Purity) Flecken auf der weißen Weste

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Von der reinen Wahrheit und dem die Ordnung störenden Schmutz

Du Ferkel, die frisch gereinigte Bluse!“ Solch ein Ausruf kann sich nur auf einen Fleck beziehen. Bloß, was ist an Flecken so furchtbar? Flecken sind zunächst ja nur Veränderungen: Ein Stoff, der zuvor gleichartig (homogen) schien, sieht nun heterogen aus.
Der Fleck ist eine Störung. Zuerst nur ganz blau, nun auch braun drauf, das da ursprünglich nicht hingehört. Das könnte man ja auch als den Anfang eines Musters interpretieren.
Ein Hauptmerkmal des Flecks ist, dass man ihn sieht. Der Fleck kann nur Oberflächen verunzieren. Und weil andere den Fleck sehen können, erhält er eine soziale Bedeutung. Als Oberflächenphänomen gehört der Fleck zu den Zeichen, die auf der Haut, der Kleidung, der Fassade abgelesen werden. Er ist ein Indikator.
Der Blutfleck ist das Indiz einer Verletzung. Es folgt˘zum Beispiel die Frage: „Was ist das? Wo warst du?“ Und man muss erklären, dass man im Garten des Nachbarn war, wo es Kirschen gibt, dass aber der Hund des Nachbarn angeschossen kam, so dass man schnell über den Zaun springen musste. Und dabei hat man sich diese Wunde geholt, hier. Und die Hose ist auch zerrissen. Wenn man selbst keine Wunden als Beleg vorweisen kann, können Blutflecken natürlich auch einen Mord bedeuten. Blut weist selten auf etwas Gutes hin. Oder? Auf dem Balkan war es Sitte, das von Blutflecken gezeichnete Bettlaken als Beweis der vollzogenen hochzeitsnächtlichen Defloration aus dem Fenster zu hängen; als Beweis dafür, dass die junge Frau eine reine Jungfrau gewesen war. Balkanische Sitten eben. Aus demselben Grund wurden Flecken im Bett Heinrichs des VIII. von England den jubelnden Höflingen als Beweis für die Potenz des Fürsten demonstriert, die Dynastie zu sichern. In beiden Fällen sind die Flecken Grund zur Freude.
Der Ausdruck homogen beziehungsweise das umgangssprachliche rein, besagen, eine Substanz, ein Material, ein Ding oder auch etwas Gedachtes ist durch und durch dasselbe: Die reine Wahrheit ist etwas, das, in welchen Kontext man es auch stellt, mit sich identisch bleibt; die reineLehre ist eine Theorie, die nicht von praktischen Interessen durchsetzt ist; reines Wasser bedeutet nur Wasser – ohne Whisky. Und reiner Unsinn ist nichts als Unsinn; Unsinn pur. Sprachpuristen träumen von reinem Deutsch – ohne Anglizismen.
Aus der Mode gekommen ist lauter. Die lautere Wahrheit und ein lauterer Charakter sind nur noch im gehobenen Feuilletonstil zu gebrauchen. Lauter Unsinn ist bloß Unsinn; Unsinn, der nicht bemäntelt ist, nackt daherkommt und darum sofort als solcher erkennbar ist. Und wenn einer sich geläutert hat, so ist er nicht nur mit sich selbst im Reinen, sondern auch nach einigen Fehltritten wieder anständig geworden, und zwar durch und durch.
Reinheit ist ein positiver Begriff. In den Naturwissenschaften werden, um wissenschaftlich zu arbeiten, Elemente aus Verbindungen sowie Substanzen aus Mischungen isoliert, gedankliche Zusammenhänge analytisch auseinander genommen und möglichst in reine, nicht mehr reduzierbare Bestandteile, „Elemente“ zerlegt, mit denen neue Zusammenhänge hergestellt werden können. Aber im Alltagsverstand mischt sich alles wie nur irgendein Stück Welt, in der ja stets ein großes Durcheinander herrscht. Jean Dubuffet, der große französische Künstler, der einst das Durcheinander programmatisch in die Kunst eingeführt hat, sprach sich vehement gegen die Reinheit aus. Aller Begrifflichkeit wirft er vor, die lebendigen, darum stets fließenden, vielgestaltigen Zusammenhänge zu zerreißen und zu fixieren, um auf Definitionen Herrschaftssysteme zu errichten. „Typisch für die Kultur ist, dass sie die Schmetterlinge nicht fliegen lassen kann. Sie ruht nicht eher, als bis sie aufgespießt und etikettiert sind.“ ˘Man solle nicht versuchen, „den Wind vom Baum zu trennen“, sagte er. Als Künstler.
Bedeuten rein, lauter und pur zunächst nur so viel wie homogen, so bringt die Gleichsetzung mit der Bedeutung des stets mitschwingenden Wortes sauber einen scharfen Akzent hinein. Er wird als Wertung verstanden. Sein Gegenteil heißt schmutzig, wobei als selbstverständlich gilt, dass es sich dabei um etwas Schlechtes handelt. Die negative Wertung hat Folgen: Denn verwendet man rein im Sinne von sauber, dann wird Heterogenität notwendigerweise etwas Schmutziges, Bedrohliches, das es zu bereinigen gilt. Allem Rassismus und aller Fremdenfeindlichkeit liegt diese Vorstellung von Reinheit zu Grunde – die Reinrassigkeit beziehungsweise die Reinkultur. Die tatsächliche Heterogenität der Gesellschaft erscheint als Unsauberkeit. Das Fremde, das Andere wird als dreckig definiert. Säuberungen sind folglich das, was Rassisten wünschen und durchführen, wenn man sie lässt.
Flecken erzählen vom Leben. Der Tomatenfleck auf der Krawatte, er zeugt davon, dass einer italienisch gegessen hat, der Weinfleck auf dem Hosenbein von einem vielleicht nicht mehr ganz nüchternen Fest . . . lauter schöne, durchaus achtbare Tätigkeiten. Trotzdem werden Flecken verfolgt. Denn ein Fleck verrät eine Abweichung, eine Anormalität, etwas, das gegen die Ordnung, die guten Sitten verstößt. Der Fleck indiziert eine schlechte Tat. Und wer Flecken in der Öffentlichkeit zeigt oder macht, gilt wenigstens als ungeschickt, vertrottelt, barbarisch, wenn nicht als asozial.
Flecken signalisieren ein tendenziell subversives Verhalten. Von einem unordentlichen Äußeren, der Oberfläche,˘ wird auf ein unordentliches Innere geschlossen. Schweißflecken unter den Achseln auf der Bluse verraten Anstrengung, rote Flecken im Gesicht eine Krankheit. Sogar dem geronnenen Rest eines Mouton Rothschild wird Unsauberkeit angehängt, obwohl der Wein mehr kostet als die Hose. (Gibt es eigentlich Goldflecken?)
Während Unreinheit nur eine Abweichung ist, die Unordnung indiziert, ist Unsauberkeit per se etwas Schlechtes, Unsoziales. Die oft wie verrückt erscheinende Sauberkeit und der Schreck über Flecken sind Ausdruck kollektiver Erfahrungen von Pest, Tuberkulose und Cholera, Seuchen, die noch im 19. Jahrhundert verheerend und tödlich waren. Die bürgerliche Furcht bei der Einstellung eines Dienstmädchens war stets, es könnte unsauber sein, da es ja einer Schicht entstammte, in der man mit den Händen arbeitet. Man fürchtete sich vor Ansteckung. Ein schmuddliger Punk, der eine gezähmte weiße Ratte mit rosa Schwanz in seinem Jackenärmel herumträgt und sie sich hin und wieder um den Kragen laufen lässt, ist ein echter Bürgerschreck. Hat er sich doch ausgerechnet mit dem Tier angefreundet, das von aller Welt gehasst wird, weil es Krankheiten überträgt. Mag seine kleine Ratte sauberer sein als jeder Hund, so bleibt sie doch ein starkes Symbol. Macht Angst.

(Marginalisation) Keine Antwort auf einen freundlichen Morgengruß

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Von absichtsvollen Nachlässigkeiten, groben Unhöflichkeiten und anderen Formen der sozialen Ausschließung

