Kategoriearchive: Text in der Frankfurter Rundschau

Mischa Kuball in Montevideo, Uruguay

Grünes Licht für Montevideo. Eine Installation Mischa Kuballs in Uruguay

Licht ist erkennbar und bedeutsam als Zeichen, wenn Dunkelheit herrscht. „Illuminismo“, „la siecle des lumieres“, „enlightenment“, so lauten die Entsprechungen zum deutschen Begriff „Aufklärung“. Dunkel war für die Aufklärer die von Adel und Kirche dominierte Vorzeit, das finstere Mittelalter. Licht ist Sinnbild der Wahrheit. Hegel spricht von der Nacht des Vergessens. Das Unsichtbare - oder unsichtbar Gewordene, das Vergessene - sichtbar zu machen ist ein Anspruch moderner Kunst.
Solche Assoziationen stellen sich ein, wenn Mischa Kuball Licht als Zeichen einsetzt. Der Düsseldorfer Lichtkünstler, für den Licht ein Mittel ist, „Distanzen zu überwinden“, ein Kommunikationsmittel also, erregte große Aufmerksamkeit, als er 1994 die kleine Synagoge von Stommeln mit derart gleißendem Licht erfüllte, dass der Eindruck des Brennens, aber auch der hoffnungsvollen Anwesenheit Jahwes entstand, der sich durch Licht zu erkennen gibt (refraction house). Kuball hat 1998 auf der 24. Biennale von Sao Paulo als Vertreter Deutschlands in verschiedensten Haushalten der Stadt die Lampen aller Beteiligten, Armer und Reicher, gegen die gleiche Lichtquelle ausgetauscht und die „privaten“ Lampen in einer Ausstellung veröffentlicht. (Private light/Public light).
Kuball sucht aufklärerisch Sachverhalte zu erhellen, die Gefahr laufen, in die „Nacht des Vergessens“ zu sinken. So arbeitet er an symbolischen Orten: in einer Synagoge, in Weimar/Buchenwald und nun im alten Judenviertel Montevideos. Die soziale Bedeutung des Ortes wird Teil der Kunstbedeutung. Das Kunstwerk hat durch seine Unwiederholbarkeit die Aura des „Hier und Jetzt“, denn es handelt sich um nur vorübergehende Eingriffe in den öffentlichen Raum. Die Kunst verschwindet wieder und lebt mit der Erinnerung weiter, die sie beschworen hat.
Kommunikation/Kooperation, Ortsbezogenheit/Rückgewinnung des öffentlichen Raums und das Verschwinden sind allesamt Dimensionen eines sozialkritischen Kunstbegriffs in der Tradition von Beuys' „Sozialer Plastik“, der eine Autonomie des Kunstwerks negiert. Das Projekt greenlight in einem heute heruntergekommenen Viertel von Montevideo erinnert zunächst daran, dass die jüdischen Einwanderer wegen ihrer „grünen“ Unerfahrenheit von den schon Ortsansässigen auf jiddisch „grihne Leit“ genannt wurden. Kuball hat in der „Straße der Demokratie“ im heute nahezu verlassenen Barrio Goes an den Häusern grüne Baulampen installiert. In der christlichen Tradition ist es üblich, zum Gedenken Kerzen zu entzünden. Grün ist die Farbe der Hoffnung, signalisiert aber auch das Fortschreiten und die Bewegung. Nur andeutend ist an das Leben erinnert, das es hier nicht mehr gibt: Das Viertel war in Uruguay bekannt für seine multikulturelle und politische Lebendigkeit, denn die jüdischen Immigranten debattierten und tauschten Rezepte mit ihren italienischen und spanischen Nachbarn.
Anders als heute war die Straße der öffentliche Raum par excellence, der Raum für Streit und Verständigung, für Kommunikation. Es war „eine gesunde kulturelle Mischung“, schreibt Saul Gilvich, der dort geboren wurde. Kuballs einfache grüne Baulampen, die eine Baustelle vorstellen und damit die Hoffnung auf den Wiederaufbau der Erinnerung, verweisen auf ein großes Thema auch unserer Zeit: wie können die Fremden sich integrieren, ohne ihr Selbst aufzugeben? In Uruguay scheint das zeitweilig gelungen zu sein.
Greenlight ist „lesbar“ - wie sozial engagierte Kunst meist. Die Arbeit hat poetische Qualitäten. Kuball vertraut auf die Kraft der geschauten Metapher. Das Projekt ist in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut realisiert worden und steht unter der Schirmherrschaft des Kultusministeriums von Uruguay und der Stadt Montevideo. Die Resonanz bei der Bevölkerung ist groß.

Heimo Zobernig im Portikus, Frankfurt am Main

Zettels Traumkartei
Heimo Zobernig zeigt im Portikus ausgediente Katalogkästen, die frei sind für die Kunst

Duchamps Urinoir war nicht mehr benutzbar. In einer Galerie aufgestellt, fehlte dem Becken schlicht der Abfluss - es war Kunst geworden. Anders erging es der jüngsten Skulptur des Künstlers Heimo Zobernig. Dieser reist derzeit mit den ausrangierten Katalogkästen der österreichischen Nationalbibliothek durch Galerien und Museen. Als er die Kisten im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Münster ausstellte, benutzten die studentischen Besucher den Apparat sogleich: Sie bestellten an Hand der Karteikarten Titel, die in Münster nicht zu haben waren, per Fernleihe in Wien - obwohl es sich doch eindeutig um eine Kunstausstellung handelte. So kann's gehn. Der praktische Sinn ist so respektlos wie die Kunst selber.
Der österreichische Künstler Heimo Zobernig, Teilnehmer der documenta 10 und Gastprofessor an der Städelschule, hat die Katalogkästen nun in vier Reihen im Frankfurter "Portikus" aufbauen lassen. Seit der Digitalisierung des Wiener Archivs im Jahr 1998 sind die Karteikarten funktionslos geworden und somit frei für die Kunst. Mit der Ausstellung in Frankfurt ist der Anspruch, dem "genius loci" Tribut zu zollen, geradezu übererfüllt. Zwischen Kunstobjekt und -ort gibt es vielfältige Bezüge: die Reste der Österreichischen Nationalbibliothek werden in dem Rest der Frankfurter Stadtbibliothek, den der Krieg übrig ließ, dargestellt.
Die wuchtigen Karteikästen im Portikus sind der sinnlich handgreifliche Kern einer Skulptur, die umfangreicher ist als das, was man sieht. Sie besteht aus allen Beziehungen, welche die Kartei als umfassendes Ordnungssystem menschlichen Wissens stiftet und erschließt, in gedanklicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Eine Skulptur von globalem Umfang.
Angesichts dieser ausgedienten Ordnungsmaschine tritt auch der mit dem technischen Fortschritt verbundene Verlust ins Bewusstsein. Verloren ist die Aura der Bibliotheken, verloren ist die Sinnlichkeit, die mit dem Durchblättern der müffelnden Karteikarten verbunden war. Eine Suche, bei der man unverhofft Trouvaillen machte, wissend, dass Generationen zuvor dieselben Karten gewendet haben. Auch Sigmund Freud? Oder die Denker der "Wiener Schule"? Wer weiß. Der Buchbestand ist nun nur noch per Computer zugänglich, tendenziell vom privaten PC.
Verloren geht mit dem privaten Zugriff die Öffentlichkeit des Suchens, die Gemeinsamkeit an einem bestimmten Ort: der Bibliothek. Klappern, Rascheln, Hüsteln, Schniefen: Menschen. Entsinnlichung, Privatisierung, Ortlosigkeit: Sie stellen einen Trend dar, der auch in anderen Bereichen der Gesellschaft zu bemerken ist. Doch den Verlust zu beklagen wäre hier eher sentimental, ist doch die alte Rationalisierungs-Maschine vom gleichen Geist wie die Digitalisierung. Verlust der Sinnlichkeit: Die Mönche des Mittelalters wären wohl froh gewesen, sich ganz unsinnlich, das heißt: ohne klamme Hände vom Heiligen Geist unmittelbar erleuchten zu lassen.
Zobernigs Installation ist lapidar. In zehn Jahren wird sie ihren heute noch irritierenden Praxisbezug verloren haben. Ein Fossil wird sie sein, das an die vergessenen Anstrengungen erinnert, das über die Welt verstreute Wissen zu sammeln und jedermann verfügbar zu machen.
Bis 7. November 1999, Schöne Aussicht 1, Frankfurt am Main.

Niederländische Stillleben in Amsterdam

Lob des Pökelherings
Niederländische Stillleben zwischen 1550 und 1720 in einer Amsterdamer Ausstellung

