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(The Dandy) Auf dem Niveau des blauen Porzellans

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Zum Ende des Jahrhunderts wieder en vogue – der Dandy:
Erinnerung an eine extravagante Spezies

Der Wunsch war präzise: „Fünfhundert signierte Exemplare an Freunde, sechs für die Öffentlichkeit, eines für Amerika.“ Was Amerika anlangt, so hatte Oskar Wilde 1882 und 1883 zwei Vortragsreisen unternommen, um den Bürgern dieses Landes, denen der Begriff „Ästhetik“ gänzlich neu war, seine Theorie des Schönen nahezubringen. Er verblüffte das Publikum, das er verachtete, durch Kostümierung und rhetorische Brillanz. Seine geschliffenen Bonmots, paradoxen Aperçus und liebenswürdigen Unverschämtheiten bezauberten die Damen und entwaffneten selbst die Gegner, zumal da er seine Überlegenheit more britannico, das heißt nicht ohne Selbstironie vorführte. „Meine Schwäche ist: Ich kann anpacken, was ich will, es gelingt mir immer.“ Zum Elitären bekennen sich in unserer, dem Anspruch nach egalitären Gesellschaft inzwischen viele. Doch der Typus, in dem alle Erlesenheit zusammengefaßt und auf die Spitze getrieben ist, wird oft mit den Abarten verwechselt: jenen Gecken, Stutzern und Snobs, die auf den Boulevards und in den Cafés des 19. Jahrhunderts durch affektiertes Gehabe und überkandidelte Kleidung Aufsehen erregten. Fritz J. Raddatz nennt Oskar Wilde einen Snob. „Ein Dandy war er nicht.“ Ein Irrtum. „Wilde – das ist der letzte große Dandy seiner Zeit, ein Heros seiner Epoche. Seine Nachfolger sind spleenige junge Männer“, schreibt H. J. Schickedanz (Der Dandy, 1980). Herablassende Titel von der Art „Wer seine Schuhe auch von unten putzt“ reduzieren die Figur des Dandys auf sein elegantes bis extravagantes Äußeres. Sie bedienen ein Vorurteil.
In der Presse verstreut, zuletzt anläßlich des Todes von Ernst Jünger, taucht er nun immer häufiger auf, der Begriff, der das verpönte Elitäre repräsentiert. „Es fällt mir von Tag zu Tag schwerer, auf dem hohen Niveau meines blauen Porzellans zu leben“, meinte Wilde, der in Übertreibungen schwelgte, über die er sich zugleich lustig machte. „Nur unter eleganten Leuten bin ich bei mir selbst.“ Der Dandy ist eine metropole Erscheinung und an öffentliche Orte gebunden, die heute nicht mehr existieren. Er braucht Publikum. Und den Luxus der Muße, die Wohlhabenheit voraussetzt.
In Oskar Wilde (1854 bis 1900) erblühte der Typus, den Beau Brummel (1778 bis 1840) begründet hatte, zu schillernder Pracht: Er lebte nicht nur den Dandy bis zur Neige, sondern propagierte diese erhabene Lebensart auch in Vorträgen und Schriften zur Ästhetik: „Das Ziel des Lebens ist es, zum Kunstwerk zu werden.“ Ein Ziel, das bereits Brummel verfolgte, der nach Ansicht von Barbey d’Aurevilly ein großer Künstler war. „Er gefiel durch seine Person, wie andere durch ihre Werke gefallen.“ Wie Brummel war Wilde ein Meister der geistsprühenden Konversation, in der Tradition des Rokoko, in dessen Salons einst Casanova brilliert hatte. Der war freilich kein Dandy, sondern ein Abenteurer großen Stils, der die Frauen liebte. „Das Weib ist das Gegenteil des Dandys“, schrieb Baudelaire, denn der Dandy, das ist der „Kunst gewordene Mensch“ (Otto Mann 1925). „Das Weib ist natürlich, das heißt, abscheulich“ (Baudelaire). Doch die homo-erotische Dimension charakterisiert den Dandyismus nicht durchgängig. Für Wilde war die stilvolle Sprache eine Form des Handelns, und in Bewunderung der Antike galt ihm die Kontemplation „als einzig menschenwürdige Beschäftigung“. Anders Ernst Jünger, der „Elite- Mensch“ (Spiegel): Er verherrlichte die Tat und war insofern gewiß kein „cooler Dandy“, auch wenn er noch im hohen Alter stets hübsch angezogen war.