Guten Morgen, Herr Müller.“ Doch der Kollege erwidert den Gruß nicht. Warum? Hat er mich nicht gesehen? Vielleicht ist er in Gedanken. So etwas beunruhigt einen Menschen, der den Gruß nicht erhält, den er erwartet. „Guten Morgen, Herr Müller!“ Auch am nächsten Tag bekommt man keine Antwort. Es kann sich, muss man nun glauben, nicht um eine zufällige Unaufmerksamkeit handeln, sondern um böse Absicht. Was habe ich Müller getan, denkt man, dass er mich schneidet? Und beginnt, nach einer eigenen Schuld zu suchen. „Guten Morgen, Herr Meier!“ Keine Antwort. Nun nimmt man an, dass Müller und Meier sich zu dieser Tat verabredet haben. Und wenn auch Frau Keller den Morgengruß verweigert, fühlt man den Beginn einer Einkreisung. Ein Komplott. Da wendet man sich an eine Kollegin, der man vertraut. Doch wenn man bei dieser eine gewisse Reserviertheit zu bemerken meint, beginnt man, das Furchtbarste zu fühlen, das Menschen passieren kann: die soziale Ausschließung, ein Niemand zu werden.
Ein andere Szene: Ein Mann geht den Bürgersteig entlang. Ihm kommt eine Reihe hoch gewachsener junger Leute entgegen, die sich angelegentlich miteinander unterhalten. Da sie die ganze Breite des Gehsteigs einnehmen, werden sie den Mann beiseite drängen oder, so scheint es, ihn womöglich gar umrennen. Er kennt das „Ooohps!“, das sie dann sagen. Doch im letzten Moment vermeidet einer der vier jungen Leute den Zusammenstoß, indem er knapp beiseite tritt, ohne die Unterhaltung zu unterbrechen. Sie reden über seinen Kopf hinweg. Zu Recht vermutet der Mann, dass er für sie bloß ein Hindernis ist, um das man herumgehen muss, mehr noch: ein bloßer Gegenstand, denn sie unterbrechen nicht einmal ihre Rede, wie man es sonst tut, wenn ein Fremder dazwischenkommt. Der Mann ist zuerst empört und schließlich deprimiert. Schlechte Erziehung, denkt er und beschließt, solchen Situationen demnächst aus dem Wege zu gehen. Er würde dann vielleicht lieber stehen bleiben und ein Schaufenster betrachten, bis sie vorüber sind. Die andere Möglichkeit, wäre auf die Straße auszuweichen – „in den Rinnstein“, denkt er bitter. Er erinnert sich der Erzählungen seines Urgroßvaters,˘ dass zur Zeit des wilhelminischen Kaiserreiches ein Zivilist einem Offizier ganz selbstverständlich auszuweichen hatte. Und er weiß auch, was es im Deutschen heißt, „in der Gosse zu landen“ oder „aus der Gosse zu kommen“.
Die Fälle mögen harmlos klingen. Doch beide erläutern Verhaltensweisen, die zum Umkreis des Mobbing gehören, eines Komplexes von oft raffinierten Ausgrenzungsstrategien. Im ersten Beispiel handelt es sich um eine absichtsvolle Handlung, im zweitenumeine unabsichtliche, bereits gewohnheitsmäßige Rücksichtslosigkeit.
Die zweite, harmloser erscheinende Handlung ist – objektiv betrachtet – die schlimmere, denn die jungen Leute nehmen den ihnen auf dem Gehsteig Entgegenkommenden als Menschen und damit als ihresgleichen gar nicht wahr. Er könnte ebenso gut eine Mülltonne sein. Das ist etwa so, wie wenn ein Käfer über ein beliebiges anderes Tier einfach hinwegläuft, mit dem es weder durch Fress- noch Fluchttriebe verbunden ist. Beide Lebewesen gehören verschiedenen Systemen an, die miteinander direkt nichts zu tun haben. Tatsächlich ist besonders in der Großstadt eine Tendenz zu beobachten, nach der die Mitglieder des einen sozialen Milieus die eines anderen ignorieren, weil die anderen für sie vollständig uninteressant sind. Während zum Beispiel ein Bettler eine höhere soziale Kompetenz besitzt, insofern er sich für jeden Passanten interessiert, weil er von ihm eine Gabe erwartet, können Cliquenmenschen mit niemandem etwas anfangen, der nicht zu ihnen gehört. Es entsteht so eine gewohnheitsmäßige, selbstverständliche Rücksichtslosigkeit, die allerdings in absichtsvolle Verletzung umschlagen kann, wenn sich die Clique herausgefordert glaubt. Im ersten Beispiel wird die Verweigerung des Grußes als verletzend empfunden, weil man annehmen muss, die anderen schöben einem tückisch eine Schuld zu.Man will den Vorfall nicht auf sich beruhen zu lassen, will nachfragen, aufklären. Im zweiten Fall aber hat man nicht einmal die Chance, sich zu wehren. Man weiß, man stieße auf Unverständnis. In beiden Beispielen ist der eine für den anderen Luft, in beiden Fällen wird dem anderen im Grunde abgesprochen, ein Mensch zu sein. Er gehört nicht mehr zur Gesellschaft. Er wird willentlich oder unwillentlich geächtet. Dies ist, genau betrachtet, härter, als würde man mit den übelsten Schimpfworten überschüttet, die doch immerhin beweisen, dass man nicht gleichgültig, sondern wenigstens ein Gegner oder Feind ist und für voll genommen wird.
Die Verweigerung des Gutenmorgengrußes bedeutet den Beginn einer Ächtung. Wie schwer diese Weigerung wiegt wird klar,˘ wenn man die Behauptung der antiken griechischen Philosophie, der Mensch sei ein zoon politicon, also ein soziales Lebewesen, auch in trivialen Alltagssituationen ernst nimmt. Sozial ist der Mensch ja nicht erst durch die Sozialisation, sondern bereits biologisch. Das nackte und darum schutzbedürftige Menschenkind wächst langsamer als alle anderen jungen Lebewesen und ist daher länger abhängig.
So sehr Menschen sich später als selbstständige Individuen fühlen und sich gern der Illusion hingeben, ganz unabhängig zu sein, sie täuschen sich schwer: Denn ihre Individualität oder was sie dafür halten können sie im Allgemeinen erst auf Grund der Leistung einer gesellschaftlich nützlichen Arbeit sowie der Vorleistungen anderer ausgestalten; sozialen Vorleistungen, wie sie sich in der Infrastruktur einer Stadt materialisieren: dem Dach über dem Kopf, Heizung, Wasser, Straßen, Telefon . . . Auch Aussteiger, die sich in wüsten Landstrichen endlich allein und frei dünken, mobilisieren im Falle der Not einen Rettungsdienst mit dem Handy. Sie bleiben grundsätzlich mit der Gesellschaft verbunden. Auf diese sozialen Vorleistungen – das, was unsere Vorfahren geschaffen haben – kann man natürlich nicht stolz sein, aber dankbar dafür schon. Die Tatsache, zur Reproduktion des eigenen Lebens grundlegend voneinander abhängig zu sein, zwingt die Menschen, zusammen zu leben und sich Regeln zu geben, wie sie in Gemeinschaft leben wollen. Über die Anerkennung der fundamentalen Regeln – wie des Grundgesetzes – und über die arbeitsteilige Warenwirtschaft sind alle miteinander verbunden. Vermittels der durch Erziehung tradierten Regeln anerkennen sie einander als zusammengehörig. Wer die Regeln bricht, handelt darum unsozial. Jeder gehört in allgemeiner Weise „dazu“. Aber diese soziale Zugehörigkeit muss immer wieder bestätigt werden.
Dies geschieht, indem wir Dinge tun und sagen, die konkret – in den Umgangsformen – zum Ausdruck bringen: Wir wollen dazu gehören und wünschen, dass die anderen dieses Bedürfnis akzeptieren. So wie gesellig lebende Tiere einander immer wieder betasten, haben auch wir Menschen Rituale herausgebildet. Wir wünschen dem Nachbarn auf der Treppe einen guten Morgen. Und der Nachbar ist gehalten, diesen Gruß zu erwidern. Wir machen einem anderen auf der Straße Platz. Wir alle streben nach sozialer Anerkennung unseres Daseins und nach der Erhaltung dieser Anerkennung. Schon die Verweigerung des allmorgendlichen Grußes gegenüber einer Person, die man kennt, ist deshalbtatsächlich der Versuch, sie aus der Gemeinschaft auszustoßen. Und dies ist für ein zoon politicon der Anfang vom Ende. Die absichtsvolle oder gewohnheitsmäßige Gleichgültigkeit ist kein Kavaliersdelikt. Denn ihr Ziel – oder ihre Folge – ist der soziale Tod.

(First Names) Hans-Dieter oder vielleicht doch Boris

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Vornamen sind eine soziale Haut, die man (unglücklicherweise) nicht einfach ablegen kann