AMSTERDAM. So sehr fasziniert die Besucher die gelungene Nachahmung der sichtbaren Wirklichkeit, daß sie immer wieder davon abgehalten werden müssen, die Gemälde von Samuel van Hoogstraten (1627–1678) zu betasten. Er hat die Augentäuschung, das Trompe-loeil (das „betriegertje“), zu unglaublicher Perfektion gebracht. Schon 5 nach 10 steht das Publikum in der Ausstellung Das Niederländische Stilleben 1550–1720 im Amsterdamer Rijksmuseum dicht an dicht.
Im Stillleben vollzieht sich ein Übergang von der Personendarstellung zur Darstellung von Sachen. Sie haben sich aus den Marktbildern von Pieter Aertsen (1508–1575) und Joachim Beuckelaer (1533–1574), welche die Ausstellung einleiten, wowie aus den Kaufmannsportraits verselbständigt, doch stehen sie noch längst nicht nur für sich selbst wie später bei Morandi, sondern weisen im Sinne eines dinglichen Portraits auf Stand, Beruf, Reichtum und Wohlanständigkeit der abwesenden Personen hin und/oder stehen als Symbole für Mäßigung und Vergänglichkeit alles Irdischen (Vanitas).
Der historische Hintergrund zur Emanzipation der Sachen von den Personen ist die Emanzipation der Künstler vom Auftraggeber. Die erfolgte nicht freiwillig. Mit dem "Bildersturm" der radikalen Calvinisten, der das Verbot von Heiligenbildern durchsetzte, verloren die Maler ihre Aufträge. Sie wurden freie Unternehmer, spezialisierten sich und konkurrierten mit gleichen oder ähnlichen Motiven auf einem anonymen Markt. Händler verkauften die kleinen transportablen Bilder z.B. auf der Frankfurter Messe. Die Kunst war zur Ware geworden.
Die Amsterdamer Ausstellung mit 71 Exponaten zeigt erstmalig alle Arten des Stilllebens in hervorragenden Beispielen: Das Blumenstück geht auf Jan Breughel (1568–1625) zurück, der Rubens die Blumen malte. Von botanischer Präzision: Ambrosius Bosschaert (1573–1621). Caravaggios Früchtekorb gilt als Vorläufer des Früchtestillebens, das Frans Snyders (1579–1657) und Jan Davidsz de Heem (1606–1684) zum barocken Prunkstilleben ausarbeiten, in dem sie Blumen, Früchte und Jagdbeute mit anderen Naturalien, chinesischem Porzellan, venezianischem Glas, Goldpokalen und exotischem Getier komponieren, eine Repräsentation des Reichtums und der weltweiten Handelsverbindungen der holländischen Kaufleute. Voraussetzung solcher Darstellungen ist der von Floris van Dijk (1575–1651) zum Typus entwickelte Gedeckte Tisch (das ontbijtje), auf dem alle Delikatessen ausgebreitet sind.
Im ontbijtje ist der Augenschmaus genau kalkuliert und unterstellt nur manchmal Personen, die hier soeben noch waren. Eine besondere Art des ontbijtje ist das Monochrome banketje der Haarlemer Meister Willem Claesz Heda (1593–1680) und Pieter Claesz (1597–1661), die sich durch einen tonige Malweise auszeichnen, welche die Gegenstände atmosphärisch verbindet. Zugleich ist die Darstellung der unterschiedlichen Materialien vollkommen. Beide reduzieren die Zahl der Gegenstände radiklal: eine Reduktion des "was" zugunsten des "wie".
Auch der von Vermeer und Rembrandt beeinflußte Willem Kalf (1619–1693), berühmt für die magische Präsentation von Kostbarkeiten, beschränkt sich. Eines der Bilder von Claesz zeigt wenig mehr als ein Glas schaumigen Bieres, einen Hering auf einem Zinnteller, daneben ein Stück Weißbrot.
Verglichen mit der Dynamik, Farbenpracht und katholischen Üppigkeit der flämischen Stillleben herrscht hier protestantische Strenge, Klarheit und Kargheit, doch von größter Delikatesse.
An diesem Bild argumentiert Julie Berger Hochstrasser im Katalog gegen den traditionellen Deutungsansatz, der im Stillleben generell einen implizierten moralischen Appell zur Mäßigung sieht, Bier, Brot und Hering glorifizierten vielmehr die ökonomischen Grundlagen des Volkswohlstandes zu einer Zeit, da im nahen Deutschland der dreißigjährige Krieg tobte. Der Heringsfang war eine Säule der holländischen Wirtschaft. Sicher gilt die materialistische These für Joseph de Brays Lob des Pökelherings. Viele sonst christologisch oder mit Bezug auf Sprichwörter moralisch gedeuteten Motive - etwa drei Haselnüsse als Symbol der Dreieinigkeit - sieht die Autorin mi Kontext zeitgenössischer medizinischer Ratgeber zur gesunden Lebensführung. Die geschälte Zitrone bei Kalf, van Utrecht und vielen anderen, ein Motiv, das in Emblembtüchern etwa als Zeichen für falsche Freundschaft (schönes Äußere, saures Innere) angeführt wird, sei eher ein Hinweis, den süßen Wein bekömmlich zu machen. In Verbindung mit Austern (ein Aphrodisiakum) und Pfeffer gerät die Zitrone in den Umkreis der Völlerei. Zudem ist sie ein Luxusgut wie die Tulpe.
Die Bedeutungen sind meist vielschichtig, aber es gibt auch Eindeutigkeiten: Die Fliege ist ein Sinnbild des Bösen. Gott der Fliegen heißt Mephisto im Faust. Mit Ausnahme der Raupe, die zum Schmetterling wird - ein Symbol der Erlösung der Seele aus dem Gefängnis des Leibes -, sind Insekten negativ besetzt. In den Blumenbildern wimmelt es von gefräßigem Geziefer und Gewürm, das die Schönheit und Frische der Blumen und Früchte als eitlen Sinnengenuß denunziert und mahnt, an das Ende zu denken. Blumen waren damals unvorstellbar teuer, weit teurer als die Bilder und darum ein Symbol des Reichtums. Die Bedeutungsvielfalt, darunter auch sexuelle Anspielungen, mochte Gespräche und Nachdenklichkeit anregen.
Unter den Vanitas-Bildern mit ihren typischen Symbolen: Totenschädel, geöffnete Deckeluhr, erloschene Pfeife, schwelender Kerzendocht, zerfleddertes Buch, Musikinstrumente, Seifenblase u.a.m. sind in Amsterdam besonders geistreich zwei, die dem Vanitasgedanken eine positive Wendung geben: eine Glaskugel (in der Bedeutung der Seifenblase) spiegelt den Künstler Simon Luttichuys (1610–1661) bei der Arbeit. Er ist sozusagen immer im Bild, ein Fingerzeig auf die Macht der Malerei. David Bailly (1548–1657) portraitiert sich in einem Vanitasbild, die Linke auf einem Portrait seiner selbst, das ihn älter zeigt. Ein Paradox. Beide Bilder behaupten so den Maler als Überwinder der Zeit. Vita brevis, ars longa. Bei den Jagdstücken nach dem Geschmack des Adels ragt Jan Weenix (1640-1719) hervor: Keiner malte die Schwäne so ergreifend tot wie er. Eine Besonderheit ist schließlich das tabakje: Typisch sind Gouda-Tonpfeifen, Bier- oder Weinglas und Spielkarten. Rauchen galt – bis es allgemein etabliert war – als liederlich.