Beau Brummel, der graziöse Günstling des ihm geistesverwandten Prinzen von Wales, des späteren Georg IV., Erfinder des Fracks und des englischen Gentlemans (sein Diktum „Gut gekleidet sein, heißt nicht auffallen“ wurde Programm), verkörperte – gut eine Generation vor dem auffallend gekleideten Wilde – die Herrschaft des guten Geschmacks über die vornehme Gesellschaft.
Sogar der König folgte seinem Urteil. Obwohl nicht von Adel, war er der dekadenten Aristokratie durch sein unangefochtenes Vorbild ein ironischer Zeremonienmeister. Der Dandyismus, wie Brummel ihn vorlebte, war weit mehr als bloße Kleiderordnung: Es handelte sich um ein Konzept streng ästhetischer Lebensführung, allerdings jenseits der moralischen Ansprüche des im Cortegiano des Quattrocento postulierten Ideals. Die Etikette, freilich lässig befolgt, band die wankende Oberschicht zusammen. „Domestiken“, so Wilde, „erkennt man an ihren perfekten Manieren.“
Die Stilisierung des Ich, die gegen das Natürliche bewußt gesetzte Künstlichkeit (Wilde: „Die erste Pflicht im Leben ist es, eine Pose einzunehmen“), die nicht preziös wirken durfte, folgt aus der Anwendung künstlerischer Kriterien auf das Leben selber. Dies ist das Prinzip allen Dandytums. Der Dandy richtete sich gegen die Nivellierungen der Massengesellschaft, gegen die Fortschrittsseligkeit und den Tatsachenfetischismus des Bürgertums, gegen den Primat der Maschinen, gegen das Mittelmaß. Er war eine rückwärtsgewandte Rebellion aristokratisch Gesinnter gegen die Trivialitäten der Demokratie, die Wilde mit dem Bonmot kommentierte: „In einer guten Demokratie sollte jeder ein Aristokrat sein.“ Angesichts des Niedergangs der Aristokratie handelte es sich schon bei Brummel um den Versuch, durch Vervollkommnung des Ich einen neuen, von Herkunft unabhängigen Adel zu schaffen. Es ging darum, sich selbst zu erziehen. Anders als die bürgerlichen Konzepte zur Gestaltung eines guten, anständigen Lebens, die stets einer auf Ökonomie hinauslaufenden Moral folgten, stellt der Dandyismus die Ästhetik programmatisch über die Ethik. „Die Läuterung und Vergeistigung der Natur ist nicht ein moralisches, sondern recht eigentlich ein ästhetisches Phänomen“ (Wilde). Etwas als schön zu empfinden, sei das Höchsterreichbare. Sowohl Brummel als auch Wilde übernahmen sich bei der Selbstinszenierung. Verschwenderisch endeten beide mit großer Contenance im Elend.

Selbstverständlich konnte die Rebellion des Dandyismus gegen die raffgierige, heuchlerische viktorianische Bourgeoisie nicht vulgär sein: Es ging nicht um das „Was“, sondern um das „Wie“, nicht um Inhalte, sondern um die Form. Inhalte, das war das rohe Leben, wie es etwa der naturalistische Roman eines Zola abbildete. Bei den Versuchen, Aufsehen und Anstoß zu erregen, handelte es sich, wie Baudelaire in seinem Essay Der Dandy bemerkt, um ein „Bedürfnis, sich eine Originalität zu bilden, die sich in den äußeren Grenzen der Konvenienz hält“.
Barbey d’Aurevilly stimmt mit Baudelaire überein: „Tout Dandy est und oseur, mais un oseur qui a du tact.“ Das „Wagnis“ des in seinem Selbstverständnis durchaus heldenhaften Dandy, des Nachfahren der Ritter und Kavaliere, der nach dem Vorbild der Stoiker („nil admirari“) in jeder Situation kaltblütige Gelassenheit zeigte, bestand keineswegs darin, die gesellschaftlichen Regeln zu brechen. Die Formung des Selbst war die Alternative zum Aufstand der Massen, denen es um Inhalte geht: Arbeit und Brot.