Wie soll er heißen? „Timotheus“? „Schalke“? Oder ist es ein Mädchen? Dann vielleicht „Baguette“? Da liegt das Kleine: zwei Augen, zwei Öhrchen, zwei Nasenlöchlein, zwei Ärmchen und zwei Beinchen – vieles doppelt, denn die Natur ist großzügig –, aber ein richtiger Mensch ist es nicht. Denn es hat noch keinen Vornamen. Stürbe es ungetauft, käme es nach katholischer Lehre keinesfalls in den Himmel. Daher ist der Namenstag in katholischen Ländern – zum Beispiel in Frankreich – wichtiger als der Geburtstag. Denn identifizierbar ist der Mensch erst, wenn er auch einen Vornamen hat. Vorname und Familienname sind so etwas wie eine soziale Haut, die man – anders als Bekleidung – nicht mehr ablegt. Dennoch soll der Name kleidsam sein. Darum wählt man, um das Kleine unterscheidbar zu machen, heute meist etwas Ausgefalleneres als „Hans-Dieter“. En vogue sind französische, englische und italienische Vornamen. Man zeigt damit in einer immer weniger national bestimmten Gesellschaft internationale Gesinnung; auch dann, wenn man sich dessen gar nicht bewusst ist. Oft handelt es sich um eine Anpassung an den Zeitgeist, der die Namen von Popstars und Sportgrößen in die Gazetten spült, oder auch um die absichtsvolle Hommage an ein Idol, dem man das Beste weiht, das man hat. Also Boris. Der Vorname war von Alters her – nach der Vorstellung „nomen est omen“ – eine Art Mitgift. „Felix“ zum Beispiel, lateinisch: der Glückliche, sollte dem Kind Glück bringen, ihm ein Stück Weg ebnen. Vor ein paar Jahren war zu lesen, dass Rumänen ihre Kinder „Stuttgart“ und „Frankfurt“ taufen, nach den Traumorten des gelobten Landes, wo manchmal Betten, Schränke, Sessel und sogar Fernseher auf der Straße stehen, die man mitnehmen darf, wenn man will. Der Versuch, die Zukunft zu beeinflussen, wird aktueller in einer Zeit, da Individualismus als „Selbstverwirklichung“ vielen durchaus möglich erscheint. Der Vorname wird als Debüt einer Inszenierung konzipiert – freilich von den Eltern, deren Geschmack sich bald überlebt haben wird. Dann sieht man mit „Timotheus“ alt aus.
Man tanzt nicht aus der Reihe
Das war einmal ganzanders. Unter den braven Untertanen von Papst und Majestäten galt das Auffallenwollen als Unbescheidenheit, ja Aufmüpfigkeit. Da richtete man sich lieber nach dem Heiligenkalender. So kam es, dass alle am selben Tage Geborenen vom Pfarrer den selben Namen erhielten – den eines frommen Vorbildes, obwohl ja unter den Heiligen viele Märtyrer sind, eine Zukunft, die sich liebende Eltern wahrscheinlich weniger wünschten. Zukunftssicherer erschien die Anpassung an weltliche Größen: Vor Zeiten waren die Vornamen „Otto“ nach Reichsgründer Otto von Bismarck beliebt oder „Wilhelm“ nach dem Kaiser höchstselbst, um staatstragende Gesinnung zu demonstrieren. Dann riefen die Lehrer in der Schule reihenweise lauter Ottos und Wilhelms auf.
Den Eltern ging es bei der freien Wahl des Vornamens vor allem darum, keinen Anstoß zu erregen. Denn Freiheit – und sei es nur die der Namengebung – war etwas Ungewohntes. In einer noch wenig beweglichen Gesellschaft mit festen Klassen-, Standesund Statusunterschieden war der Anpassungsdruck groß. „Etwas Besonderes sein zu wollen“, worum sich heute jedermann nach Kräften bemüht, galt als unziemlich. Man „tanzte nicht aus der Reihe“. Eine ehrbare Sitte war, den Sohn nach Vater und Großvater zu nennen, damit er so tüchtig würde wie sie, oder nach dem Paten, dass dieser ihm beistünde, wenn der Ernährer etwa früh verstürbe. Das Kind wurde so – oft mit mehreren Vornamen – fest und breit in der Familie verankert, solange diese noch als Halt gelten konnte. Womit man heute nur noch rechnet, wenn es was zu erben gibt.
Für unsere Namen können wir nichts. Sie wurden uns wie eine Pudelmütze über die Ohren gezogen, ohne dass wir hätten Einspruch erheben können. Für den Nachnamen können auch die Eltern nichts. Aber den Vornamen, den haben sie uns verpasst. Da muss einer dann sein Leben lang „Hubertus“ heißen, weil seine Eltern auf die Jagd gingen – und flüchtet in einen unverfängliches Bertie. Und wer von˘ seinen vorausschauenden Eltern einmal den Namen „Adolf“ abbekommen hatte, der nannte sich nach dem Zusammenbruch des „Tausendjährigen Reichs“ lieber „Dolf“. Oft kosten Eltern, die sonst wenig zu sagen haben, das Recht, nach Belieben einen Namen zu erteilen, als Herrschaftsakt weidlich aus und versuchen dem wehrlosen Kleinen einen Vornamen nach ihren ureigensten Bedürfnissen aufzudrücken, „Aktie“ zum Beispiel oder „Campari“ oder „Schalke“. Doch beim Standesamt ist nicht alles möglich. Der Vorname muss nach geltender Vorschrift das Geschlecht des Kindes eindeutig erkennen lassen. So wird das arme Kleine wenigstens vor dem Allerschlimmsten bewahrt.
Die Kunst der Namengebung besteht wohl darin, einen Vornamen zu wählen, der einerseits besonders genug ist, um dasKind als Individuum unverwechselbar zu machen, und andererseits doch so normal, dass er die Integration fördert. Damit ist die grundsätzliche und konfliktreiche Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft berührt. Der Vorname dürfte also weder zu ausgefallen noch zu konform sein. Als soziale Haut muss der Name angemessen sein, und Vor- undNachnamen müssen zu einander passen.
Macht durch Verkleinerung
Oft bestimmen Eltern das Zusammenpassen spontan oder nur nach dem Klang, ohne sich um Herkunft und Bedeutung des Vornamens weiter zu kümmern. Doch heißt einer mit Vatersnamen Bückling, Deppert, Dümmerling, Dussling, Gockel, Feldhinkel, Flachmann, Halbleib, Leiche, Pippi, Piss oder Mitesser – alles originale Namen aus dem Telefonbuch einer Großstadt –, ist bei der Wahl des Vornamens doch besonderes Gespür geboten.
Auch die Angewohnheit, Vornamen durch Abkürzungen nach Gusto zu verändern, ist ein Akt der Herrschaftsausübung. Dabei soll die Verkürzung die Person meist handlicher und gefügiger machen. Denn die Umständlichkeit eines komplizierten und schwer auszusprechenden Vornamens verlangt dem Sprechenden ein Zuviel an Mühe ab, die er dem anderen nicht schuldig zu sein glaubt. Aus diesem Grunde werden wohl auch die in den USA verbreiteten biblischen Namen verkürzt. Aus Johannes wird John, aus Samuel Sam, aus Nathaniel Nat, aus Timotheus Tim und aus Zacharias Zach. Es handelt es sich auch um eine Säkularisierung für den Alltagsgebrauch.
Die Gewalt, die der Name über Menschen hat, wird deutlich, wenn man sie ruft: Sie drehen sich um und laufen gar auf den Rufenden zu. So hat der Name den Charakter eines Werkzeugs von der Art einer Hundeleine. Die besonders von Liebhabern, Eltern und Onkeln vorgenommene Verkürzung des Vornamens auf ein baby-artiges „i“ ist über die Handlichkeit (klein) hinaus eine Verniedlichung (klein und hübsch). Und Kosenamen? Sie ersetzen den Vornamen ganz und haben die Funktion, die geliebte Person zu privatisieren und damit die Beziehung exklusiv erscheinen zu lassen. Es ist eine gut gemeinte Diskriminierung und fraglos ein Herrschaftsakt. Wie lieb Herrschaftsansprüche daherkommen können, das wissen alle „Putzis“ und „Schnuckelchen“.

(Zeitgeist) Luthersocken und andere Gags

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Dem Zeitgeist hinterhergehechelt – Wie die alte Kirche auf jung macht und sich dabei verkauft