Mit den Johannisbeeren des wenig bekannten Adriaen Coorte (1665–1707) macht das Museum auf Plakat und Katalogcover darauf aufmerksam, daß es in der "goldenen Zeit" einer unglaublichen ökonomischen und künstlerischen Prosperität Tausende ziemlich gleichwertiger Künstler gab, deren Werke oft verschollen sind. Kein wohlhabender Bürger, der nicht mehrere Stillleben besaß. Zugleich war das Stilleben in der Hierarchie der Malerei das niederste Genre. Den höchsten Rang nahm die Historienmalerei ein (Rembrandt, Rubens), da sie klassische Bildung voraussetzte. Im Stillleben kündigt sich das bürgerliche Bewußtsein an: nachdenklich, moralisch, nicht elitär, und in Sachen, die immer auch Waren sind, wie das Stillleben selber.
Rijksmuseum, Amsterdam, bis 19. September 1999. Katalog in Holländisch und Englisch, 65 Gulden.

Joseph Kosuths in der Kunsthalle Schirn, Frankfurt am Main

„Im Falle von Goethe haben wir es noch nicht weit gebracht.“
Der Dichterfürst, wörtlich genommen: Joseph Kosuths Ausstellung „Gäste und Fremde“ in der Kunsthalle Schirn

„Keine Bilder!“ Enttäuscht kehren die drei jungen Leute wieder um. Nein, keine Bilder, keine Farben. Sogar die signalroten Hinweise auf den Feuerlöschern ließ Joseph Kosuth verschwinden. In dem grau gestrichenen, manieristisch langen Saal der Schirn gibt es nur Texte, die sich als weißer Fries um die Wand ziehen oder auf schwarzen, unregelmäßig über die Wand verteilten Feldern zu lesen sind.
Der amerikanische Konzeptkünstler hat Texte ausgewählt und zusammengestellt, die die Leser / Betrachter nun aufeinander beziehen sollen. Durch die perspektivische Verjüngung wird man in den „Textraum“ (so Kosuth im Katalog) hineingesogen. Die „Architektur ist der Meta-Text des Werks“, sie „liefert die Grenzen des ,Spiels'“ (Kosuth). Man liest die Texte wie gewohnt zunächst horizontal, indem man die Wände abschreitet.
Joseph Kosuth, im Jahre 1945 geboren, gehört zu den Pionieren der Concept-Art, die sich Ende der sechziger Jahre gegen die Produktion von Bildern wandte. Aus vielerlei Gründen gab es in der Kunst einen Trend zur Entmaterialisierung. Es sollte genügen, wenn sich die Werke in der Vorstellung bildeten.
Kosuth arbeitete von Anfang an mit Sprache. Zu einer Inkunabel der Concept-Art gehört sein Stuhl („One and Three Chairs“, 1965), der auf drei Wirklichkeits-Ebenen dargestellt wird: handfest körperlich, als Abbild und als Lexikon-Definition.
In der Schirn-Ausstellung „Gäste und Fremde: Goethes Italienische Reise“ stellt Kosuth zum Problem der Fremdheit Texte von acht Autoren zueinander. Der oberste weiße Textfries (Nicolas Boyle) ist eine historische Skizze der Goethe-Zeit: „Die Post von London nach Edinburgh brauchte über eine Woche. Moet & Chandon nahmen den Export des jüngst erfundenen Champagners auf … Eine Ananas kostete ebenso viel wie ein Reitpferd.“ Darunter auf schwarzen Feldern Ausschnitte aus Goethes Italienischer Reise, auch deshalb berühmt, weil der Dichter in einer Lebens- und Schaffenskrise erst durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden zu sich selber gefunden hatte. Er kam so verändert nach Weimar zurück, dass man ihn nicht wieder erkennen mochte. Schiller meinte: „Er betastet mir zuviel.“ Die bezaubernd sinnlichen Goethe-Texte sind von einer Rede Sigmund Freuds über die Anwendung der Psychoanalyse auf große Männer durchschossen: „Aber ich gestehe, im Falle von Goethe haben wir es noch nicht weit gebracht.“
Darunter, die Wand in eine obere und untere Hälfte teilend, in größter Schrift Goethe. Der Fries beginnt: „Die Gewalt der Sprache ist nicht daß sie das Fremde abweist, sondern daß sie es verschlingt … Der Deutsche muß alle Sprachen lernen, damit ihm zu Haus kein Fremder imponire und daß er draußen überall zuhause sey.“ In gleichwertiger Schriftgröße folgt unter einem Trennstrich ein Text von Walter Benjamin: „Der Allegoriker greift bald da bald dort aus dem wüsten Fundus, den sein Wissen ihm zur Verfügung stellt, ein Stück heraus, hält es neben ein anderes und versucht, ob sie zueinander passen.“ Das mag recht gut auch für Kosuth wie für den Besucher gelten.
Die beiden Friese, welche die Wand teilen, nennt Kosuth einen „Horizont, von dem aus die anderen Texte ins Spiel kommen“. Darunter auf schwarzen Feldern - wie oben Goethe - Texte von Wittgenstein. „Wenn Weiß zu Schwarz wird, sagen manche Menschen ,Es ist im Wesentlichen noch immer dasselbe'. Und andere, wenn die Farbe um einen Grad dunkler wird, sagen ,Es hat sich ganz verändert'.“ Dazwischen in zurücktretender Schrift Texte des Begründers der phänomenologischen Soziologie, Alfred Schütz, der sich (wie auch Goethe in der Italienischen Reise) mit der Konstitution von Wirklichkeit befasst: „Jede Welt besitzt, während man ihr zugewandt ist, eine eigene Art von Wirklichkeit; nur verringert sich ihr Wirklichkeitsgehalt mit dem Nachlassen der Aufmerksamkeit.“
In silbriger, changierender Schrift die Anthropologin Mary Douglas: „Wenn es denn Lösungen zu einem schwerwiegenden Problem gibt, kommen sie eher vom Rande der professionellen Welt, ja sogar von Amateuren …“ Das ist tröstlich. Viele Überlegungen Goethes galten den Fachwissenschaftlern, die sich ja damit befassen, Fremdes methodisch in Bekanntes zu verwandeln, als dilettantisch.
Alle Texte fungieren als Einbettung der Italienischen Reise. Einige Autoren lebten in der Fremde als Gäste, Exilanten oder Flüchtlinge. Bald wird man die Texte auch vertikal / diagonal aufeinander beziehen oder von Wand zu Wand. Derart ist die Installation variabel zu lesen. Der Leser / Betrachter hat in der Textkombination große Spielräume.
Allen, die in Kosuth einen Fels im Meer der Bilder kennen lernen wollen, ist die Ausstellung unbedingt zu empfehlen. Dass der weltberühmte Künstler (fünfmal auf der documenta, viermal auf der Biennale von Venedig) höchste Ansprüche - auch an den Zeitaufwand der Besucher - stellt, wird man ihm nicht vorwerfen wollen.
Bis 12. September, Schirn Kunsthalle am Römerberg. Der geschmäcklerisch aufgemachte Katalog mit schlechten Fotos früherer Ausstellungen hat immerhin einen lesenswerten Text von Hans Dieter Bahr: „Der Gast.“