Den Primat der Form über den Inhalt hat Wilde immer wieder formuliert. Provokant spricht er von der Tugend des Blendens, von dem Verfall des Lügens und der Notwendigkeit, eine Maske zu tragen, dieses dem Rokoko geläufigen Mittel des Posierens. „Verhüllung, Täuschung, Verblüffung“, nach Otto Mann (1925) die „formalen Mittel dandyhafter Unterhaltungskunst“, zeigen eine „Neigung zur Mystifikation“. Die von Baudelaire vertretene französische Variante des Dandyismus fügt die décadence und den ennui, den Überdruß und die Lust an Selbstzerstörung hinzu. „Die Kunst errichtet zwischen sich und der Wirklichkeit die unübersteigbare Schranke des schönen Stils“ (Wilde). Der Stil macht die geheimnisvolle Unnahbarkeit des Dandys aus. Seine Blasiertheit war der Panzer, die Kunst des ironischen wie des beißenden Spottens das Florett. In der kühlen Miene und Haltung des Dandys spricht sich, so Baudelaire, „der unerschütterliche Vorsatz aus, sich nicht bewegen zu lassen“. Derart, in einer dem Bohemien ähnlichen Verweigerungshaltung, trotzt das Individuum der Welt in (fiktiver) Souveränität. Gerade die Leidenschaftslosigkeit des Beau Brummel ließ ihn, so Barbey, als „geborenen Herrscher“ erscheinen. Herrscher über den Geschmack. Brummel war cool.
Heute, angesichts der von Intimität durchsetzten Öffentlichkeit, kommt die Sehnsucht nach Distanz auf. Die Formlosigkeit heutigen Umgangs hat sich mit der Übernahme des american way of life verbreitet: Jeans, Rustikalität, Sportlichkeit, Lässigkeit, ewige Jugend und Demokratie gehören zu seinen Zutaten. Die Studentenrebellion und die aufstrebende Pop-Kultur der sechziger Jahre, die sich gegen den überholten Formenkanon der Elterngeneration richtete, beförderten das Bedürfnis, den Umgang stets neu zu erfinden. Höflichkeit war verdächtig, Konflikte waren erwünscht. Man wollte umstandslos und aufrichtig zur Sache kommen. Zu der infantilen Rücksichtslosigkeit, einer Spielart der von Richard Sennett konstatierten „Tyrannei der Intimität“, kommt nach der Wende das verdrossene Wir-Gefühl des untergegangenen Arbeiter-und-Bauern-Staates hinzu. Der Populismus der Politiker, die programmatische Indiskretion der Talkshows, der Dilettantismus in der Rock-Szene, die Gleichsetzung von Imitation und Kreativität, das selbstverständliche Duzen verbreiten in der auseinanderdriftenden Gesellschaft den Eindruck eines plebejischen Miteinanders. Schließlich formt sich in Zirkeln der Metropolen gegen die Plebejisierung samt Betroffenheitskult (Cora Stephan) ein elitärer Widerwille. Das Bedürfnis nach Selbststilisierung wird von zwei neuen gesellschaftlichen Tendenzen getragen, die das Zerfallen der herkömmlichen Arbeitsgesellschaft begleiten: die zunehmende Individualisierung der Lebensumstände, welche den Individuen selbständige Entscheidungen abverlangt, die zuvor durch Klasse, Familie, Geschlecht und Tradition vorgegeben waren, und die Ästhetisierung des Alltagslebens, welche bedeutet, diese Entscheidungen nach Geschmackskriterien zu treffen.
Die alte philosophische Frage „Wie soll man leben?“ wird heute oft durch rücksichtslose „Selbstverwirklichung“ beantwortet. Dem elitären Widerwillen und dem Bedürfnis nach Einzigartigkeit fehlt die kommunikative Kompetenz des Dandys wie auch der öffentliche Rahmen, der die Spielregeln des Auftretens festlegt. Mit Jeans in die Oper zu gehen, ist problemlos. Da alles überall stattfinden kann – Vernissage beim Zahnarzt, Party in Abwasserkanälen, Dichterlesung im Bahnhof –, wird ein Auftritt unmöglich, der Spielregeln entspricht oder sie in Frage stellt.
Eine dem Dandy verwandte Ausprägung ist der Camp nach Schickedanz (1980), „der Dandy der Massenkultur“. In ihm scheinen Dandy und Bohemien zu konvergieren. „Ostentativ Distanz bewahrend und dem Ästhetizismus verschrieben, protestiert er gegen Mediokrität und Trivialität des bürgerlichen Lebens, gegen Arbeitszwänge und Anpassung der Massengesellschaft.“ Mit den Moden geht er nicht. „Äußerliche Originalität und Exzentrik sind lediglich Ausdruck adäquater Innerlichkeit.“ Der aus disparaten Fundstücken zusammengesetzte lakonische Mülljargon und das Styling der Egomanen im Umkreis der metropolen Kunstszene der 90er Jahre entsprechen der Tendenz in der Kunst, mit Abfall zu arbeiten. Bereits der Wildesche Dandyismus zersetzte die schöne Geschlossenheit des Stils à la Brummel durch subversive Übertreibungen. Seitdem hat sich die Vorstellung vom „Schönen“ gewandelt. Nicht, was zusammenpaßt, sondern was nicht zusammenpaßt, macht die Ästhetik der Selbstinszenierung aus. Der jugendliche Szenetyp posiert im Stil der Unvereinbarkeit oder des abgeschmacktesten Kitsches, dem süßlichen Bodensatz des alten Schönen. Gewiß steht dieser ironische Stil in der Tradition des épater les bourgeois in der Kunst. Dem Dandyismus ist er durch den Wunsch, zu verblüffen, durch Coolness und Endzeitgefühl verbunden. Der Dandyismus und seine Abarten treten in Übergangsperioden auf, in Zeiten, die halbseitig durch Hinfälligkeit objektiver Strukturen, Dekadenz und Zukunftsangst gekennzeichnet sind, merkwürdigerweise meist um die Jahrhundertwenden: um 1800 zum Übergang von der feudalabsolutistischen zur bürgerlichen Epoche, um 1900 am Ende der Belle Époque. Und jetzt als Endzeitästhetik post Tschernobyl, in Ironie, die Aggression mit Resignation mischt.