Die Kreuze auf den Fahnen des Kirchentags in Frankfurt haben einige junge Leute für Pluszeichen gehalten. Die Kirchenzeitung chrisma preist eine Bürste in Kreuzform mit dem Namen „Erlöserin“ an – gegen Juckreiz, Blasphemie? Nein, Zeitgeist. Die Kirche ist in der Krise. Die Opulenz von Kirchentagen kann nicht darüber hinwegtäuschen. Gängige Indizien sind die leeren Kirchen und dieKirchenaustritte, gängige Erklärungen der „Werteverfall“ und der exzessive Individualismus, aber auch das Unvermögen, die christliche Botschaft verständlich zu artikulieren. In einer pluralistischen Gesellschaft ist die Kirche, so scheint es, eine Institution unter anderen geworden. Doch diese Krise ist hausgemacht. Im Bestreben, auf Teufelkommraus mit der Zeit zu gehen, aus Angst, wie von vorgestern zu wirken, hat die evangelische Kirche, von der allein hier weiter die Rede ist, sich allen modernen Zeitströmungen bloß angepasst.
Gewiss, zu allen Befreiungsbewegungen, welche die Kirche unterstützt, gibt es in der Bibel Anknüpfungspunkte, denn das Christentum ist seinem Ursprung nach ja eine Religion der Unterdrückten, und die protestantische Kirche war ursprünglich eine Protestbewegung: Es ging ihr um die Freiheit, die „Freiheit eines Christenmenschen“ (Luther). Einmal wenigstens ging die Kirche in Führung: auf den „Montagsdemonstrationen“ hat sie maßgeblich darauf hingewirkt, dass die einzige erfolgreiche deutsche Revolution ohne Blutvergießen verlief.˘Doch keinen Anhaltspunkt gibt es in der Bibel, der es rechtfertigte, sich der heute grassierenden ökonomistischen Zeitströmung anzupassen.
Die Kommerzialisierung zerfrisst alle Lebensbereiche. Sogar die Familie, in welcher die Beziehungen zunehmend ökonomischen Charakter annehmen. Nicht mehr Arbeit und Leistung, sondern die erfolgreiche Selbstvermarktung werden Grundlage zeitgemäßen Selbstbewusstseins. Man muss sich jederzeit und überall gut verkaufen können. Politiker sprechen von der „Deutschland AG“, als handle es sich umein Unternehmen, das nach betriebswirtschaftlichen Kriterien geführt werden könnte. Kurzum, überall geht es um Effizienzkriterien. Überall. Auch in der Kirche. Sie ist ein Spiegel der Zeit. Längst wird sie wie ein Unternehmen geführt. Um effizienter zu arbeiten, hat sie – incredibile dictu –McKinsey als Unternehmensberater engagiert. Rationalisierungen werden nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten vorgenommen. Sogar Pfarrer, deren Motivation doch aus dem Glauben kommen soll, werden einer Leistungskontrolle unterworfen.
Gemeindeschwestern, die auch ohne Uhr für die Kranken und Siechen sorgten, werden durch Pflegepersonal ersetzt, das eine Anzahl von „Fällen“ pro Tag rein professionell zu erledigen hat. Und da die Kirche offenbar nicht mehr weiß, wie sie Gottes Wort unter die Menschen bringen soll, heuert sie Werbeleute an – und das Ergebnis ist entsprechend. Da lässt sie „Luthersocken“ mit dem Aufdruck „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“ (Gott helfe mir. Amen ) vertreiben. Luthers Ausspruch vor dem Reichstag in Worms, der Ausdruck eines felsenfesten Glaubens angesichts von Acht und Bann, wird zum Gag. Und der ist auch noch blöd. Bedient die Kirche einen Markt? Sind wir Kirchenkunden? Hat man je gehört, dass für Brot geworben werden muss? Gottes Wort war einmal das tägliche Brot für Geist und Seele.Um die jungen Leute zu erreichen, macht auch die alte Kirche auf jung. Der überschnappende Jugendkult entspricht einem potenten Markt. Doch glaubt man der alten Kirche den Techno-Sound nicht; macht ihr den Vorwurf der Anbiederei.
Eine Untersuchung hat vor kurzem ergeben, dass junge Leute besonders die Großeltern „cool“ finden. Warum? Vielleicht, weil sie ihnen anders vorkommen als die smarten Eltern, die mit ihren Kindern konkurrieren. Anders. Warum ist die alte, lebenserfahrene Kirche nicht bewusst anders? Sie ist ja durchaus keine beliebige Institution, die sich vor Wettbewerb zu fürchten hätte. Sie steht auf festem Boden, denn unsere ganze abendländische Kultur ist durch das Christentum geprägt.
Auch wer das nicht weiß, steht in dieser Tradition. Die individuelle Freiheit, Basis unserer Demokratie, gründet im lutherischen Protestantismus, der vom mündigen Einzelnen Entscheidungen verlangt, die er selbst zu verantworten hat. An Autorität hat die Kirche in der pluralisierten Gesellschaft eingebüßt, weil sie sich selbst als eine Institution unter anderen sieht und nicht mehr selbstbewusst als die eine, die etwas Einzigartiges zu verkünden hat: Gottes Wort. Wenn die Kirche sich als Dienstleisterin versteht, so ist ihre Dienstleistung, zum Beispiel das Diakonische Werk – im Unterschied zu kommerziellen Unternehmen –, christlicher Auftrag. Pflege war Barmherzigkeit, ein Ausdruck von Nächstenliebe. Die protestantische Kirche wandte sich traditionell dem Einzelnen zu, nicht der Masse. Sie war qualitativ, nicht quantitativ orientiert – nach dem Beispiel des Gleichnisses vom guten Hirten, der seine Herde verlässt, um einem einzigen verirrten Schaf nachzulaufen. Die „Verdoppelung der Zahl der Kirchenbesucher in fünf Jahren“ ist eine Leistungsvorgabe und darum ein fragwürdiges Ziel. In einer durch und durch kommerzialisierten Welt bleiben besonders bei der Jugend fundamentale Bedürfnisse unerfüllt: nach Glauben, Liebe, Hoffnung, Vertrauen, Geborgenheit, Feierlichkeit und nach Verehrung – wie der Zulauf zu Sekten, aber auch zur Popkultur belegt. Es sind Bedürfnisse, welche die Kirche erfüllen könnte, wäre sie glaubwürdig.
Nach christlichem Glauben steht der Mensch, Gottes Ebenbild, über den Sachen. „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ heißt es in der Bergpredigt. Warum aber macht die Kirche damit nicht Ernst? Warum mischt sie sich nicht ein in die Belange der Welt? Warum begegnet eine durch Steuern unterhaltene und gesicherte Institution, die von den Expansions- und Kostenzwängen kapitalistischen Wirtschaftens frei ist, dem globalen Shareholder-Kapitalismus nicht mit der Souveränität, die sie als Verkünderin von Gottes Wort hat? Wenn Arbeiter als Aktionäre heute in Fonds investieren, die als aggressives Kapital andere Arbeiter brotlos machen – warum tritt die Kirche dieser Perversion nicht mit der moralischen Autorität entgegen, deren Kern das Gebot der Nächstenliebe, das Gebot der Solidarität ist? Als global organisierte Institution wäre dieKirche in der Lage, sich dem global operierenden Shareholder-Kapitalismus breit entgegenzustellen. Wenn Gottes Wort etwas Unvergleichliches ist, kann es nicht in entliehenen, kommerziellen Formen Ausdruck finden. Das Wort Gottes verlangt nach Angemessenheit. Es geht dabei um die inhaltliche Vermittlung:um Überzeugung statt Überredung durch barocke Betörung der Sinne nach dem Muster der Gegenreformation. Die christlichen Ausdrucksformen sind nicht eine Frage des Marketings, sondern des Glaubens: Es ist das Charisma des gläubigen Christen, das angesichts der allgemeinen moralischen Orientierungslosigkeit Stärke, Festigkeit, Sicherheit ausstrahlt. Nicht durch Austritte gerät die Kirche in eine Identitätskrise, sondern durch denVerlust ihrer Glaubwürdigkeit. Kirche muss anders, muss unangepasst, muss Alternative sein. Sie muss eine Aussicht auf ein anderes Leben bieten, nicht erst im Paradies, sondern hier.

(Superficiality) Wie der Aufklärer zum Designer wurde

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In einer Zeit, die nicht mehr auf Gründlichkeit, sondern auf Flexibilität und Vernetzung setzt, ist Oberflächlichkeit oberste Tugend

Oberflächlichkeit war und ist in der deutschen Kultur der Gründlichkeit immer noch ein abfällig verwendeter Ausdruck. Das ändert sich nun – gründlich. Wer einen oberflächlichen Charakter hatte, dem fehlt es nach traditioneller Vorstellung an Tiefgang. Auch wenn er von der Liebe sprach, durfte man ihm nicht glauben. Er galt als Leichtfuß. Doch Leichtfüßigkeit ist genau das, was heute gebraucht wird.

Der Ausdruck „Oberflächlichkeit“ beruht auf einer Raumvorstellung. Unter der Oberfläche ist die Tiefe, die es zu ergründen gilt. Das ist nicht nur Aufgabe des Tiefenpsychologen,sondern auch jedes Richters,der nach Motiven, jedes Wissenschaftlers, der nach Ursachen sucht. Die Raumvorstellung basiert auf der herkömmlichen Auffassung,dass Dinge und Sachverhalte zwar empirisch zu erkennen, doch als Wirkungen nur erklärbar sind,wenn man in die Tiefe dringt, ins Dunkle und Unsichtbare,wo die Ursachen und Gründe angenommen werden. Eine Sache zu erklären bedeutet, sie ans Licht zu ziehen,sie zu erhellen. Der kulturhistorische Begriff „Aufklärung“ heißt im Französischen bezeichnenderweise siècle des lumières, im Italienischen illuminismo. Dem räumlich vorgestellten Erklärungsmodell entspricht die philosophische Auffassung, dass das, was uns unmittelbar erkennbar ist,die Erscheinungen oder Phänomene,Ausdruck von etwas anderem sind. Hinter der Vielfalt der Erscheinungen vermuten Philosophen etwas,das sich gleich bleibt,für die einen das „Sein“, für die anderen das „Wesen“.
Von Philosophen erwarten wir, dass sie sich in die Probleme vertiefen,und wir nennen ihre Art zu denken nicht nur gründlich, sondern tiefgründig. Wie immer diese Dinge philosophisch behandelt werden,die Raumvorstellung ist im Alltagsverstand etabliert,wie viele umgangsprachliche Metaphern belegen, denn was man nicht erkennen kann,liegt für uns im Dunkeln. So die traditionelle Auffassung. Doch vielleicht liegen die Gründe und Ursachen gar nicht in der Tiefe,sondern bloß weit entfernt und darum jenseits unseres Horizonts? Vielleicht ist die Vorstellung von Oberfläche und Tiefe das Resultat einer auf Sesshaftigkeit gründenden Kultur. Und Sesshaftigkeit, steht sie nicht mit der Zunahme von Völkerwanderungen aller Art (Wanderarbeiter jeder Qualifikationsstufe, Flüchtlinge, Touristen) in Frage? Das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe spielt traditionell in Literatur, Kunst und Architektur eine große Rolle. In der Tiefe eines Textes oder Kunstwerks vermutet man Verborgenes,das zu entschlüsseln ist. Linguisten sprechen von der Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur eines Textes. Im europäischen Kunstverständnis vermutet man grundsätzlich hinter dem,was man sieht, noch etwas anderes,das – wie im Bergbau – nur mit Anstrengung zu fördern ist. Lange Zeit galt in der Architektur die Forderung, die Fassade, das Gesicht eines Gebäudes müsse dessen Grundriss spiegeln. Der Baukörper drückt sich in der Fassade aus wie der menschliche Körper in der Haut. Die nackte Wand wird mit einer Tapete bekleidet. Die Anatomen und Chirurgen zerschneiden die Haut, die Oberfläche des Körpers, in dessen Tiefe sie die Krankheitsursachen suchen.
Im 18. Jahrhundert war es nicht nur in Venedig Sitte, das verräterische Gesicht zu maskieren. Schon das Schminken hatte unter anderem die Funktion,das Erröten und Erblassen,den sichtbaren und nicht steuerbaren Ausdruck von Emotion, unkenntlich zu machen. Mit dem Aufkommen des Natürlichkeitsideals zum Ende des 18. Jahrhunderts soll die Haut dagegen durchsichtig sein. Vor allem von der Haut von Kindern und jungen Mädchen erwartet man Durchsichtigkeit; sie soll noch alle Empfindungen zeigen, wie sie sind. Die Oberfläche hat einen ambivalenten Charakter: Sie lässt andeutungsweise erkennen, was in der Tiefe vorgeht, die sie doch zugleich auch verbirgt. Mark Twain, der ausgebildeter Lotse war,spricht einmal von der Wasseroberfläche des Mississippi,an deren Kräuselungen,schönen Wellen und Spiegelungen die Passagiere Gefallen finden, während sie dem Lotsen sagen, welche Gefahren dem Schiff aus der Tiefe drohen. Doch heute wird der Raumals paradigmatische Vorstellung allmählich obsolet. Das ist der Hauptsache nach eine Folge der technischen Entwicklung. Die avancierten Technologien überwinden riesige Entfernungen in Schall- und Lichtgeschwindigkeit und machen so den Raum zunichte, machen ihn irrelevant. Ökonomisch wird der Raum immer mehr von der Zeit dominiert. Auch im Alltagsverstand tritt an die Stelle der alten räumlichen Vorstellungen allmählich die neue Metapher der Vernetzung. Wir sprechen von Verkehrsnetzen, Kommunikationsnetzen, der Vernetzung von Firmen und allgemein von der Vernetzung von Ereignissen. Sie bilden in dieser Vorstellung einen horizontalen Zusammenhang. Wissenschaftliche Erklärungsmodelle gehen davon aus,dass es zumindest für soziale Phänomene stets mehrere Ursachen und Gründe gibt. Monokausale Erklärungen sind von vorgestern.