Verirrungen des Appetits. Rückblick auf die Menschenfresserei:

Alexander von Humboldt betrat vor 200 Jahren den Boden der Neuen Welt

Den so anstelligen Indianer hätte Alexander von Humboldt in Dienst nehmen wollen. Doch wie befremdet war der preußische Weltmann, als er ihn sagen hörte, seine Verwandten äßen vom Menschen die Handflächen am liebsten. „Und bei diesem Ausspruch äußerte er durch Gebärden seine wilde Lust.“ Der Forschungsreisende hat zwar nicht wie noch sein Jugendfreund Georg Forster die Menschenfresserei mit eigenen Augen gesehen, doch war sie für ihn wie für jeden Europäer das abscheulichste Beispiel unauflösbarer Fremdartigkeit.
Christoph Kolumbus, der nie Augenzeuge geworden war, hatte der Ungeheuerlichkeit keinen Glauben geschenkt. „Aber der Admiral glaubte ihnen nicht“, lesen wir in seinem berühmten Tagebuch. Amerigo Vespucci sah gesalzenes Menschenfleisch wie Schinken an Balken hängen. Er schrieb um 1500 über die Leute aus Caniba: „Sie sind unmenschlich, schlimmer als Tiere.“ Die Konquistadoren rotteten dann nicht nur die menschenfressenden Kariben, sondern Millionen von Indios aus. „Ihre grimmigen Jagdhunde fingen die Indianer wie wilde Schweine“, schrieb 1552 der Dominikaner Las Casas, der 40 Jahre in Südamerika verbrachte.
Ungläubigkeit, Erklärung zu Nichtmenschen, Vernichtung das waren die ersten Reaktionen. Am 16. Juli vor 200 Jahren betrat der knapp 30jährige Alexander von Humboldt in Cumana im heutigen Venezuela - so genannt, weil die Pfahlbauten der Indios den Vespucci an Venedig (Venezia) erinnert hatten - den Boden des Neuen Kontinents. Dort gab es eine deutsche Tradition: Im frühen 16. Jahrhundert hatte das Augsburger Handelshaus der Welser von Kaiser Karl V. die Privilegien zur Ausbeutung Venezuelas erhalten. Sie importierten afrikanische Sklaven und versahen des Kaisers Kriegskasse mit Raubgold. Wo der große Naturforscher und Humanist - ein persönlicher Freund von Bolivar wie von Goethe - als empirischer Forscher und letzter Universalgelehrter seinen Weltruhm begründete, hatte 1531 der deutsche Konquistador Nicolaus Federmann die Indios der Guaykeri mit Rossen entsetzt, die sie zuvor nie gesehen hatten, und „wie die Säu“ erstechen lassen. Die Menschenfresserei als Extrem der Fremdartigkeit nimmt in Humboldts Reisetagebuch einen vergleichsweise kleinen Raum ein. Doch läßt sich an diesem Phänomen zeigen, wie ein Humanist, der die Einheit und Gleichwertigkeit des Menschengeschlechts postulierte und die nordamerikanische Sklavenwirtschaft brandmarkte, mit einer Abartigkeit umgeht, die seit den ersten Berichten Anlaß gab, die indianischen Eingeborenen als Unmenschen zu behandeln. Als Naturforscher in der Tradition der Aufklärung geht Humboldt bei der Beurteilung fremdartiger Mannigfaltigkeit, wie sie ihm in Fauna, Flora und „Wilden“ entgegentrat, stets von der Vorstellung eines guten Naturganzen aus, dessen jede Ausprägung, ob mehr oder weniger weit entwickelt, gut und schutzwürdig ist. Wie die eine Pflanze ihm nicht wertvoller sein kann als die andere, so ist ihm ausdrücklich keine Rasse edler als die andere. Unterschiede, die fremd anmuten, stehen nicht schroff gegeneinander, solange sie über das gute Naturganze miteinander vermittelbar sind. Nach Humboldts Auffassung, die er mit Georg Forster und anderen fortschrittlichen Zeitgenossen teilt, bleibt der Mensch, wie kulturell entwickelt er sei, auch Teil des Naturganzen, denn seine soziale Entwicklung, wenn auch nicht deren Richtung, ist in der Natur angelegt. Aus dieser fundamentalen Einbindung ergibt sich auch die Grundhaltung gegenüber dem Fremden, Neuen und Anderen: es gehört in jedem Fall zuallererst in den globalen Naturzusammenhang und ist daher a priori tolerierbar. Aber Kannibalismus? Man nannte Humboldt bald irreführend den „zweiten Kolumbus“, doch kam er nicht als Eroberer, sondern als Forscher. Wenigstens dreierlei unterscheidet seine 5jährige Expedition grundsätzlich von denen seiner Vorgänger: er erforschte bereits kolonialisiertes Land, er konnte sein Unternehmen mit eigenem Vermögen finanzieren, und er forschte zu rein wissenschaftlichen Zwecken. Als finanziell unabhängiger Forscher, zudem als Kosmopolit (und als Mitglied der transnationalen „Gelehrtenrepublik") in der Zeit der sich heranbildenden Nationalstaaten hatte Humboldt den außerordentlichen Status eines Mannes, der allein im Dienste der Menschheit sein Leben unter Moskitos, Vampiren, Piranhas, Schlangen und Krokodilen riskierte. Doch Menschenfresser mußte er nicht mehr fürchten.
Auf einem mit Papageienkäfigen behängten und mit Präzisionsgeräten gefüllten Einbaum, über den sieben Affen turnten, durchfuhr er die endlosen, nach faulenden Krokodilen stinkenden Wasser des Orinoco, Mund und Nase voller Insekten. Er kostete Ameisenpastete, Zitteraal und das Pfeilgift Curare und sah den Erdessern zu, die sich von Erdklößen ernährten. Er sah Delphine, die sich durch die überschwemmten Waldgebiete davonmachten wie bei uns die Wildschweine. Alligatoren, bis zu acht Meter lang, fraßen ihm das Pferd bei der Überquerung eines Flüßchens unter dem Sattel weg. Gegen die Hitze der Savannen hatte er sich den Hut mit Blättern gefüllt.
Humboldt war mit Empfehlungen des spanischen Königs gekommen und gewann sich als hochgebildeter Weltmann von Stande, geistreich, polyglott, in den Salons von Berlin und Paris zu Hause, leicht den Statthalter der Kolonie. Nun standen ihm alle Türen offen. Der Naturforscher und Grandseigneur war als ausgebildeter Grubenexperte auch ein sehr praktischer Mann. Der französische Botaniker Aime Bonpland begleitete ihn durch den Urwald, der so dicht war, daß in ihm sich nur Klettertiere bewegen und die Forscher kaum feststellen konnten, welche Blüte zu welcher Pflanze gehörte.
Den Wissenschaftler treibt die professionelle Neugier, das Fremde durch geeignete Methoden in Bekanntes zu verwandeln. Eine Voraussetzung im Alltag wie in den Wissenschaften ist das Vergleichen. Humboldt hat es systematisch betrieben: Vergleichende Geologie, vergleichende Pflanzengeographie, vergleichende Anthropologie usw. Bezogen auf den Menschen, handelt es sich dabei stets um den Versuch, Unterschiede auf der Basis grundsätzlicher Gemeinsamkeiten zu konstatieren. In der Anthropophagie begegnet dem Forschungsreisenden das Fremde in seiner unheimlichsten und abstoßendsten Gestalt. Christen waren es gewohnt, dem Gebot der Nächstenliebe zuwiderzuhandeln, wenn sie Menschen, die sie doch als ihresgleichen anerkannten, töteten, folterten und massakrierten. Doch vor dem Verzehr empfanden sie Abscheu.
"Daß ihr sie eßt, erscheint mir schrecklich, das Totschlagen aber nicht so sehr“, sagte der deutsche Landknecht Hans Staden im Jahre 1548 einem Kannibalen, dessen Gefangener er war. Der tiefe Abscheu liegt in der Bibel begründet, die den Menschen als Ebenbild Gottes über die übrigen Geschöpfe setzt. Ißt er seinesgleichen oder wird er gegessen, sinkt er unter das Tier, das seine Verwandten nur ausnahmsweise verzehrt. Eine Speise zu sein, das widerspricht der Menschenwürde. Gefressen zu werden nennt Vespucci eine Schmach. Von Gottes Ebenbild bleiben nur Exkremente.
In seinem Reistetagebuch stellt Humboldt unter dem Datum vom 12. Mai mit Bestimmtheit fest: „Wenn die Völker von Guayana Menschenfleisch essen, so werden sie nie durch Mangel oder kultischen Aberglauben dazu getrieben, wie die Menschen auf den Südseeinseln; er beruht meist auf der Rachsucht des Siegers und - wie die Missionare sagen - auf ,Verirrungen des Appetits'.“ In der ihm eigenen Knappheit hat Humboldt hier die drei traditionellen Erkärungsversuche für das verabscheute Phänomen angeführt: Mangel, Kult und Rachsucht.
Rachsucht ist die Erklärung, die Humboldt im Fall der Indios für die richtige hält. Darüber hinaus relativiert er: „Anthropophagie und Menschenopfer, die so oft damit verknüpft sind, kommen bekanntlich überall auf dem Erdball und bei Völkern der verschiedensten Rassen vor.“ In der Tat. Etwa bei den Chinesen. Wenigstens in zwei Kapiteln des Romans Die Räuber von Liang Schan Moor, eines Epos aus dem 13. Jahrhundert, finden sich Beschreibungen von Menschenfresserei, die keinerlei Abscheu erkennen lassen: „Mit einem Festmahl wurde der Tag beschlossen. Während des Mahles wurde der Schuke Liu herbeigeschafft und an den Marterpfahl gebunden. Mit eigener Hand Schnitt Hua Jung das Herz heraus und legte es auf einem Teller seinem Freund Sung als Tribut vor. So rächte er die ihm angetane Unbill."
Durch die Relativierung werden die Eingeborenen von dem Makel befreit, die Menschenfresserei sei Merkmal ihrer Rasse und sie seien von Natur aus Un-Menschen, wie die Konquistadoren und ihre Legitimatoren um 1500 behaupteten, als man den Indianern mit Hilfe der Kirche die Seele absprach: So galten sie als Tiere und konnten entsprechend behandelt werden.
"Ungern brauche ist das Wort wild“, schreibt Humboldt, weil es zwischen dem unterworfenen, in den Missionen lebenden, und dem freien oder unabhängigen Indianer einen Unterschied in der Kultur voraussetzt, dem die Erfahrung häufig widerspricht.“ Die friedlichen, ackerbauenden und ihre Hängematten webenden freien Indianer seien um nichts barbarischer als die nackten Indianer in den Missionen, die man das Kreuz habe schlagen lehren. Als Wilde bezeichnet Humboldt lediglich die umherziehenden Horden. „Die Völker, die eine Ehre darin suchen, ihre Gefangenen zu verzehren, sind keineswegs immer die versunkensten und wildesten. Diese Bemerkung hat etwas peinlich Ergreifendes, Niederschlagendes."
Weder also ist die Menschenfresserei einer bestimmten Rasse zuzuschreiben noch einem naturnahen Urzustand. „Die Barbarei, die in diesen Regionen herrscht, ist vielleicht weniger der Ausdruck ursprünglicher völliger Kulturlosigkeit, als vielmehr die Folge langer Versunkenheit. Die meisten der Horden, die wir Wilde nennen, stammen wahrscheinlich von Völkern ab, die einst auf bedeutend höherer Kulturstufe standen.“ Beunruhigend ist für Humboldt, daß es eher die zivilisierten Indianer sind, die zur Menschenfresserei neigen.
Auch Kolumbus hatte nicht glauben wollen, daß gerade diejenigen Kannibalen sein sollten, die den anderen Stämmen in der Kunst der Waffen und des Schiffsbaus überlegen waren. Menschenfresserei und das Töpfern, Bemalen von Geschirren, Weben und Tauschhandel seien, meint Humboldt, ein seltsamer Kontrast. „Denkt man über die Sitten dieser Indianer nach, so erschrickt man ordentlich über diese Verschmelzung von Gefühlen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen."