(Saul Steinberg) Kritzeln ist das Grübeln der Hand

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Der Zeichner als Menschenforscher:
Vor 60 Jahren begann der Cartoonist Saul Steinberg seine Karriere

Zu einem runden Geburtstag kann man Saul Steinberg nicht gratulieren. Er ist jetzt 82. Aber vielleicht paßt es ja sogar, einen Künstler, der die soziale Identität zum zentralen Thema seiner Arbeit macht (und sich für Natur nur als soziales Faktum interessiert), nicht zum Geburtstag, sondern zum Beginn seiner Karriere zu beglückwünschen: 1936, vor sechzig Jahren, erschien im Mailänder Blatt Bertoldo seine erste Karikatur, heute gilt Steinberg als der bedeutendste Cartoonist der Welt.
Anläßlich der ersten Retrospektive im Whitney Museum im Jahre 1978 schreibt der amerikanische Kunstkritiker Harold Rosenberg in einem facettenreichen Essay, Steinberg habe ‘Kernfragen der Kunst’ behandelt. ‘In seinen Händen wurden der Cartoon zu einer wichtigen Kunstform.’ Ähnlich wie Truman Capote die zuvor als Sensationsjournalismus wenig angesehene Reportage zur Literaturform entwickelte, erweiterte Steinberg den auf den schnellen Witz abgerichteten Cartoon zu einem Mittel geistvoller und witziger Reflexion. Seine Zeichnungen haben den Charakter von Aperçus. Rosenberg rangiert Saul Steinberg neben Duchamp, nennt ihn einen Vorläufer der Pop Art, weil er wie diese auf Gemeinplätze reagiert, und vergleicht ihn wegen der Fähigkeit, zugleich mehrere Stile parodierend zu balancieren, auch mit James Joyce. Der Künstler selbst hält sich für eine Art Schriftsteller: ‘Die ununterbrochene Linie meines Zeichnens kommt aus meiner Kindheit und ist vielleicht eine Art zu schreiben aus jener Zeit, als ich noch nicht schreiben konnte.’ Und: ‘Das Kritzeln ist das Grübeln der Hand.’
Die Arbeiten aus den vierziger Jahren zeigen Steinberg vorerst als genau beobachtenden, treffsicheren Cartoonisten, die späteren Arbeiten haben zunehmend den Charakter vielschichtiger Kommentare zur Welt. Der Cartoonist stellt in erstklassigen Galerien (Sidney Janis Gallery in New York, Galerie Maeght in Paris) und Museen (Stedelijk Museum Amsterdam, Kunstmuseum Basel) aus. Wie nur wenige Künstler hat Saul Steinberg einen soziologischen Blick. Viele seiner analytischen, stets sehr ‘kopfigen’ Cartoons kreisen um die Herstellung des sozialen Selbsts, um die Selbstentfremdung in sozialen Rollen. Obwohl vor rund vierzig Jahren entstanden, lassen sich so manche Arbeiten doch auf unsere gegenwärtigen Probleme hin lesen. Etwa ‘Cube’s Dream’: Ein massiver Würfel, durch kräftige Kontur und Schatten als wirklich dargestellt, denkt sich selbst in einer Sprech- oder Gedankenblase als einen feineren, transparenten, an allen Ecken durch Buchstaben präzisierten Würfel. Nichts anderes als einen Würfel kann der Würfel sich denken. Er geht nicht - wie es ja oft im Traum geschieht - über sich hinaus: Ein Vogel oder eine Blume zu sein, liegt außerhalb seiner Vorstellungskraft. Dies scharfkantige, spitzeckige, allem Lebendigen entgegengesetzte stereometrische Paßstück denkt sich nicht anders als durchsichtig und präzise, als kontrollierbar, kalkulierbar und paßgenau. Der Würfel kann hier als Metapher für einen phantasielosen, selbstbezogenen, perfektionistischen Rationalismus stehen. Die selbstgefällige Beschränktheit einer gegen das Soziale und die Natur gleichgültigen Intelligenz läßt sich eleganter kaum ausdrücken. Selbstbezogenheit zum Thema hat auch der Cartoon, in dem ein Mann eine Sprechblase