Mit den heute üblichen Multifaktorenanalysen geht einher,dass Ursachen und Gründe,die zuvor in der Tiefe gesucht wurden,zunehmend in der engeren und weiteren Umgebung, im Kontext, angenommen werden, das heißt auf der gleichen Ebene. Die unabhängigen Variablen, die Grundbedingungen, die man sich zuvor in der Tiefe vorstellte, liegen dann bloß weiter entfernt. Es bedarf vieler Vermittlungsschritte,das heißt, man muss, anstatt stufenweise hinabzusteigen eher ziemlich weit gehen. In vielen Wissenschaften hat man es längst aufgegeben, nach Ursachen zu suchen, und begnügt sich mit der Korrelierung bestimmter Ereignisse. Immer wenn das eine Ereignis auftritt, tritt auch das andere auf – oder doch mit einer statistisch bestimmbaren Häufigkeit. So ist ein Zusammenhang festgestellt, und man kann in der Folge davon ausgehen, dass dann, wenn X eintritt, mit einer angebbaren Wahrscheinlichkeit auch Y auftauchen wird.
Man muss dann zum Beispiel nicht wissen, welche Ursachen eine bestimmte Krankheit hat,denn man kennt ihre Symptome,das heißt den Zusammenhang beobachtbarer Ereignisse. Für das praktische Handeln genügt das im Allgemeinen. Im Alltag bedienen wir uns oft des Vergleichs. Um uns eine Sache zu erklären,suchen wir nicht nach Ursachen,sondern stellen fest, dass diese Sache einer anderen Sache ähnlich ist. Wir stellen die unbekannte Sachen damit in einen bekannten Kontext, um ihre Fremdartigkeit in Gewohntes zu verwandeln. Es entstehen Netze von Ähnlichkeiten. Die Einebnung der alten Raumvorstellung zu einer Vorstellung von Oberfläche lässt sich auf vielen kulturellen und sozialen Gebieten feststellen. Die Auflösung des Dogmas „form follows function“, das Architektur und Design der Moderne seit den zwanziger Jahren anleitete,hat dazu geführt, dass die Fassade eines Gebäudes wie auch die Oberfläche von Produkten von ihren sozialen und technischen Funktionen unabhängig werden. So kann sich Fassadengestaltung und Design nach Gesichtspunkten von Werbung und Verkauf richten. Der relativ neue Ausdruck „Benutzeroberfläche“ wird ganz allgemein verwendet,nicht nur für den Computer. Auch die Daten auf dem Bildschirm erscheinen als miteinander vernetzt, mithin als Ausschnitte aus einem Datennetz, das nicht als Raum, sondern als riesige Oberfläche vorgestellt wird. „Design“ im Sinne bewusster Gestaltung ist,auf Sprache angewendet, absichtsvoller Stil. Er betrifft nicht den Inhalt, sondern die Form, obwohl er sich von jenem nie ganz lösen kann,da Sprache ja Verständigungsmittel ist. Es war der Dandyismus,der danach strebte, die Form von inhaltlichen Bestimmungen weitgehend zu befreien und nicht nur in der Sprache, sondern in der ganzen Lebenshaltung möglichst artifiziell zu sein.
Oscar Wilde lässt den Dandy Lord Illingworth von einer „Philosophie des Oberflächlichen“ sprechen, und er selbst sagt: „Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol.“ Auf die Gestaltung der Körperoberfläche
durch modische Kleidung folgte das Design der unbekleideten Körperoberfläche durch Bräunung,Piercing und Tattoo. Während jedoch das Bräunen des ganzen Körpers bei der Freikörperkultur der zwanziger Jahre noch im Zeichen von Volksgesundheit und Körperertüchtigung gestanden hatte, sind Piercing und Tätowierung ohne die sexuelle Revolution der 60er Jahre und die Verbreitung sadomasochistischer Praktiken nicht denkbar. Und im Unterschied zum 19. Jahrhundert bezieht Sexualität heute den ganzen Körper,die ganze Oberfläche ein.
Das Tätowieren – ursprünglich ja eine Stigmatisierung – ist ein bedeutungsvolles Phänomen. Die Identität eines Menschen, die vom frühen 19. Jahrhundert an und weit in das 20. Jahrhundert hinein in der Innerlichkeit gesucht wurde, soll nun an der Oberfläche ablesbar sein. Die tätowierte Haut ist weit mehr als eine Bekleidung. Sie wurde unter Schmerzen bearbeitet,und auswechselbar ist sie nicht. Die neuartige Identität wird durch Erleiden geschaffen. Das Tattoo verbürgt Dauerhaftigkeit und Authentizität gegenüber dem beschleunigten Wechsel aller Moden.
Die Tätowierung ist eine Zuspitzung des Bodyshaping, jener Form der Selbstgestaltung, die ganz nach außen gerichtet ist. Die durch Tätowierung geschaffene Identität ist demonstrativ. Identität und Image verschmelzen wie Gesicht und Maske. Die Haut ist ein Zeichenträger und, weil eingebrannt,sind die Zeichen ernster gemeint als ein Ansteckbutton oder das in-group-spezifische Markenzeichen auf den Jeans. Identität definiert sich hier nicht mehr über Introspektion in die Tiefen der Seele und des Denkens. Der vornehmlich in den USA entwickelte Trend zur Oberfläche beschleunigt sich mit der Globalisierung ökonomischer Prozesse und der mit ihr Hand in Hand gehenden Entwicklung der modernen Kommunikationstechnologien. Auch in der übrigen Welt kann man sich dem schwer entziehen. Denn zu den Anforderungen, welche die globalisierte Ökonomie stellt,gehört jene viel zitierte Flexibilität,die in der Unabhängigkeit von Orten und menschlichen Bindungen besteht. Aus der Perspektive derer,die den Job machen, heißt sie Ungebundenheit; und Verfügbarkeit aus der Sicht der anderen,die den Job vergeben. Der mobile und flexible Mensch des neuen Zeitalters,der nicht mehr sein Leben lang einem einzigen Beruf nachgeht, sondern hintereinander und nebeneinander mehrere Jobs verrichtet – mit der Folge der oft genannten „Patchwork“-Biografie –, kann nicht mehr in Orten, Sachen, Themen, Milieus und Menschen Wurzeln schlagen. Er muss oberflächlich sein, um sich jederzeit lösen können, wenn ihm der bessere Job am besseren Ort winkt. Er muss immer bereit sein. Mit Heimatlosigkeit in lokaler,intellektueller und emotionaler Hinsicht scheint er zurechtzukommen – solange er jung ist. Borniert und dysfunktional muten demgegenüber bodenständige Eigenschaften wie Treue und Verantwortungsbewusstsein an,die mit langfristigen Perspektiven verbunden sind und notwendig, um die Folgen eigenen Handels zu ertragen und abzuarbeiten. Das vermeiden jene, die wie Manager internationaler Konzerne nach dem Rotationsprinzip mal hier und mal dort in der Welt einen Job machen. Anstatt Liebe gibt es kurze „Verhältnisse“, anstatt gründlicher Gespräche den schnellen Witz.
Bei „tief schürfenden“ Gesprächen ging es darum,einen Standpunkt zu finden, zu festigen oder zu verteidigen: Vertiefung, Verwurzelung, Eingrabung. Doch Standpunkte sind dem flexiblen Menschen hinderliche Festlegungen. Er hat Meinungen, und die kann er wechseln. Faszinierend ist seine Schnelligkeit, Wendigkeit, geistige Beweglichkeit. Er ist bei aller notwendigen Selbstdarstellung hochkommunikativ,eine heute in jeder Organisation wünschenswerte Eigenschaft. Aber es muss gesagt werden, dass Oberflächlichkeit zur Grundausstattung des Abenteurers gehört. Das wundert nur den, der übersieht, dass unser Leben im Ganzen abenteuerlicher wird. Die Auflösung der alten,vielfach gebundenen Arbeitsgesellschaft verlangt, dass jedermann die Vermarktung seiner Arbeitskraft selber managt. Sich selbst gut zu verkaufen,sich selbst zu inszenieren, das ist es,was den anspruchsvollen Abenteurer zur „blendenden“ Erscheinung macht. Wir werden alle oberflächlicher werden müssen, wenn wir mithalten wollen. Wollen wir das?