Das Zugleich von Umgänglichkeit und Bestialität macht die Menschenfresserei fast noch unheimlicher. Allen Entdeckern und Forschern seit Kolumbus waren Nacktheit, Hautfarbe, Bemalung, Vielweiberei, Inzest, Schamlosigkeit und Gemeinbesitz der Eingeborenen relativ fremd, d.h. sie konnten die Fremdartigkeit durch Vergleich mit den eigenen Sitten relativieren, was schwer genug war, aber das Gefühl der Überlegenheit festigte. Es gab eine gemeinsame Dimension, auf der Nacktheit, Lendenschurz, Umhang und europäische Bekleidung rangierbar waren. Menschenfresserei dagegen blieb absolut fremd: Es gab nichts Vergleichbares. Humboldt sucht der absoluten Fremdheit mit Erklärung (Rachsucht) und Relativierung (Ubiquität der Anthropophagie) zu Leibe zu rücken. Er beklagt an der Anthropophagie die „Übermacht der Bräuche, Vorurteile und Überlieferungen über die natürlichen Regungen des Herzens“, unter die Rousseau das Mitleid gezählt hatte. Menschenfresserei ist als ein „unmenschlicher Brauch“ für Humboldt also keineswegs natürlich und damit jenseits von Schuld. Andererseits ist Schuld dem einzelnen schwer anzurechnen, wenn er tief in überlieferten Bräuchen „versunken“ ist, die er nicht reflektieren kann.
Humboldt teilte mit seinem als Sprachforscher berühmt gewordenen Bruder Wilhelm die Ansicht, daß die Sprache „in unserem ganzen Tun und Denken formend und bestimmend wirksam ist". Nach dieser Auffassung gründet ein Volk nicht in der Rasse, sondern in der Sprache, dem Medium, in dem Natur und Gesellschaft konvergieren. Sie verleihe einem Stamm seine Eigentümlichkeit, die ihn von anderen Stämmen unterscheide. „Und dies ist eine unerschöpfliche Quelle von Bewegung und Leben in der geistigen Welt.“ Hier kommt Humboldt, der als „Holist“ im Unterschied zu den szienistischen Faktenzählern die Einheit des Weltganzen betont, der Position der postmodernen Pluralisten nahe, die dem Begriff der Einheit, der ja ein Leitbegriff der Moderne wurde (Einheit des Volkes, Einheit der Arbeiterklasse, Standardisierungen in Technik und Gesellschaft), den Begriff der „Differenz“ entgegenstellen.
Der New Yorker Soziologe Richard Sennett schreibt: „Wir haben Mühe, die Erfahrung des Unterschieds als positiven Wert zu begreifen.“ Genau dies tut aber Humboldt, wenn er in der Verschiedenheit die Quelle der geistigen Bewegung sieht und den fruchtbaren Wettstreit der griechischen Stadtstaaten erwähnt. Fremdheit wird damit auch eine positive initiative Funktion zuerkannt. Der Tübinger Soziologe Friedrich H. Tenbruck hat der traditionsreichen völkischen These, nach der ein Volk sich allein aus sich selbst entwickle, entgegengehalten, Kultur entwickle sich gerade durch das Zusammentreffen einander fremder Völker, und zwar auf jeder Seite. Fremdheit auch positiv zu werten ist die Voraussetzung der Kulturenvielfalt in unseren Metropolen und ist dem unter dem Einheitspostulat stehenden alten Verständnis vom „Schmelztiegel“ entgegengesetzt.
Humboldt hat die Abschließung der Stämme in den kirchlichen Missionen heftig kritisiert: „Die Abkapselung hatte zur Folge, daß die Indianer so ziemlich blieben, was sie waren. Sie haben mehr und mehr von der Charakterstärke und der natürlichen Lebendigkeit eingebüßt, die auf allen Stufen menschlicher Entwicklung die edlen Früchte der Unabhängigkeit sind.“ Man hat sie „gehorsam gemacht, zugleich aber auch dumm". Nur in Kontakt, Austausch und Auseinandersetzung mit den anderen Stämmen sowie mit der Zivilisation der Weißen hätten die Indianer nach Humboldts Auffassung die Möglichkeit, sich zu entwickeln, ohne ihre Identität verlieren zu müssen. Voraussetzung wäre nicht Disziplinierung, sondern die Unabhängigkeit der Indianer, die Freiheit.
Andererseits verkennt Humboldt nicht die negativen Seiten der Differenz, d.h. die unüberwindliche Fremdheit unter den Stämmen, wenn eine Vorstellung von Menschlichkeit fehlt. „Den Eingeborenen wegen des abscheulichen Brauchs, von dem hier die Rede ist, Vorwürfe zu machen, hilft rein zu nichts; es ist gerade, als ob ein Brahmine vom Ganges, der in Europa reiste, uns darüber anließe, daß wir das Fleisch der Tiere essen. In den Augen des Indianers vom Rio Guaisia war der Cheruvichahena ein von ihm selbst völlig verschiedenes Wesen; ihn umzubringen war ihm kein größeres Unrecht, als die Jaguare im Walde umzubringen.
An anderer Stelle heißt es: „Die Wilden verabscheuen alles, was nicht zu ihrer Familie oder ihrem Stamme gehört, und Indianer einer benachbarten Völkerschaft, mit denen sie im Kriege leben, jagen sie wie wir das Wild. Die Pflichten gegenüber der Familie und Verwandtschaft sind ihnen wohl bekannt, keineswegs aber die Pflichten gegenüber der Menschheit. Erst die Zivilisation hat dem Menschen die Einheit des Menschengeschlechts zum Bewußtsein gebracht und ihm gleichsam offenbart, daß ihn auch mit Wesen, deren Sprache und Sitten ihm fremd sind, ein Band der Blutsverwandtschaft verbindet."
Gegen diese negative Seite der Differenz - eine Differenz, die er gutheißt, soweit sie die Eigentümlichkeiten eines Stammes ausmacht - führt Humboldt hier die Einheit an. Die wie auch immer vage Einheitsvorstellung von einer Menschheit, wie sie im anspruchsvollen Gebot der Nächstenliebe normativ formuliert ist, bleibt die Grundvoraussetzung jeden Pluralismus. Die „Alternative“ wäre das Chaos.
Georg Forster hat die Rachsucht der Indios mit dem Fehlen von Institutionen begründet, wie sie die bürgerliche Gesellschaft im Recht und der Übertragung aller Gewalt an den Staat besitzt. Bei Forster - wie auch in Humboldts Tagebuch - fehlt jedoch eine Erklärung für das Auffressen selbst, ungeachtet des vorausgegangenen Tötungsaktes, Humboldt hat von „kultischem Aberglauben“ gespochen; doch läßt er diese Erklärung für die Indios vom Orinoco nicht gelten, obwohl sie in ihrer Versunkenheit möglicherweise Rituale einer einst höheren Kulturstufe vollzogen, deren Sinn sie nicht mehr verstanden.
Im Jahre 1557 hat der schon erwähnte Hans Staden aus dem hessischen Homberg, der unter die Kannibalen gefallen war und freigekauft wurde, den abscheulichen Schmaus noch drastischer und detailreicher beschrieben als vor ihm Vespucci. „Das Hirn, die Zunge und was sonst noch genießbar ist, bekommen die Kinder“, heißt es dort etwa, und er spricht von „gebratenen Christen". Klar geht aus seinem unbefangenen Bericht jedenfalls hervor, daß es sich bei dem Verzehr der Feinde um einen Ritus handelte, um eine festliche Zeremonie. Neben Erklärungen und Relativierung ist die Projektion ein dritter Modus, um den Schock abstoßender Fremdartigkeit zu mildern. Nicht ohne Spott erwähnt Humboldt die Versuche, die wilden waffentragenden Frauen, die man am Ufer eines Flusses sah, nach den antiken Amazonen zu nennen. Die „Amazonen“ wurden mit den Kannibalen stets in einem Atemzug genannt. Im Bericht von Carvajals, dem späteren Bischof von Lima, erfährt man, es habe sich um Frauen gehandelt, die der Männerherrschaft überdrüssig gewesen seien. „Heulend wie wilde Tiere, den blanken Degen umklammernd, stürmten die Spanier vorwärts“, als sie der wehrhaften Frauen ansichtig wurden. Die Projektion fängt das Neue ganz mit dem schon Bekannten, so daß Unterschiedenheit (Differenz) gar nicht bemerkt wird. Tzvetan Todorov schrieb 1985 über diese protektive Ignoranz: „Die konkrete Erfahrung hat die Funktion, eine Wahrheit zu belegen, die man bereits besitzt."
Es liegt auf der Hand, daß die vergleichenden Methoden eines empirisch arbeitenden Forschers den noch im spekulativen Idealismus befangenen deutschen Wissenschaftlern suspekt waren. Friedrich Schiller, Anhänger Kants, vermißte an Humboldt die „Einbildungskraft". Humboldt zieht die anthropophagen Szenen in der griechischen Mythologie - Kronos, Tantalos, Polyphem - oder gewisse Stellen im 3. Buch Mose tatsächlich nicht zur Erhellung der indianischen Menschenfresserei heran.
Um eine eher moralische Strategie zum Abbau der Fremdheit handelt es sich schließlich bei der kritischen Wendung gegen die eigene Kultur. So argumentiert Montaigne im 16. Jahrhundert, es sei wohl barbarischer, einen lebendigen „Körper, der noch die völlige Empfindung hat“, zu foltern, „als ihn tot zu fressen“, und dazu noch „unter dem Vorwand der Gottesfurcht und der Religion". Und Georg Forster: „Ist es aber nicht ein Vorurteil, daß wir vom Fleisch eines Erschlagenen Abscheu haben, da wir uns doch kein Gewissen daraus machen, ihm das Leben zu nehmen?“ Im Grunde handelt es sich auch bei dieser Problemverschiebung um eine Relativierung, insofern der abergläubische Ritus der Eingeborenen mit dem „Vorurteil“ der Europäer verglichen wird. Kulturkritik dieser Art findet sich bei Humboldt jedoch an keiner Stelle.
Während die früheren Erklärungen im Akt des Verzehrs nur eine Steigerung des rachsüchtigen Tötens sahen, sieht man darin jetzt eher den Versuch, sich alle Kräfte des Feindes einzuverleiben. Denn nach den alten Berichten werden meist die Gefangenen verzehrt. Die Anthropophagie begreifen wir heute zum einen als spurlose Vernichtung des Feindes und zum anderen als Aneignung aller seiner Potenzen. So wird der Tote zum Lebensspender. Es war Sigmund Freud, der in Totem und Tabu (1912-13) die Ähnlichkeit der Menschenfresserei mit dem Ritus des Abendmahls feststellte, bei dem die Gläubigen das Blut und das Fleisch des Mensch gewordenen Gottessohnes gemeinschaftlich verzehren und sich in der Kommunion zur Gemeinde zusammenschließen, ähnlich wie die Wilden zum Clan. Solche Parallelen hätten, solange die Kirche dominierte, das Selbstverständnis und das Geschichtsbild der Christen zerrüttet, die ja gegen die Unmenschlichkeit gerade ihren Glauben ins Feld geführt hatten. Solche Parallelen lagen daher außerhalb des Denkbaren. Ungläubigkeit, Absprechen der Menschlichkeit, Vernichtung, Relativierung, Erklärung, Projektion und Selbstkritik sind die Hauptstrategien gegen die Unfaßbarkeit des absolut Fremden. Sie mischen und verhärten sich zu Vorurteilen, einem Schutzschild gegen das Verletzende des Fremdartigen. Als Wissenschaftler bevorzugt Humboldt die Erklärung. Da er die Wilden nicht als Naturmenschen betrachtet, sondern eher als „Versunkene“, kann er die Menschenfresserei nicht im Rahmen seiner Naturauffassung tolerieren. Als „Versunkene“ andererseits sind die Wilden für ihr Handeln nicht so verantwortlich, daß man sie einzeln moralisch verurteilen könnte.
Trotz der Erklärungs- und Relativierungsversuche: Die Menschenfresserei blieb für Humboldt absolut fremd. Weder seine Naturauffassung noch sein Humanismus reichen hin, das abstoßende soziale Phänomen zu verarbeiten. Die erschreckende Nähe zur christlichen Kultur blieb ihm unbekannt und der Schock, das absolut Fremde im Eigenen erkennen zu müssen, erspart. Vor Freud galt Fremdheit als etwas jenseits von Grenzen. Heute haben wir gelernt, das Fremde überall zu erkennen, auch in uns selbst.