vollquatscht, in deren Mitte er selber steht - leicht erhöht. Vor dem Gebilde, dessen Hermetik durch Rechteckigkeit betont wird, steht ein zweiter, der den Redner hinter dem Wortverhau verständnislos betrachtet. Sprechen, das soziale Mittel, das uns Menschen potentiell auch und gerade dann miteinander verbindet, wenn wir einander fremd sind, wird hier zum Werkzeug des Einschließens und Ausschließens pervertiert. Eine Variation des Themas zeigt einen Redner, der sich nicht nur durch sein eigenes Geschwätz erhöht - er hat sich auf eine Säule geredet -, sondern auf seiner Redewolke gar mannshoch über dem Boden schwebt. Die drei hier - notgedrungen, denn Steinberg ist ungeheuer heikel bei Abdruckrechten - mit Worten beschriebenen Cartoons aus den frühen fünfziger Jahren (1961 in ‘Labyrinth’) lassen sich auf ein auffälliges Phänomen unserer Tage hin lesen: den Realitätsverlust durch zunehmende Ich-Bezogenheit und den Verlust der Kommunikationsfähigkeit. Man könnte in den Akteuren aller drei Zeichnungen ‘Nieten in Nadelstreifen’ sehen: Manager, Politiker, Experten. Daß sich bei zunehmender gesellschaftlicher Pluralisierung Gruppen in Soziolekten verbarrikadieren - von Pseudo-Fachsprachen bis zum Rockjargon -, ist eine absichtsvoll geschürte Tendenz, Insider zu produzieren, zusammenzuschließen und auszunehmen. Ausgrenzung ist die andere Methode: Ein Outsider ist in Steinbergs Cartoon der kleine Mann, der fragend vor dem exklusiven Gerede des Insiders steht. Der kleine Mann wird bald zu den politikverdrossenen, teilnahmslosen Wahlbürgern zählen, die es hierzulande neuerdings, in den USA schon lange, gibt. Eines von Steinbergs großen Themen ist der Schein, das Theatralische, die Kostümierung und Maskierung, die Erfahrung, daß nichts so ist, wie es aussieht. Harold Rosenberg hat diesen Aspekt besonders herausgestellt. Als Immigrant und als Künstler, dazu Künstler in einem Grenzbereich, hat Steinberg einen scharfen Sinn für das Fremdsein. Daß nicht nur er, sondern alle einander fremd sind, stellt er dar, indem er die 14 Personen einer Party in 14 unterschiedlichen Stilen zeichnet. Auf dieselbe Weise wird die wechselseitige Fremdheit der Geschlechter an einer Serie von Paaren vorgeführt.
Wenn - in einem anderen Cartoon - die Frauen Vögel und die Männer Kater sind, erscheint ihr Verhältnis als asymmetrisch und gefährlich. Fremdheit ist in einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft auch darum heute ein wichtiges Thema, weil sie, wie der New Yorker Soziologe Richard Sennett gezeigt hat, durchaus auch positive Seiten hat. Die Menschen haben, um nicht mit ihren unmittelbaren Bedürfnissen und Interessen aufeinanderzuprallen, Verkehrsformen und Maskierungen erfunden, in denen sie sich verfremden, das heißt anders darstellen, als sie sind. Handelt es sich dabei einerseits um Normierung und Zwang, so andererseits auch um einen Schutz des Ichs.
Saul Steinberg hat den Prozeß sozialer Kultivierung und seine Lächerlichkeiten in vielen Varianten dargestellt. Schon 1936 in ‘Bertoldo’: ‘Verdammt, das bin ich ja gar nicht!’, sagt ein Mann, der in den Spiegel schaut. 1945, in ‘All in Line’, tritt erstmals der Mann als Zeichnung auf, die sich selbst zeichnet, einer, der sich ‘selbstverwirklicht’, ohne zu ahnen, daß er das Konstrukt eines Autors (sagen wir: der Gesellschaft) ist. In ‘Passeport’, 1954, streicht er sich durch, nachdem er seinen Kopf zunächst als bombastische Unterschrift, als geschäftsfähige Kritzeleikonstruiert hat.