„Zugegeben, der junge Herr Quickstepp ist eine blendende Erscheinung, äußerst wendig, sehr kommunikativ. Und er verkauft sich gut. Keine familiäre Bindung, keine feste Beziehung, spricht Englisch, Französisch, Spanisch. Aber er erscheint mir als etwas oberflächlich. Außerdem, wenn ich das erwähnen darf, trägt er ein auffälliges Tattoo . . .“
„Ausgezeichnet. Bitten Sie ihn zum Vorstellungsgespräch. Vielen Dank. Sie können gehen.“
„Aber er ist oberflächlich!“
„In wie vielen Sprachen?“
„Zugegeben: vier.“
„Auftreten?“
„Zugegeben: souverän. Brillanter Smalltalker.“
„Ab wann verfügbar?“
„Ab sofort.“

(Gifts) Vergänglich wie ein schöner Augenblick

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Sie sollen nur eine kleine Aufmerksamkeit sein – Einige Anmerkungen zur Macht von Geschenken

„Das rätst du nie!“ Stimmt. Denn das Geschenk ist verpackt – schön verpackt. Vor allem in Japan, aber immer mehr auch bei uns ist die Verpackungeines Geschenks von großer Wichtigkeit. Sie ist eher eine Verhüllung. Im Unterschied zum Kauf, wo jeder sehen kann, was er haben will, bekommt der Beschenkte etwas, dessen Begutachtung ihm eine Weile vorenthalten wird. Neugierig befühlt er es, wiegt es in der Hand und versucht zu erraten, was es ist. Die Verhüllungund das Auspacken erhöhen die Spannung. Der Akt des Schenkens wird verlängert. Die schönen Dinge soll man langsam tun. Das ist – wie in der Liebe – sehr kultiviert. Das Gute wird durch seine schöne Verhüllung, eine Spielart der Koketterie, begehrenswerter. Die Enthüllung, das Lösen der Bänder und Schleifen und das zarte und langsame Auspacken, ist der erotischen Praktik des Entkleidens ähnlich. (Das Zerreißen des Geschenkpapiers entspricht einer anderen Praktik des Begehrens.) Die schöne Verpackung ist eine zusätzliche Geste, die das Schenken überhöht und in gewisser Weise kommentiert. So kann man den materiellen Wert des Geschenks ideell verbrämen; wird ein kleines Geschenk durch Anmut und Witz veredelt, ein großes durch bescheidene Verpackungang emessen – nach Art des britischen Understatement. Die Verpackungist auf das Überraschen aus, die liebevolle Überwältigung, eine Machtausübung, die der Schenkende genießt. Vorausgesetzt, man hat das Schenken noch nicht satt.

Größe zeigen
„Wir schenken uns nichts mehr. Erst der Stress, dann die Umtauscherei!“ So hört man es heutzutage zu Weihnachten. Die Sitte des Schenkens aufzugeben liegt im Trend. Die geforderte Mobilität und das mit einem exzessiven Individualismus entstandene Bedürfnis, in keiner Hinsicht mehr von anderen abhängig zu sein, zerstören die traditionellen Formen der Verbundenheit. Menschen miteinander zu verbinden aber ist in der Kultur des Schenkens das Hauptmotiv. In allen Kulturen ist das Schenken eine hoch bedeutsame und folgenreiche soziale Handlung. Beim indianischen Potlatsch, einem System scheinbar freiwilliger, tatsächlich aber obligatorischer Leistungen und Gegenleistungen, hatte das Schenken sogar eine fundamentale gesellschaftskonstitutive Funktion. Auf diese Weise entstanden da, wo man keine Schrift kannte, vertragsartige Verpflichtungen und „über viele Inseln ein Geflecht der Verbundenheit“, heißt es bei dem französischen Soziologen Marcel Mauss („Die Gabe“, 1925). Verträge in Form von Geschenken wurden auch mit den Geistern der Toten und den Göttern geschlossen, berichtet Claude Lévi- Strauss in „Traurige Tropen“ (1955). Bei Opfergaben wird erwartet, dass die Götter die Gabe erwidern, zum Beispiel mit einer guten Ernte. In der christlichabendländischen Tradition erfüllt das
Gelübde ganz ähnliche Aufgaben. Der Gebende ist bestrebt, schreibt Mauss, „Freigebigkeit, Ungebundenheit, Autonomie und zugleich Größe zu zeigen“. „Das kann ich doch nicht annehmen“, sträubt sich mitunter der Beschenkte. Denn auch in den heutigen europäischen Verhältnissenwerden Geschenke keineswegs altruistisch gegeben, sondern als Herausforderungan den Empfänger, sich für das Gute zu revanchieren – sei es durch eine Gegengabe, sei es durch Wohlverhalten. „Du bist undankbar!“ ist ein schwerer Vorwurf. Die stärkste Verpflichtungentsteht, wenn der Beschenkte weiß, dass der Gebende sich das Geschenk „vom Herzen reißt“, das heißt, etwas hergibt, an dem er „hängt“. Ein wertvolles Geschenk darf – anders als bei den zirkulierenden Kostbarkeiten der Indios – in unserer Kultur nicht weitergeschenkt (oder gar zu Geld gemacht) werden. Nur in Ausnahmefällen ist Weiterschenken erlaubt – zum Beispiel einen Ringder verstorbenen Mutter an die Verlobte – und wird dann zum hoch symbolischen, doppelt bindenden Akt. Dank in Worten wird oft als Anzahlungauf die noch zu liefernde Gegengabe gewertet. Wer ein Geschenk annimmt, hat sich zur Gegengabe verpflichtet. Das Ablehnen eines Geschenks gilt in allen Kulturen als Affront; ein verpacktes Geschenk abzulehnen, ist unmöglich.
Obwohl es nicht um messbare Werte geht, ist das Verhältnis zwischen Geber und Nehmer das von Gläubiger und Schuldner. Das archaische System des indianischen Potlatsch begründet und festigt eine Hierarchie. Maurice Godelier („Das Rätsel der Gabe“, 1996) bemerkt dazu, dass „Menschen, welche mehr geben, als man ihnen gegeben hat, oder soviel geben, dass man es ihnen nie wird wiedergeben können, sich über die anderen Menschen erheben“. Das Geben stelle eine doppelte Beziehungher: Solidarität und Superiorität. Das gilt auch für heute, vorausgesetzt, der soziale Status der Partner ist nicht schon anfangs ungleich wie in der Beziehungzwischen Eltern und Kindern.
Schenken macht den anderen abhängig und ist – vielleicht nicht der Absicht nach, doch in der Wirkung– eine subtile Form der Herrschaftsausübung. Der Schenkende gewinnt an Größe und Achtung, wenn sein Geschenk gefällt. Nicht ohne Grund machen Männer den Frauen oft möglichst große und präsentable Geschenke. Der Zweck der Selbsterhöhung ist vollständigerreicht, wenn die Beschenkte den Ringmit dem Hinweis herumzeigt: „Und der ist von ihm!“ So wird auch das Bemühen, Geschenke abzuwehren, verständlich. Der Doppelsinn des Wortes „Gift“ im Sinne von Gabe (englisch: gift, deutsch: Mitgift) erinnert an das möglicherweise Verderben Bringende eines Geschenks. Berühmt dafür ist das Trojanische Pferd.
„Es kommt von Herzen!“ Geschenke werden immer nach ihrem qualitativen Wert eingeschätzt, nach der Mühe zum Beispiel, die sich jemand gibt, um sich in den anderen hineinzuversetzen, oder die darin liegt, das Geschenk zu beschaffen. Weitere Kriterien sind Seltenheit und Besonderheit. Auch der Geldwert ist ein entscheidender Maßstab. Daher kann sich aus dem Handel von Gabe und Gegengabe leicht ein Geschäft entwickeln. Ursprünglich symbolisiert das Schenken Friedfertigkeit, Verbundenheit und Versöhnung. Geschenke haben eine Bedeutungunabhäng ig von ihrer Brauchbarkeit.
Um diesen Unterschied unmissverständlich zu machen, schenkt man sich Dinge, die keinen Nutzwert haben. So sehr das Geschenk verpflichtet, so gilt es zugleich als Wertschätzung des Beschenkten. Der Beschenkte wird in eine ambivalente Situation gebracht: Er gerät in Abhängigkeit, aber durch Wertschätzung. Ein wenig erinnert diese Bindung an die der Liebe.
Voraussetzungg laubhafter Wertschätzung ist „Freiwilligkeit, Ungebundenheit und Autonomie“, wie sie Mauss konstatierte. Denn nur Ungezwungenheit macht plausibel, dass ein Geschenk von Herzen kommt. Freilich besteht diese Ungezwungenheit bei der Gegengabe nicht mehr so wie zu Anfang, und nicht auf beiden Seiten gleich. Ungezwungen ist der Gebende, der Nehmende dagegen gerät in Abhängigkeit. So bekommt auch das Verhältnis zwischen Wertschätzungund Verpflichtungeinen besonderen Akzent. Nicht der Liebe, sondern der Aggression. Im Ausdruck „Revanchieren“ für das Gegengeschenk, der ja auch Vergeltung und Rache meint, ist der aggressive Zug unverkennbar. Verdeckt wird er durch den Anschein des Altruismus – und der Angriff wird fast unwiderstehlich. Revanche und Dank Das Geschenk soll Gunst erringen und nimmt in den Fällen, wo es sittenwidrig ist, den Charakter der Bestechungan. Eine korrumpierende Tendenz hat es immer. Die Freiwilligkeit unterscheidet das Geschenk vom Tribut, der im alten China verschleiernd „Geschenke“ genannt wurde.
„Das soll fürmich sein? Was soll ich dazu sagen!“, windet sich manchmal der Beschenkte. Kultiviert ist es darum, nur angemessene Geschenke zu machen, die nicht in Verlegenheit bringen. Es muss im Prinzip möglich bleiben, sich nur mit Worten zu bedanken. Denn der Dank muss als ideelles Äquivalent genügen können. Die Kunst des Schenkens besteht darin, alle Implikationen des sozialen Aktes zu balancieren.
Um durch ein Geschenk wieder quitt zu werden und sozusagen bilanziert auseinander zu gehen, versuchen heute viele, sich ausdrücklich nach Maßgabe des Geldwerts zu revanchieren. Man vergisst dabei, dass das Schenken eine Geste ist. Mag die Gegenseitigkeit auch den Charakter eines Handels haben, so ist Schenken doch kein Geschäft. Das Gegengeschenk ist nicht rechtsverbindlich und kann nicht eingeklagt werden. Zwar rechnet man zu Weihnachten und Geburtstagen mit Geschenken, doch nur weil es Brauch ist.
„Das ist nur eine kleine Aufmerksamkeit.“ Um den Verpflichtungen und der heiklen Quantifizierungdes Schenkens zu entgehen, musste das Bedürfnis nach einer Art des Schenkens entstehen, das nicht aufrechenbar ist, das Bedürfnis nach der reinen Geste. Ohne Aufrechenbarkeit wertvoll kann diese Geste nur sein, wenn sie schön ist. Ideelle Kostbarkeit eines schönen Gegenstandes wird in unsere Kultur entweder nach der Dauerhaftigkeit oder nach der Vergänglichkeit beurteilt.
Nicht „für die Ewigkeit“ wie der teure Brillant, sondern vergänglich wie der schöne Augenblick muss das kostbare Geschenk sein, soll es an Penetranz verlieren. Schön und vergänglich sind Blumen. Sie sind bald verwelkt, und nichts erinnert dann mehr daran, dass man dem Gast etwas schuldigwäre. Blumen waren und sind fast unübertrefflich kultivierte Gastgeschenke. Auch bei den Esspaketen im alten China und den Geschenkkörben von heute liegt die Kostbarkeit in der Vergänglichkeit. Allerdings sind der Duft der Blumen wie der Geschmack der Speisen im wortwörtlichen Sinne penetrant, insofern sie in den Körper des Beschenkten eindringen, um ihn – wie einst die Brandopfer – von der Güte der Gabe von innen unwiderstehlich zu überzeugen.
„Die haben ja schon alles!“ Diesen Satz hört man von denen, die sich den Kopf nach einem Geschenk zerbrechen. Als Mangel herrschte, schenkte man einander gezielt die fehlenden Haushaltsartikel. Dabei zählt nicht nur, dass man den Gegenstand braucht, sondern auch, dass der Schenkende dessen Fehlen bemerkt hat. Dabei geht es also auch um den Beweis der Aufmerksamkeit und damit der Wertschätzungdes Beschenkten. Da in unserer Wohlstandsgesellschaft die meisten Menschen die lebensnotwendigen Utensilien besitzen, ist eine Industrie für Geschenkartikel entstanden, das heißt von Gegenständen, die eher einen ideellen Nutzen haben. Die rasende Entwicklungdes Designs fußt eben auf der Tatsache, dass die meisten alles haben. So geht es nicht mehr um das „was“, sondern um das „wie“. Gebrauchsartikel aller Art werden der Mode unterworfen und damit einem Alterungsprozess, der es geraten sein lässt, sich dasselbe neu oder anders anzuschaffen, um up to date zu sein. Geschenkartikel müssen niedlich, komisch oder wenigstens in dem Sinne originell sein, dass sie dasAllerneueste sind. DieVerbundenheit, die ja jedes Geschenk herstellen soll, wird im Idealfall durch das Befingern, das Lachen und das Staunen erreicht. Ein Geschenk, das die Aufmerksamkeit einer ganzen Geburtstagsgesellschaft erlangt, stellt jene heitere Gemeinsamkeit her, die sich jeder Gastgeber wünscht.