Jean-Simeon Chardin in Karlsruhe

Dinge im lichtdurchfluteten Dunst
Werk und Wirkung von Jean-Simeon Chardin – eine Ausstellung in Karlsruhe

KARLSRUHE. Während Francois Boucher Madame Pompadour mit dekorativen Gemälden entzückte, auf denen Girlanden rosiger Amoretten Göttergestalten umschweben – was alles er ohne Modell entwarf –, mühte sich Chardin, tote Hasen, Karaffen und Pfirsiche nach der Natur zu malen. Er arbeitete unendlich langsam an immer nur einem Bild. Seine Produktion war klein. Niemand hat ihn je malen sehen.
Nicht zufällig findet zum 300sten Geburtstag von Jean-Simeon Chardin (1699–1779) die erste umfassende deutsche Ausstellung in Karlsruhe statt. Denn die kunstsinnige Markgräfin Karoline Luise von Baden gehörte zu seinen ersten Bewunderern und Sammlern.
Um Chardins Herkunft und Wirkung nachvollziehbar zu machen, zeigt die Karlsruher Ausstellung 34 Gemälde des Meisters zwischen vergleichbaren Bildern niederländischer, flämischer und französischer Maler, ein kluges und beispielhaftes Ausstellungskonzept ohne aufdringlichen "Event"-Charakter. Unter den zahlreichen kostbaren Leihgaben aus ganz Europa und den USA befinden sich außer 30 Chardins in Öl, darunter weltbekannte Bilder wie Das Tischgebet und Der Silberbecher (beide Louvre, Paris), Genrebilder von Pieter de Hooch, Jan Steen, Teniers und Stilleben von Kalf, Snyders, Desportes, Oudry, Delaporte u. a. Außerdem ein breites Spektrum von Druckgraphiken.
Obwohl nahezu Autodidakt und nie über Paris hinausgekommen, wurde der Sohn eines Billardtischlers mit seinen Stilleben und Genrebildern schnell berühmt. Es gelang ihm, beide Gattungen weit über ihren traditionellen Rang hinauszuheben. Die Kunstkritik lobte die Wahrhaftigkeit und Natürlichkeit seiner Bilder, allen voran und tonangebend Diderot.
Stilleben und Genre standen in der Hierarchie der Malerei freilich zuunterst, denn nach damaliger Kunstauffassung malte der Genremaler bloß für das Auge, der Historienmaler hingegen, der sich in Geschichte, Mythologie, Anatomie und den Leidenschaften auskennen mußte, auch für den Geist. Chardin besaß keine klassische Bildung. Doch bewunderte alle Welt die Getreulichkeit, mit der er typische Familienszenen aus dem kleinbürgerlichen Alltag darstellte, den er kannte und liebte. Dabei waren seine Motive keineswegs neu. Frauen und Kinder in ihrer häuslichen Umgebung hatten vor ihm schon andere gemalt. Doch atmen die Genre-Szenen (stets ohne Blickkontakt zum Betrachter) die gleiche Ruhe wie die Stilleben, mit denen Chardin seine Karriere begann: nicht Personen, die handeln, sondern innehalten.
Ein konzentrierter, langer Augenblick in einer bekannten Situation. Die Pariser Bürger bewunderten in den Kunstsalons die authentische Darstellung ihres genügsamen Lebens, die Frauen nicht frivol wie bei Boucher, nicht rührselig wie bei Greuze und die Kinder ohne Koketterie. Verglichen mit den Modemalern waren Chardins Preise unglaublich niedrig. Stiche nach seinen Gemälden hingen bald in den Häusern ganz Frankreichs. Aber auch Hof und Adel liebten die "Naivität" seiner Motive, ein Wort, das damals die natürliche Anmut gegenüber der Geziertheit des Rokoko meinte. Man war das öffentliche Posieren leid und sehnte sich nach Intimität und der von Rousseau eingeforderten Natürlichkeit. Die Einfachheit und Anmut der in ihrer Hausarbeit versunkenen Frauen und der stillvergnügt spielenden Kinder entsprach dem französischen Geschmack im Grunde mehr als die Derbheiten und Pikanterien der niederländischen und flämischen Genremaler des 17. Jahrhunderts.
Chardins lockerer, pastoser Pinselzug unterscheidet sich von der spitzpinseligen Feinmalerei flämischer und niederländischer Stilleben. Während diese oft eine Fülle ausgesuchter Kostbarkeiten in kunstvollen Überschneidungen zur Schau stellen, malt Chardin den eigenen schlichten Hausrat (der berühmte silberne Glockenbecher) und reduzierte die Motive auf wenige Gegenstände, die er oft einfach nebeneinander anordnet. "Nichts war seinem Pinsel zu gering", schrieb Diderot: Nicht nur verleiht er noch dem alltäglichsten Ding Schönheit und Würde, sondern er lenkt durch das Malen nichtssagender Gegenstände die Aufmerksamkeit von der peniblen Imitation der realen Welt auf die Malerei selber. Die Gegenstände werden in den späten, kleinformatigen Stilleben zum bloßen Vorwand für das Zusammenspiel der Farben.
Chardin löst die Malerei sacht von ihrer Abbildfunktion und schafft ihr eine eigene Wirklichkeit. Diderot hat Chardin „den großen Zauberer“ genannt, als er herausfand, daß sich seine Farben anders als in der Trompe-l'oeil-Malerei erst aus der Entfernung zusammenschließen und den Gegenstand erkennen lassen (wie schon bei Tizian, doch nicht im Stilleben). Erst wenn man zurücktritt, bilden die Farben den "wahren Ton", ein Vorgriff auf den Impressionismus.
Doch der wahre Ton entsteht bei Chardin durch die Reflexe, welche die Farben eines Dings auf die benachbarten Gegenstände werfen. Das geht über die Spiegelungen bei Heda, Claesz, Kalf, Teniers hinaus. Über allem liegt ein lichtdurchfluteter farbiger Dunst. Chardins Eigenart liegt weder in der Komposition noch im Motiv, sondern allein in der bezaubernden „peinture“. Darin fand er, wie die Ausstellung zeigt, keine direkten Nachfolger. Anne Vallayer-Coster übernimmt zwar Chardins Stilleben-Motive, doch brilliert sie in illusionistischer Abbildung. Auch der wunderbare Roland Delaporte hatte nicht "Licht und Luft auf der Pinselspitze", wie Diderot von Chardin schwärmte.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts ist Chardin nicht nur der anerkannt größte Kolorist, sondern auch der erste bewußt bürgerliche Maler, der jedoch weder wie sein englischer Zeitgenosse James Hogarth die Laster aufs Korn nimmt, noch wie sein Kollege Jean-Baptiste Greuze die Tugend preist, sondern nur malt - was er sieht: ohne moralisierenden Pathos, ohne Vanitas-Symbolik, ohne Effekte, ohne Manier. Chardin erscheint in seinem Verzicht auf interessante Sujets, auf Handlung, auf Dekor, auf Symbolik und durch die tendenzielle Erlösung der Malerei von der detaillierten Abbildung der Wirklichkeit als ein Vorfahre der modernen Kunst. Etwa 130 Jahre vor Cezanne.

Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, bis 22. 8. 1999, Katalog 68,- DM.

William Hogarth, im Städel, Frankfurt am Main

Ostereiersuchen mit William Hogarth
Die große Ausstellung des englischen Malers und Moralisten im Städelschen Kunstinstitut

Die Anspielungen in William Hogarths Gemäldezyklus „Marriage A-la-Mode“ (Heirat nach der Mode) waren schon Goethe nicht umstandslos verständlich. Er griff zu C. G. Lichtenbergs „Ausführliche(r) Erklärung“. Der bei uns durch seine Stiche bekannte englische Maler (1697-1764) schärfte die allgemeine Klage über das Böse, wie man sie seit dem Mittelalter von allegorischen Darstellungen des Lasters her kennt, zu einem sozialkritischen Blick, der aktuelle Mißstände in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ins Auge faßte. Das war neu.
Hogarth, der „Frühaufklärer“, schuf mit den „modern moral subjects“ eine eigene Kunstform. Nicht Charaktereigenschaften wie Geiz, Habsucht oder Unkeuschheit kritisiert er, sondern die Verhältnisse in der Großstadt: die von Saufen, Huren, Stehlen, Betrug, Grausamkeit und Armut gekennzeichneten Milieus im London des Rokoko, im Falle der „Marriage“ unter besonderer Berücksichtigung des verkommenen Adels und seines Anhangs.
Methodisch neu ist der Witz, der das Symbol ablöst. Wie alle ausdrücklich moralisierenden Künstler legt Hogarth großen Wert auf Lesbarkeit. Er verstand sich als malender Literat und literarischer Maler. Neben den von der Londoner National Gallery entliehenen Ölbildern der „Marriage“ sind die (seitenverkehrten) Kupferstiche des Themas jetzt im Städel zu sehen sowie aus eigenen Beständen die anderen berühmten Zyklen: „Der Weg einer Dirne“, „Der Weg eines Liederlichen“, „Die vier Stufen der Grausamkeit“.
Es handelt sich um Bilderzählungen in mehreren dramatischen, durchaus theatermäßigen Szenen, ausgelöst jeweils von der ersten - in der „Marriage“ von der Verkupplung eines Grafensprosses mit einer Krämerstochter durch ihre geschäftstüchtigen Väter. Die geringste Folge der Mesalliance des mißmutigen und gelangweilten Paares ist das riesige Muttermal, welches das edle Blut (oder die französische Krankheit) auf der Wange des Nachkommen hinterläßt. Aus dem Heiratsgeschäft folgt Liederlichkeit, Mord und Selbstmord. Im Unterschied zum Einzelbild, das die Folgen der dargestellten Situation nur andeutend der Vorstellung des Betrachters überläßt, legt die Bildgeschichte die Handlungsfolgen fest, die - wie in der Literatur - oft überraschend sind: Selbstmord als Folge einer Geschäftsheirat, das Irrenhaus als Konsequenz einer Erbschaft oder die Sezierung des gehenkten Mordbuben, der seine Karriere als Tierquäler begann, sind recht unerwartete Finalitäten.
Anders als die symbolisch feste Bildersprache mittelalterlicher Malerei, die sich an ein großenteils leseunkundiges Publikum wandte, muß der Leser Hogarthscher Bilderzyklen auch die im Detail des Interieurs versteckten Anspielungen auf Zeitgenössisches selber finden und entschlüsseln, ein Ostereiersuchen mit Rätselspaß und heute auch für den Geübten ohne Anleitung kaum möglich (Katalog!).
Doch Hilfe gibt Hogarth durch allerhand verstreutes Schriftwerk ähnlich den Spruchbändern auf alten Bildern. Zur Komplikatesse der Anspielungen: Wer ahnt, daß zu Füßen von Liebhaber „Silberzunge“ auf dem Sofa ein kaum sichtbares Buch mit dem Titel „Sopha“ auf einen Roman von Crebillon d. J. hinweist, in dem ein Sofa seine schlüpfrigen Erlebnisse erzählt? Die Adelskrone seiner Lordschaft dagegen mag der aufmerksame Betrachter achtmal (auf dem Stich), nicht nur am Krückstock, sondern sogar auf der Flanke des Hundes bemerken.
Ähnlich wie der mit ihm eng befreundete Romancier Henry Fielding zeichnet der Künstler mal derb, mal elegant, stets genau beobachtend, ein ätzendes Sittenbild seiner Zeit. Er typisiert und überzeichnet fast bis zur Karikatur. Doch die lehnt er ab: das Geschütz, welches seine großen französischen Nachfolger Daumier und Grandville dann tagespolitisch in Stellung bringen.
Der streitbare und kunsttheoretisch reflektierte Realist verspottete die mythologische Hofmalerei und den schlechten Geschmack des Adels. Das Publikum liebte seine Anzüglichkeiten. Hogarth war sehr erfolgreich. Zudem setzte er im „Engraver's Act“ das Copyright für die Stecher durch. Der scharfstichelnde Engländer gilt in der langen Tradition der Bildgeschichte, die von den gotischen Heiligen- und Märtyrerlegenden über die volkstümlichen Moritaten bis zu heutigen Comics reicht, als großer Erneuerer.
Konfrontiert werden mit dem englischen Sozialkritiker zwischen Swift und Dickens Arbeiten bedeutender deutscher Künstler aus dem 18. und 19. Jahrhundert, darunter Kaulbach, Klinger, Menzel und Chodowieki. Letzterer nimmt auf Hogarth ausdrücklich Bezug, doch hat er nicht wie dieser stets „the tongue in the cheek“, wie Kurator Michel Maek-Gerard bemerkte. Es ist bei Hogarth die britische Komik, die den moralischen Anspruch niemals sauer werden läßt.

Städelsches Kunstinstitut, bis 20. Juni 1999, 10 bis 17 Uhr, Mittwoch und Samstag 10 bis 20 Uhr, Katalog 38 Mark.