Dann Fingerabdrücke in Dokumenten, verwendet als Gesichter: bürokratisch beglaubigte Identitäten auf der Basis eines unveränderbaren natürlichen Merkmals. Es entstehen gesichtslose, entpersönlichte Ichs, erfunden zur Kontrolle oder Ausgrenzung des Fremden, des Menschen, der einen Paß braucht, entworfen aus der Perspektive der Macht. Dann die Masken aus gerissenem Papier, Sinnbild des sozialen Images: Verbergen sich unter ihnen weitere Masken oder endlich doch das Kaninchen, Steinbergs Metapher für Ich? Auf einem der raren Photos trägt Steinberg selber eine Maske. Er hat sich eine Einkaufstüte über den Kopf gestülpt. Er ist selbst zu einer seiner Figuren geworden.

(Giacomo Casanova) Frei zu lieben und frei zu leben

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Der Frauenheld, der aus den Ängsten seiner Zeit ausbrach:
Vor 240 Jahren entkam Giacomo Casanova aus den Bleikammern von Venedig

Der Mond war in dem Nebel, der aus der Lagune aufstieg, endlich nicht mehr zu sehen. Es war kurz vor Mitternacht. Bald würde die große Glocke von San Marco schlagen. Giacomo Casanova, der Liebling der Frauen und nachmalige Lotteriedirektor, Astrologe, Finanzberater, Zauberer, Alchimist, Impresario, Geheimagent, Bibliothekar und Literat, saß rittlings auf dem First des Dogenpalastes, hinter ihm Pater Balbi, dessen Hut gerade über das steile Dach gerollt und in den Kanal gefallen war.
Vor 240 Jahren, in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November war der Hochstapler mit Hilfe des wegen Verführung eingekerkerten Mönchs durch die Bleidächer ausgebrochen, aus den ‘Piombi’, wie die sieben, später entfernten Sonderzellen unter dem Dach des Palastes hießen. Fünfzehn Monate schmachtete der Frauenheld in einer dunklen Zelle, schwitzte und fror erbärmlich, ohne zu erfahren, wessen er angeklagt war. Es handelte sich wie üblich um eine Denunziation. Wie er sich aus einem Riegel einen Spieß gefeilt, mit dem er Wände, Decken und Türen durchbohrt, Schlösser durchstoßen, die Bleiplatten hochgebogen hatte und auch die Wächter erstochen hätte, falls es denn nötig gewesen wäre; mit welcher Unverfrorenheit er dann im Hause ausgerechnet jenes Polizeioffiziers nächtigte, der mit den Sbirren unterwegs war, um ihn zu fassen: Die detaillierte Beschreibung seiner tollen Flucht machte den Abenteurer bald in ganz Europa berühmt und setzte die venezianische Staatsinquisition dem Gespött aus. Sogar Papst Rezzonico lachte, den Casanova später um Fürsprache bat, weil er es im Exil vor Heimweh nicht mehr aushielt.
Die Serenissima, die sich als Republik ausgab, hatte sich als eine mittelalterliche Tyrannei erwiesen. Die Pompadour und der ganze Hof von Versailles amüsierten sich, als der sprachgewandte Parvenu mit rachsüchtigem Witz beschrieb, wie er, zerschürft und blutend, seinen eleganten Anzug angelegt, dazu den schönen Hut mit der spanischen Goldspitze und der weißen Feder aufgesetzt hatte, um sich am offenen Fenster des Dogenpalastes zu zeigen: Als die Wächer zu dieser ungewöhnlichen Stunde dort einen so vornehm gekleideten Herrn erblickten, hasteten sie mit den Schlüsseln hinauf, in der bangen Annahme, oben sei versehentlich ein Patrizier eingeschlossen, denn der mächtige ‘Rat der Zehn’ beriet sich bei Nacht. Sie öffneten beflissen die schwere Tür, welche dem Spieß widerstanden hatte, und wurden