Die reine Geste
Geschenke, die für den Zweck des Schenkens hergestellt werden, haben einen öffentlichen Charakter. Sie sind darauf angelegt, herumgereicht zu werden. Sie rechnen mit Publikum. Der Geschenkartikel nimmt dem Schenkenden die riskante Entscheidungab, irgendein Dingdurch selbstverantwortliche Auswahl zum Geschenk zu erklären. Wer einen Geschenkartikel überreicht, hat auf die Anstrengung verzichtet, sich in die Vorlieben des Beschenkten hineinzuversetzen. So ist das Geschenk nicht intim. Denn über das, was niedlich oder komisch ist, denken die meisten Menschen recht ähnlich. Geschenkartikel sind insofern distanzierte Gaben, für die es keine großen Umarmungen und Küsse gibt. Ihr Vorteil besteht darin, dass sie nicht verpflichten, denn weder sind sie wertvoll, weil der Schenkende sich besondere Mühe gibt, noch weil sie teuer sind. Mit der Ablösungvom Nutz- und Geldwert und in Vermeidungder persönlichen Note schwindet das Verpflichtende des Schenkens. Der Geschenkartikel macht aus dem Schenken eine reine, leichte und nicht-intime Geste. Die Verbundenheit, die das präfabrizierte Geschenk stiftet, ist herrschaftsfrei, locker und vorübergehend. Sie dauert vielleicht nur so langwie die Party. Eine Institution ist der Austausch von Geschenken damit nicht mehr. Das passt in die Zeit.

(Jean Dubuffet) Jeder kann malen

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Bilder und Zeichnungen von Jean Dubuffet in Saarbrücken

Jean Dubuffet hat Strichmännchen, Graffiti und Dreck in die Kunst eingeführt hat. „Jeder Mensch kann malen, so wie jeder Mensch sprechen kann“, sagte er. Mit 80 Gemälden und 60, zum Teil sehr witzigen Papierarbeiten (etwa „Der Pisser, rechtsrum“), feiert das Saarland- Museum in Saarbrücken seine Wiedereröffnung nach der Renovierung. Dubuffet, der ehemalige Weinhändler, der Philosophie studierte und mit dem Sprachvirtuosen Raymond Queneau („Zazie“, „Autobus S“) zur Schule ging, misstraute der Sprache. Der Ausbruch aus dem Gefängnis der Begriffe, die die Welt vernageln, haben Künstler immer wieder versucht, doch kaum einer hat sich der Tradition des europäischer Bild- und Sprachsystems so radikal entzogen wie Dubuffet. Er verstand seine Malerei als ein anderes, assoziatives und sprunghaftes Sprechen, das näher an den Dingen ist, weil es nicht analytisch trennt, klassifiziert und fixiert, sondern in den alltäglichen Zusammenhängen belässt. Die Collage ist für ihn eine Grundhaltung, nicht bloß ein technisches Verfahren.
Die Saarbrückener Ausstellung ist chronologisch nach Werkgruppen geordnet. Das erste Bild „Desnudus“ (Entkleideter, 1945) zeigt einen männlichen Körper, der wie ein Barockgarten angelegt ist, eine symmetrische Körperlandschaft. Das Thema setzt sich fort, etwa in den Bildern aus der Serie „Damenkörper“ (1950): Mensch und Erde sind noch eins, sind vom selben Stoff, hängen zusammen. Für Dubuffet gibt es keine hässlichen Dinge. Erde, Abfall, Schmutz, eine aus den verschiedensten Materialien zusammengerührte Masse, in die er mit dem Finger oder mit Instrumenten ein hoch komplexes Durcheinander herstellte. Auch seine vulgären Kritzeleien, haben jene vorbegriffliche Urtümlichkeit und Unmittelbarkeit, wo Gedanken und Gefühle noch roh und unschuldig sind. Dubuffet brachte das Chaos, den Urschlamm in den Bilderrahmen, das Fließende, Formlose, in dem alles noch zusammenhängt und aus dem alles werden kann: Figuren, Landschaften und Gesichter tauchen aus dem Chaos auf, so unästhetisch, so unordentlich sehen sie aus. Die Bilder sind primitiv, Kritzeleien wie von Kindern, „Wilden“ oder Geisteskranken, deren Arbeiten Dubuffet studiert hat. „Ich habe ein Leben lang gebraucht, um wie ein Kind zu zeichnen,“ hatte Picasso einst bemerkt.
Das Denken und die Wahrnehmung sind für Dubuffet sprunghaft, fragmentarisch und bewegen sich um die Dinge herum. Das europäische Denken dagegen ist für ihn ein Herrschaftsapparat, der hierarchisch klassifiziert und das, was tausend Aspekte hat, zu unverrückbaren Identitäten gefriert. So gibt es bei Dubuffet keine Komposition und keine Perspektive, die in die Bildfläche geklappten Landschaften haben den Horizont knapp am oberen Bildrand. Der chronologische Umgang kreist um die in der Rautenmitte aufgebauten Exemplare aus dem Kosmos „Hourloupe“. Das Malen als assoziativ springendes, ausuferndes Sprechen hat Dubuffet in „Hourloupe“ systematisiert. Es handelt sichumeine ornamentale Bildschrift aus kleinen ineinandergreifenden Teilen, ein puzzleartiges Netz, das alles überzieht und alle Besonderheiten des dargestellten Gegenstandes einebnet.
Auch bei den Porträts ging es nicht um die Ähnlichkeit. Denn „Aufmerksamkeit tötet alles“, weil sie festlegt. Die Wahrnehmung soll fließend bleiben. Nach dem gleichen Prinzip des fragmentarischen Sehens aus verschiedenen Blickpunkten schuf der Künstler Skulpturen. Die Skandale, welche Dubuffets Arbeiten einst auslösten, entsprangen nicht einer Anti-Haltung im Sinne des Dadaismus‘. Dubuffets Kunst war nicht anti, sondern anders. Schmutzfarben und Abfall verwendete er nicht konsumkritisch wie viele nachfolgende Künstler. Seine Kunst ist wild, anarchisch, dreckig, roh: „Art brut“ – Kunst im Rohzustand.