Aus der „Italienischen Reise“

Oder: Was Goethe in Neapel wachen Sinns beobachtete

Goethe sei für Frankfurt ein Standortfaktor, war kürzlich zu lesen. Besteht seine Aktualität nur darin? Von aktuellem Interesse für heute ist gewiß, daß Goethe sich noch zur Zeit des sich heranbildenden Nationalismus als Weltbürger verstand. Interessant in diesem Zusammenhang auch, wie er mit Fremdheit umging. Dafür gibt es in der berühmten Italienischen Reise, die vorrangig als Selbstfindung des Dichters in einer Lebens- und Schaffenskrise diskutiert wird, manchen Anhaltspunkt.
Als Reisetagebuch, aus Briefen an die Freundin Charlotte von Stein entstanden und fast 30 Jahre nach seiner Niederschrift redigiert, angereichert und veröffentlicht, hat sie heute noch die Frische des ersten Eindrucks bewahrt, meist knapp und wie privat formuliert - oft in jener anmutigen Leichtigkeit, die einer Berührung der Dinge im Vorübergehen angemessen ist. Darum enttäuschte der Text die deutsche Kolonie in Rom, denn man hatte von dem „Olympier“ Bleibendes, Endgültiges, Erhabenes erwartet.
Was den Aspekt der Fremdheit anlangt, so beeindruckt heute Goethes Bemühen, sich einen eigenen Blick auf das Neue zu schaffen, das ihm in der Landschaft, Kultur und Gesellschaft Italiens entgegentritt. „Meine Übung, alle Dinge, wie sie sind, zu sehen, meine völlige Entäußerung von aller Prätention, kommen mir einmal wieder recht zustatten und machen mich im stillen höchst glücklich. Alle Tage ein neuer merkwürdiger Gegenstand, täglich frische, große, seltsame Bilder und ein Ganzes, das man sich lange denkt und träumt, nie mit der Einbildungskraft erreicht.“

Eine kleine soziologische Studie
Obwohl auf Gegenstände der Kunst bezogen, darf man die Feststellung, daß die durch die eigene vorbehaltlose Beobachtung gewonnene Wahrheit alle Einbildungskraft übertreffe, vielleicht zu einer Haltung gegenüber den neuen Eindrücken verallgemeinern: als Versuch, sich der vorgefaßten Vorstellungen, Vorurteile und Einbildungen zu entschlagen, welche Goethe durch Erziehung und Bildung in größtem Umfang besaß, und mit eigenen Augen betrachtend und beobachtend vor Ort eine frische „anschauliche Kenntnis“ zu gewinnen, damit „nichts Name, nichts Wort bleibe“.
Unter diesem großen Aspekt ist auch die kleine soziologische Studie interpretierbar, die Goethe in Neapel unternommen hat. Ihr Gegenstand hat den Vorzug, für heute ein umstandslos aktuelles Thema zu sein. Es handelt sich in der Italienischen Reise um die Eintragungen vom 28. Mai 1787. Goethe sagt dort, er möge der Meinung von Volkmann - des gängigen Italienführers jener Zeit - nicht folgen. „Er spricht zum Beispiel, daß dreißig- bis vierzigtausend Müßiggänger in Neapel zu finden wären; und wer spricht's ihm nicht nach! Ich vermutete zwar sehr bald nach einiger erlangter Kenntnis des südlichen Zustandes, daß dies wohl nordische Ansicht sein möchte, wo man jeden für einen Müßiggänger hält, der sich nicht den ganzen Tag ängstlich abmüht. Ich wendete deshalb vorzügliche Aufmerksamkeit auf das Volk, es mochte sich bewegen oder in Ruhe verharren, und konnte zwar sehr viel über gekleidete Menschen bemerken, aber keinen unbeschäftigten.“
Goethe beginnt mit der genauen Beobachtung verschiedener Bevölkerungsgruppen, ganz so, wie er als Naturforscher gewohnt war, Gesteine und Pflanzen zu untersuchen. Empirische Forschung, wie sie systematisch auch der von ihm bewunderte jüngere Alexander von Humboldt betrieb, war in jener Zeit, als in Deutschland die spekulative Philosophie des Idealismus vorherrschte, noch suspekt. Über den gerade erschienenen Bericht von Archenholz urteilt Goethe scharf, sein Geschreibe in „großtuige(r) und verachtende(r) Manier“ schrumpfe am Ort selbst zusammen.

Empirische Forschungen
Archenholz, eine reiselustiger Hauptmann aus Danzig, später als Publizist und Historiker bekannt geworden, sieht die Verhältnisse Neapels mit den nüchternen Augen der Aufklärung. Er sagt über die Lazaroni, die Obdachlosen Neapels: „Man rechnet die Anzahl dieser Menschen auf vierzigtausend, die weder Stand, Beschäftigung, Eigentum, Wohnung noch Lebensunterhalt haben, sich durch die äußerste Dürftigkeit auszeichnen und dennoch in einer gewissen Vereinigung leben . . . Die überaus große Fruchtbarkeit des Landes, das heiße Klima und die Trägheit haben hier diese Menschenklasse erzeugt. Ein Lazarone begnügt sich oft ganze Wochen lang, bloß von Früchten zu leben. Seine körperliche Bedeckung ist äußerst gering, denn er ist fast nackend und seine Wohnung selten in Häusern.“ Weiter heißt es: „Man schläft auch hier mehr als in einer Stadt Italiens, das heißt, in der warmen Jahreszeit den größten Teil des Tages.“
Gegenüber solchen, gewiß sehr verbreiteten Ansichten schreibt Goethe: „Ich fing meine Beobachtungen bei früher(!) Tageszeit an, und alle die Menschen, die ich hie und da still stehen oder ruhend fand, waren Leute, deren Beruf es in dem Augenblick mit sich brachte.“ Indem er weit vor Sonnenaufgang aufgestanden ist, um seine Beobachtungen zu machen, straft Goethe alle jene Lügen, die sich über das Volk von Neapel am heißen Vormittag bei einer Limonade ein Urteil bilden. Er beschreibt detailliert die Arbeit von Lastträgern, Kutschern, Schiffern, Fischern, Kehrichtsammlern und Kindern. Und er geht so weit zu behaupten, „daß zu Neapel verhältnismäßig vielleicht noch die meiste Industrie (Fleiß) in der ganz niedern Klasse zu finden sei“. Der „sogenannte Lazzarone (sei) nicht um ein Haar untätiger als alle übrigen Klassen". Dann macht Goethe über die Neapolitaner dies schöne Bemerkung: „daß sie sogar bei der Arbeit des Lebens froh werden wollen".
Bei der Arbeit! Diese Feststellung faßt südliche Lebensart gegenüber der nordischen Ansicht, nach der ein Tagedieb ist, wer sich „nicht den ganzen Tag ängstlich abmüht", pointiert zusammen. Die kontinuierliche Arbeit des Nordländers erklärt Goethe damit, daß er „zur Vorsorge, zur Einrichtung von der Natur gezwungen wird … Die Natur zwingt ihn zu schaffen, vorzuarbeiten.“ Nach deutscher Art zu arbeiten ist danach keine Frage der höheren Moral. Goethe, der das Gesellschaftliche stets in Zusammenhang mit der Natur und den Menschen stets als deren Bestandteil dachte, sieht, daß Arbeit als produktive Anstrengung notwendig mit Erholung und Pause einhergehen muß.
So bemerkt er etwa, daß die Menschen aus „dem geringen Volk in Neapel … zwar ihr Geschäft verrichten, aber auch zugleich einen Scherz aus dem Geschäft machen“. Er übersieht keineswegs, „daß Fabriken“ - auf diese Weise - „nicht zustande kommen". Goethe hat im Gegensatz zu den anderen Reisenden aus dem Norden die Widernatürlichkeit der kontinuierlichen Arbeit erkannt, die dann im Zeitalter des Industriekapitalismus überall gefordert werden sollte und auch heute noch gefordert wird, wenn auch die Flexibilisierung der Arbeitszeit manche Veränderung gebracht hat.
Ferdinand Gregorovius, als Italienkenner berühmt gewordener Historiker, der Goethes Italienreise kannte, veröffentlichte ab 1853 Teile seiner Wanderjahre in Italien. Dort lesen wir: „Es war mir für das Wesen Neapels folgende Erscheinung immer charakteristisch: um die Mittagszeit liegen im Portikus einer glänzenden Kirche, des Doms San Francesco di Paola, im Angesicht des königlichen Schlosses, Lazzaroni schlafend ausgestreckt, in unschönen Gruppen, mit zerrissenen Wämsern, diese Säulenhalle keineswegs verzierend … In jeder anderen Residenz Europas würde die Polizei solche Schläfer von den Stufen des Doms und aus dem Angesicht des Schlosses hinweggefegt haben. Hier schlafen sie den ruhigsten Schlaf, und vor ihnen schreiten die Wachen achtlos auf und ab."
Kein Anblick für den Ästheten also. Doch macht sich der hochgebildete Autor gleichwohl die Freude, einem Lazzarone für ein paar Gran beim „Makkaroniverschlingen“ zuzusehen.
Der nordische Blick wird vier Jahrzehnte nach Goethes Reise immer deutscher, etwa in einem Brief des romantischen Malers Ludwig Richter: „Wie kann sich ein echter deutscher Mann über ein fremdes, ihm ganz unbekanntes Land so recht freuen?“ Goethe dagegen hatte geschrieben, er habe sich „ganz hingegeben"; und „je mehr ich mich selbst verleugnen muß, desto mehr freut es mich". Womit etwa gemeint ist, daß er „keinen Eigendünkel und keine Prätention“ hatte, d. h. sich seiner Vorurteile entledigte, um zu einem „unmittelbaren Anschauen“ zu gelangen - ein schmerzhafter Prozeß. „Urteilen möchte ich gar nicht, wenn es nur möglich wäre.“

Weltoffenes Denken
Verglichen mit Archenholz und Gregorovius, die italienischer Lebensart keineswegs feindlich gegenüberstanden, oder Richter sucht Goethe das fremdartige Leben aus den jeweiligen Bedingungen des Ortes zu verstehen. Die Abkehr von der Eurozentriertheit, welche die Ethnologen heute zur Beurteilung fremder Gesellschaften fordern, die lange nach den Maßstäben der abendländischen Industriezivilisation durchaus auch wertend als „unterentwickelt“ beurteilt wurden, wäre Goethe sofort verständlich gewesen. Erstaunlich ist, wie umstandslos sein weltoffenes und weltumgreifendes Denken sich auf Probleme beziehen läßt, die heute angesichts ihrer Globalität auf den Nägeln brennen, während doch so manche Stimme aus der Vergangenheit nur noch ein Wispern ist.