herrisch beiseite gestoßen. Der fast 1,90 Meter große Athlet lief schnell, ‘aber nicht wie ein Fliehender’ die prachtvolle Gigantentreppe hinab, passierte kaltblütig das Prachttor des Palastes, durch das heute die Touristen drängen, und schritt über die Piazetta zum Ufer. Dort bestieg er die erstbeste Gondel und ließ sich mit dem angstschlotternden Pater nach Mestre übersetzen. ‘Der Morgen war herrlich, die Luft rein, die Sonne sandte uns ihre ersten wunderschönen Strahlen, und meine beiden jungen Gondolieri ruderten kräftig und gewandt.’ Dann brach Casanova in Tränen aus. Er dankte Gott. Er war völlig erschöpft. Es gibt manche Gründe, um sich an Casanova zu erinnern, der im Gegensatz zu Don Juan, dem niederträchtigen Frauenjäger, seinen Degen nur ausnahmsweise benutzte, denn er verstand sich mit Worten zu wehren. Casanova besaß ‘die Grazie eines frechen Geistes (Hermann Kesten), er war ein Meister der schönen und unverschämten Rede, ein schlagfertiger Charmeur, dessen Witz viele Tafelrunden unterhalten hat. Erst heutzutage wird Casanova als Feminist gewürdigt (Roberto Gervaso 1977), nachdem das prüde 19. Jahrhundert seine Schriften unterdrückt und moralisierend entstellt hatte. Der ‘vornehme Herr’, der in der Kutsche fuhr ‘wie ein regierender Fürst’ (Kesten), zeigt sich als ein nach vielen Seiten hin entfaltetes, schillerndes Individuum, Prototyp eines Menschen, dessen Zügen man zum Ende unseres Jahrhunderts wieder begegnen kann: der spielerische und theatralische Hedonist, der sein Selbst inszeniert. Der schöne Schein - die Postmoderne hat ihn wieder zum Thema gemacht - war im 18. Jahrhundert ein ästhetischer Apparat, nach dessen Regeln die Edlen und ihre Groupies ihre Rollen spielten. Niemand blendete virtuoser als Casanova, der Sohn einer Schauspielerfamilie, dessen bevorzugte Orte die Theater der Metropolen waren. ‘Wenn er leise an die Tür der Ankleideloge der Primadonnen und Primaballerinen klopfte, so machte er Familienbesuche . . . Überall umarmte er alte Freundinnen’ (Kesten). Die Foyers, wo die Aristokraten unter den Tänzerinnen und Figurantinnen sich das Monatsliebchen auszusuchen pflegten, und an den Spieltischen fand der Emporkömmling Gelegenheit, mit den Großen in Kontakt zu kommen und sich beliebt zu machen: Neben seiner Unabhängigkeit, die ihm gebot, auch bei den günstigsten Heiratsaussichten im letzten Moment das Weite zu suchen, war beliebt zu sein, Casanovas ausdrückliches Ziel. Übrigens war der Salonlöwe Doktor beider Rechte. Der Titel war echt, er erwarb ihn im Alter von 16 Jahren an der berühmten Universität von Padua, obwohl er mit acht erst Schreiben gelernt hatte. Casanova war ein Wunderkind.
Sein spektakulärer Ausbruch aus einem Gefängnis mit hasengroßen Ratten, das bis dahin als eines der sichersten der Welt gegolten hatte, zeigt, daß der Mann nicht nur ein Feinschwätzer war, wie manch modischer Jünger der Aufklärung, an dessen freimütigen Reden sich die Herrschenden ergötzten, sondern einer, der seine Überzeugungen lebte: ‘Der Mensch ist frei; aber er ist es nicht mehr, wenn er nicht an seine Freiheit glaubt. Denn je mehr Macht er dem Schicksal beimißt, desto mehr beraubt er sich selber jener, die Gott ihm verlieh, indem er ihm mit Vernunft begabte’, schreibt Casanova programmatisch auf der ersten Seite seiner zwölfbändigen Lebenserinnerungen.