(Siméon Chardin) Eine Pinselspitze Licht

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Eine Ausstellung zu Jean Siméon Chardin im Grand Palais in Paris

Von den Malern wegen seiner auratischen peinture bewundert, von Diderot als Zauberer gerühmt, der mit Licht und Luft auf der Pinselspitze male, vom Pariser Bürgertum wegen der Wahrhaftigkeit und Natürlichkeit der häuslichen Szenen geliebt, vertreten in den Sammlungen der Pompadour wie Katharina der Großen und zu seinem 300. Geburtstag endlich so bekannt wie Vermeer: Jean Siméon Chardin (1699 bis 1779). Ausgestellt sind im Pariser Grand Palais 95 Werke, darunter viele Repliken, die erstmals verglichen werden können. Ein Höhepunkt sind die vier späten Pastelle, die in der Karlsruher Ausstellung im Sommer nicht zu sehen waren.
In ihnen erwies sich der größte Kolorist des französischen Rokoko nicht nur als großer Porträtist, sondern auch als Vorläufer des Impressionismus: Diderot hatte staunend entdeckt, dass die Farben sich erst dann, wenn man zurücktritt, zum „wahren Ton“ zusammenschließen. Chardin malte langsam und wenig, niemand hat ihm beim Arbeiten zugesehen. Im Handwerkermilieu zu Hause und ohne höhere Bildung, beschränkte er sich darauf, das häusliche Leben seiner Nachbarn zu malen. Man hat seine Bilder immer wieder mit den Niederländern des 17. Jahrhunderts verglichen. Doch unterscheidet sich sein pastoser Farbauftrag von der niederländischen Feinmalerei, und anstelle von Vanitas-Symbolen und anzüglicher Derbheiten findet man bei Chardin eine verhaltene Freude an der Schönheit genügsamen bürgerlichen Lebens. Das kleine Mädchen mit dem Federballspiel gehört zu den schönsten Bildern. Der Charme der von Rousseau eingeforderten Natürlichkeit bezaubert auch heute. Man war der gezierten Frivolitäten des Rokoko überdrüssig. Die vom Aufklärer Diderot verlangte Moralität der Kunst besteht bei Chardin in der Wahrhaftigkeit. Er malte, was er sah, ohne moralisierendes Pathos, ohne Symbolik, ohne Manier. Sein scharfer und behutsamer Blick führte die Malerei in die Moderne: sacht löste er sie von ihrer Abbildfunktion und schuf ihr eine eigene Wirklichkeit. Der einfachste Gegenstand war ihm recht, um das Gewicht von der Abbildung auf die Malerei selber zu verlagern. Allein das kleine Bild mit nur einem Glas Wasser, drei Zwiebeln und einem irdenen Kaffeetopf ist in seiner Reduktion von einer malerischen Delikatesse, dass es „einen Umweg lohnt“. Und in der Qualität der Selbstporträts (Kreidestift) rangiert Chardin neben Rembrandt.

(Ottmar Hörl) BH oder Bibel

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Der Künstler Ottmar Hörl lässt fotografieren, was wichtig ist

Was ist wirklich wichtig im Leben: der Familientisch, die Eheringe, das Telefon, Bücher, die Duschkabine, das Vogelhäuschen, das Kinderbett, Dessous, die Bibel? 1 400 Motive haben die Einwohner des Städtchens Götzenhain bei Frankfurt am Main für den Künstler Ottmar Hörl fotografiert. Vor einiger Zeit hater jeder Familie eine gesponserte Kamera in die Hände gedrückt mit dem Auftrag, das zu knipsen, was ihr im Leben unverzichtbar erscheint – nur Menschen sollten nicht abgelichtet werden.
Ottmar Hörl? Das ist der mit den 4000 Gartenzwergen im letzten Jahr vor der Münchener Oper. Ein paar von den Zwergen machten den „Effenberger“, man erinnert sich. Im Projekt „Ich sehe was, was du nicht siehst“ hat sich Hörl des hintergründigen Witzes enthalten, der sonst viele seiner Arbeiten bei den Medien beliebt gemacht hat. Diesmal war die Sache ernst, und die inszenierten, um Verständlichkeit bemühten Fotos sind es mit wenigen Ausnahmen auch.

Die Kunst der Mülltonne
Hörl orientiert sich an der industriellen Massenproduktion und stellt ausschließlich Multiples her, indem er vorgefertigte Objekte – Papierkörbe, Mülltonnen, Besen, Drainageschläuche, Gartenzwerge –wie einst Marcel Duchamp in ihrer simplen Faktizität ausstellt, höchstens farbig verändert. Dass er damit die Position des Künstlers so weit wie möglich zurück nimmt, kreiden ihm manche als Verkaufsmasche an. Die Fotos, welche die Leute von Götzenhain gemacht haben, sind für ihn Halbfabrikate, die er zu einer raumfüllenden Collage montiert hat. Hörl versteht sich als Bildhauer – sein Raumbegriff ist weit: die „soziale Plastik“, die laut Joseph Beuys gesellschaftliche Dimensionen einbezieht, umfasst hier einen ganzen Ort.
Öffentlichkeit war schon immer wichtig in den Arbeiten Hörls. Die vielen Gespräche, die er vom Angelsportverein bis zum Geflügelzuchtverein geführt hat, um die Bürger zu gewinnen, sind ebenso Treibsatz des Projekts wie die familiären Auseinandersetzungen um die Entscheidung für ein einziges Lieblingsobjekt. Sie gehören – ähnlich wie die Bundestagsdebatte um Christos Verhüllung des Reichstages – zum Kunstganzen. Der Künstler als Sozialforscher, der etwas erfahren will, was bisher noch niemand weiß.
Das Ergebnis versteht Hörl als ein Sittenbild in der Tradition der niederländischen Stillleben- und Genremalerei. Im Stillleben des 17. Jahrhunderts stehen erstmals Dinge an Stelle von Personen. Damals gaben sie Auskunft über Stand und Reichtum, heute künden sie immer noch von Schicht und Selbstverständnis, aber auch von Wünschen und verborgenen Erfahrungen.
Die abgelegene Gartenbank und das ruhige Klo: Die Motive zeigen überwiegend ein Bedürfnis nach Zurückgezogenheit und Sicherheit. Neben der Reduktion künstlerischer Eingriffe auf das Allernotwendigste und dem klugen Umgang mit der Öffentlichkeit finden sich bei Hörls Arbeiten zwei konzeptuelle Besonderheiten: Alle Gegenstände, die Hörl verwendet, haben nach dem Vorbild von Duchamps berühmtem Urinoir auch im Bedeutungsfeld der Kunst noch ihre kunstexterne praktische Bedeutung. Ein Besen verliert durch seine Transformation in Kunst nicht seine Besenhaftigkeit. Gegenstände des Alltags sind in neuen Kontexten ebenso verfremdet wie wieder erkennbar. Die Wiedererkennbarkeit war mit der gegenstandslosen Kunst, die sich von allen Bezügen zur Alltagswelt befreit hatte, verloren gegangen für ein Publikum, dessen hauptsächliches Beurteilungskriterium der Vergleich des Abbilds mit der Realität war. Ottmar Hörl hat den Satz „Ich verstehe nichts von Kunst“ fragwürdig gemacht. Das Publikum wird mit allbekannten Dingen konfrontiert. Die Bürger von Götzenhain diskutierten bei der Vernissage zum zweiten Mal über die Fotos. Wer hat wohl das Foto mit der Unterwäsche gemacht? Wieso ist das das Wichtigste? Der Praxisbezug der Fotos ist hier die öffentliche Selbstreflexion. Die Bibel? DerMercedes? Fraglos hat die allgemeine Diskussion des selben Themas einen integrativen Effekt.Die Fotos repräsentieren die Vielschichtigkeit der Bewohner, die Nicht-Repräsentierbarkeit des Ortes. Sie sind Soziogramm. Hörl ist ein politischer Künstler. Doch zeigt er nicht mit dem Finger auf gesellschaftliche Übel. Er belehrt nicht und klagt nicht an. Er fragt. „Ich verlange von den Menschen genau das, was sie als Menschen auszeichnet: eine Entscheidung zu treffen“, sagt Hörl. Und stürzt damit einen ganzen Ort in eine lebhafte Auseinandersetzung um das Wichtigste im Leben. Mehr kann Kunst selten bewegen. „Wie finden Sie das Ganze?“ „Toll!“, sagt ein Götzenhainer, eine Bratwurst in der Hand. „Das Foto mit dem Hund ist von mir.“