Vom Wandel der Zeichen

Rollisex

Von Philosophiestudenten kann man Witz erwarten. Auch an empfindlicher Stelle. Das bekannte Zeichen, das auf den Weg für Rollstuhlfahrer hinweist - bisher ordentlich auf die Rampe zum Philosophikum in der Dantestraße gesprüht - haben sie so verdoppelt, daß der zweite Rollstuhl sich spiegelbildlich an den ersten fügt. So verschmelzen die beiden aneinander gegenübersitzenden Strichfiguren an den Oberschenkeln bis zum Schoß. Und darauf kommt es an. Aus einem Zeichen, das zur Rücksicht mahnt, ist ein Zeichen geworden, das etwas anderes verlangt: Sex. Doch: Auch Behinderte wollen Sex, falls jemand von uns sich das nicht vorstellen kann.
Die Veränderung allgemeingültiger Gebote und Verbote von der Art der Verkehrszeichen ist anspruchvoller als das Graffitisprayen. Der Sprayer glaubt an Ego-Power, wenn er den unverwechselbaren Schriftzug volle Dose an die S-Bahn zischen läßt. Er will fame. Wer dagegen offizielle Zeichen modifiziert, reitet sozusagen auf dem Allgemeinen. Er vermittelt sein Persönliches mit dem, was für alle gilt: ein sozialer Akt, wenn auch verboten.
Damit erreicht er nicht nur die Aufmerksamkeit, welche die Regel verlangt, sondern dazu das Erstaunen, vielleicht den Ärger, vielleicht das Vergnügen über die Abweichung von der Regel oder deren Verletzung. Kein fame, aber vielleicht ein Foto und einen kleinen Text in der FR.

Geometrie und Chaos

Zur Ästhetik der Steckdose

Als Dr. Breitinger den Jungen die Treppe hinauffedern und dabei seine Locken schütteln sah, ahnte er schon, daß der kein Elektriker war, geeignet, drei Steckdosen zu setzen. Als der Junge auf deutsch, auf hochdeutsch, einen "Guten Morgen" wünschte, erhärtete sich des Doktors Verdacht. Und als er in den Flur tänzelte, seine Werkzeugtasche absetzte und den Rest einer mozartähnlichen Melodie hören ließ, war Breitinger endgültig überzeugt. Das konnte ja heiter werden.
"So eine Dose will ich nicht", sagte Dr. Breitinger entschieden, "die ist ja gräßlich, die hat abgerundete Ecken, wie absurd!" Überall in seiner Wohnung hatte er quadratische Dosen mit rechtwinkligen Ecken. Der "Elektriker" schüttelte bedauernd seinen Botticelli-Kopf und meinte dann lächelnd und wie tröstend, alle Steckdosen hätten doch zwei Löcher, plus und minus, und auf den Strom käme es doch an, nein?
"Keineswegs!" erwiderte Breitinger, der sich ärgerte, daß diese rein funktionale Betrachtungsweise wohl nie totzukriegen war. Wenigstens drei ästhetische Ansätze konnte er aus dem Stegreif unterscheiden: 1) Das Prinzip Renaissance: Einzelteile, die geplant aufeinander bezogen sind. Sie ergeben im Zusammenspiel ein harmonisches Ganzes. 2) Das Prinzip Barock: Unterordnung (Integration) der Einzelteile in ein dominierendes Ganzes, das totalitäre Modell. 3) Das Prinzip autonomer Einzelteile, die miteinander schöne Beziehungen eingehen, weil sie von sich aus schön sind (Pluralismus). So paßte ein Barockschränkchen selbstverständlich zu Eames-Möbeln. Gutes paßte immer zusammen. Das Zusammensein von Gegenständen aber, die nichts miteinander zu tun hatten außer dem Umstand, von Zufall oder schlechtem Geschmack zusammengewürfelt zu sein, war der abstoßende Normalfall, aber nicht in seiner Wohnung!
"Tut mir leid, diese willkürlich geformten Steckdosen werden in meiner Wohnung nicht montiert", sagte Dr. Breitinger knapp. Daraufhin telefonierte der "Elektriker" mit seinem Chef. Breitinger nahm dem Jungen den Hörer aus der Hand. Der Chef erklärte, andere Steckdosen seien im Augenblick nicht auf dem Markt. Er empfehle darum seinen Kunden immer, sich ein paar der zuerst montierten Steckdosen aufzuheben, wenn sie auf Einheitlichkeit Wert legten.
In der Tat legte Dr. Breitinger auf Einheitlichkeit Wert. Keinem untergeordneten (technischen) Detail gestand er zu, unangemessene Aufmerksamkeit zu erregen. "Was haben Sie hier für wunderschöne Steckdosen!" war wohl die lächerlichste Bemerkung, die ein Gast über seine durchkomponierte Wohnung hätte äußern können. Selbstverständlich überall gleiche Steckdosen und: unauffällig. Während Breitinger verärgert und resigniert, daß er sich dem Marktangebot fügen sollte, seine Post durchsah, hatte der Lockenkopf die erste Dose eingegipst: widerlich beige, mit eklig abgerundeten Ecken, immerhin aber ein Quadrat, wenn auch ein weiches.
"Sie sitzt schief", bemerkte Breitinger kurz. Aber der Gips hatte bereits abgebunden. Der Botticelli-Knabe lächelte. "Ist das sehr wichtig für Sie?" fragte er.
"Natürlich, selbstverständlich!" rief der Doktor. "Die vertikale Kante der Steckdose hätte mit dem Bilderrahmen eine Linie ergeben! Und nun? Und nun?"
"Warum soll sie das denn?" fragte der "Elektriker" naiv.
"Sehen Sie, junger Mann, alle Gemälde hier haben zwar verschiedene Formate, sind aber alle rechteckig. Ihre Oberkante bildet eine ideale Linie, die sich durch die ganze Wohnung zieht, durch alle Räume. Sie verläuft etwa in Kopfhöhe eines ausgewachsenen Mannes und erlaubt ihm, die Bilder mühelos zu betrachten. Können Sie mir folgen? So. Weiter bemerken Sie, daß die senkrechten Seiten der Rahmen aufeinander abgestimmt sind. Es handelt sich also um eine Ordnung. Kapieren Sie das?"
Der Elektriker sagte: "Was hat denn die Steckdose mit den Bildern zu tun?" Breitinger stutzte. Ja, was hatten sie miteinander zu tun?
"Bauen Sie sich Ihren eigenen Mondrian oder was?" setzte der Elektriker eins drauf. Ziemlich anmaßend.
"Wie bitte?" fragte Breitinger und ging nun aber entschieden zum Angriff über. Das mußte er sich von einem Elektriker nicht bieten lassen. "Wenn Sie mir so kommen, mein Lieber, dann lassen Sie sich bitte sagen, daß Horizontale und Vertikale nach den Gesetzmäßigkeiten der Gravitation sozusagen die Leitlinien sind, in welchen wir uns nolens volens einzurichten haben. Es sind mithin objektive Gegebenheiten, denen die Architektur Rechnung zu tragen hat. Die Geometrie können Sie zwar mit Vorhängen umschmeicheln oder sonstwie umspielen, wenn Sie Ihnen zu hart ist und Sie ein Theater darum machen wollen. Aber ein Zimmer ist und bleibt ein Kasten. Und wenn es darin ordentlich aussehen soll, dann hängen die Bilder gerade: vertikal und horizontal, und diese Parameter gelten auch für die Steckdosen!"
"Ach ja? Und Sie begründen die Anordnung dieser Steckdose mit der Gravitation?" fragte der Elektriker süffisant.
"Jawohl, allerdings, letztendlich, allerdings!"
"Bißchen objektivistisch, würde ich mal sagen", meinte der Handwerker und zog eine spöttische Schnute.
"Objektivistisch nennen Sie das? Glauben Sie denn, eine schiefe Steckdose ist ein Ausdruck Ihrer Subjektivität? Was? He? Es ist bloß Ihre Nichtskönnerei!"
"Geometrie am Arsch!" meinte der Bursche auf einmal ziemlich ordinär. "Ich habe zu Hause meine Steckdosen mal hier, mal da, wo es mir gerade Spaß macht."
"Ist bei Ihnen wohl wie ein echter Hundertwasser!" rief der Doktor höhnisch. "Ihre Rücksichtslosigkeit ist Resultat ihrer Unbildung und Überheblichkeit. Jawohl, sogar Ihr "Arsch" ist den Regeln der Geometrie unterworfen! Wie ist Ihr Skelett denn aufgebaut? Wie? Polyklet und Leonardo würden es Ihnen schon zeigen, Sie Ignorant!"
"Hören Sie, Mann, ich hab's eben lieber so, klaro?" sagte der Elektriker nun recht bösartig, wie Breitinger mit Genugtuung feststellte.
"Ha, weil Sie sich einbilden, Sie seien was Besonderes, einer, der über den Dingen schwebt! Wissen Sie denn nicht, daß alle Ordnungsvorstellungen geometrisch oder stereometrisch sind? Kreise, Etagen, Raster oder wenigstens Dichotomien?"
"Ich habe keine Ordnungsvorstellungen", sagte der Elektriker.
"Das denken Sie! Chaot, eingebildeter! Sogar Ihr psychischer Apparat ist geometrisch geordnet, Unterbewußtsein, Bewußtsein und Über-Ich! Drei Stockwerke, ha. Subjektivität! Was Sie auf diesen Etagen erleben, haben andere längst erlebt, was Sie denken, haben andere längst gedacht, und was Sie sagen, haben andere längst gesagt. Sie Wiederkäuer! Das Chaos ist übrigens nichts als der Anfang der Ordnung. Es gibt kein Entkommen!"
Der konkretistische Einfaltspinsel hatte seine Tasche gepackt und war gegangen. "Unser deutscher Ordnungssinn", grübelte der Doktor, "ist Angst vor dem Chaos." Er blickte die schrägen Dosen an. "Seit dem 30jährigen Krieg haben wir Angst vor dem Chaos." Dann holte er sich Strom aus der Küche, wo die Dosen noch quadratisch waren.