*Der Anhänger des Ancien Régime, das ihn nährte, starb im Jahre der Großen Französischen Revolution: Er hatte die Freiheiten, welche diese für alle proklamierte, längst probiert. Bewegungsfreiheit: Kaum einer fuhr im 18. Jahrhundert, in dem die Wege entsetzlich waren, die Kutschen umfielen oder von Deserteuren überfallen wurden, so rastlos in Europa umher wie Casanova, außer den Empfehlungsbriefen der Hochwohlgeborenen immer zwei Pistolen in der Tasche und im Gepäck pfundweise Schokolade und Täfelchen, um unterwegs Bouillon zu machen. Paris, Amsterdam, London, Berlin, Dresden, Moskau, Madrid, Rom, Neapel, Konstantinopel, um nur die bedeutendsten Städte zu nennen. Zunächst reiste der erklärte Kosmopolit aus Neugier, bald aber vagabundierte er als Berufsspieler von Hof zu Hof und in die Bäder der großen Welt, um die verschwenderischen Adeligen auszunehmen. Auch selber war er verschwenderisch. Er hatte vermögende Gönner. Der ‘demonstrative Konsum’ (Thorstein Veblen) war eine Lebensregel des Standes, dem er sich zurechnete. Meinungs- und Redefreiheit: Casanova machte aus seinen der Aufklärung und der Alten Philosophie entlehnten Ansichten keinen Hehl. Er debattierte mit Voltaire, Friedrich dem Großen, Katharina II. und vielen anderen bedeutenden Zeitgenossen ‘Ich war . . . kühn in meinen Worten.’ Wer ihn kränkte, hatte mit einer Schmähschrift oder einer Satire zu rechnen. Vor allem die Freiheit, selbst zu entscheiden, nahm sich Casanova auf eigenes Risiko. Im Unterschied zu anderen unbändigen Abenteurern, deren es im 18. Jahrhundert eine Menge gab, holte Casanova als hochintelligenter, breit gebildeter und reflektierter Mensch seine Taten geistig allemal ein. Seine Memoiren, für die er Tausende von Papieren in Koffern sammelte, beweisen das aufs schönste. Pater Balbi dagegen, der bäurische Mönch, wußte mit der Freiheit nichts weiter anzufangen, als im erstbesten Gasthof die Mägde zu betatschen (er stellte sich bald den venezianischen Behörden, die ihn stracks unter die Bleidächer zurückbrachten). Casanova hat über Freiheit nicht bloß nachgedacht: Er hat sie mit vollem Risiko gelebt. Er tänzelte auf den Schaumkronen des Rokoko dahin und war so frei, oft sogar die selbstgefaßten Pläne bewußt über Bord zu werfen. Sein einziges System habe darin bestanden, sagt er, sich ‘von Wind und Wellen treiben zu lassen. Welche Wechselfälle entstehen aus dieser Unabhängigkeit von einer bestimmten Methode!’ Die Fähigkeit zur Hingabe an neue und fremde Situationen, das Sicheinlassen, die unvorbereitete Bewältigung der ‘Wechselfälle’, die Improvisation, ist die Stärke und die Lust des selbstbewußten Abenteurers, der sein Ich immer neu erprobt, indem er es aufs Spiel setzt. Er ist das Gegenteil des ansässigen, besitzenden, kalkulierenden, in tausend Rücksichten und Abhängigkeiten befangenen Bürgers.
Casanova war ein Star, der sich selbst immer neu erfand und es liebte, seine Fähigkeiten in verschiedensten Berufen auszuprobieren. Doch auch eine stabile soziale Identität schuf er sich nach eigenem Belieben: Er nannte sich ‘Chevalier de Seingalt’. Chevalier durfte er sich aufgrund des Ordens vom Goldenen Sporn nennen, den der Papst ihm verliehen hatte. ‘Ich hängte mir das Kreuz sofort an einem breiten, karmesinroten Band um den Hals.’ Ohne das ‘von’ war im 18. Jahrhundert niemand ein Herr. Aber Seingalt? ‘Ei’, fragte ihn der Bürgermeister von Augsburg, ‘wieso gehört Ihnen denn dieser Name?’ ‘Weil er von mir selber stammt . . . Das Alphabet ist jedermanns Eigentum; das ist unbestreitbar. Ich habe acht Buchstaben genommen und habe sie so zusammengesetzt, daß sie das Wort Seingalt ergeben. Dieses so gebildete Wort hat mir gefallen, und ich habe es als meinen offiziellen Namen angenommen. Da ich die feste Überzeugung habe, daß niemand vor mir diesen Namen getragen hat, so hat niemand das Recht, ihn mir streitig zu machen . . .’
Im Unterschied zu anderen Abenteurern, die aus einsichtigen Gründen ihren Namen wechselten wie das Hemd, behielt Casanova den seinen bei und war bereit, sein selbstgeschaffenes Ich wie ein echter Ehrenmann mit der Klinge zu verteidigen. Niemand vor ihm habe diesen Namen getragen, argumentiert er und beansprucht damit gegenüber den Adeligen, die ihr Ego aus Namen speisen, die jahrhundertelang an Blut und Boden hängen, eine nur aus der Kunst bekannte Autonomie. Schließlich konstruiert er sich noch einmal für die Ewigkeit: literarisch.
*Casanova gehört zu denen, die ihre Biographie weitgehend selbst gemacht haben. ‘Vor allen Dingen erkläre ich meinem Leser, daß ich überzeugt bin, bei allem, was ich im Laufe meines Lebens Gutes oder Böses getan habe, für den guten oder bösen Ausgang selber verantwortlich zu sein.’ Mit diesem stolzen Satz beginnt Casanova seine Lebenserinnerungen. Der Chevalier de Seingalt hatte noch keine Angst vor der Freiheit. Er flüchtete in keinen Zauber. Er zauberte selbst.