Aus der „Italienischen Reise“

Oder: Was Goethe in Neapel wachen Sinns beobachtete

Goethe sei für Frankfurt ein Standortfaktor, war kürzlich zu lesen. Besteht seine Aktualität nur darin? Von aktuellem Interesse für heute ist gewiß, daß Goethe sich noch zur Zeit des sich heranbildenden Nationalismus als Weltbürger verstand. Interessant in diesem Zusammenhang auch, wie er mit Fremdheit umging. Dafür gibt es in der berühmten Italienischen Reise, die vorrangig als Selbstfindung des Dichters in einer Lebens- und Schaffenskrise diskutiert wird, manchen Anhaltspunkt.
Als Reisetagebuch, aus Briefen an die Freundin Charlotte von Stein entstanden und fast 30 Jahre nach seiner Niederschrift redigiert, angereichert und veröffentlicht, hat sie heute noch die Frische des ersten Eindrucks bewahrt, meist knapp und wie privat formuliert - oft in jener anmutigen Leichtigkeit, die einer Berührung der Dinge im Vorübergehen angemessen ist. Darum enttäuschte der Text die deutsche Kolonie in Rom, denn man hatte von dem „Olympier“ Bleibendes, Endgültiges, Erhabenes erwartet.
Was den Aspekt der Fremdheit anlangt, so beeindruckt heute Goethes Bemühen, sich einen eigenen Blick auf das Neue zu schaffen, das ihm in der Landschaft, Kultur und Gesellschaft Italiens entgegentritt. „Meine Übung, alle Dinge, wie sie sind, zu sehen, meine völlige Entäußerung von aller Prätention, kommen mir einmal wieder recht zustatten und machen mich im stillen höchst glücklich. Alle Tage ein neuer merkwürdiger Gegenstand, täglich frische, große, seltsame Bilder und ein Ganzes, das man sich lange denkt und träumt, nie mit der Einbildungskraft erreicht.“

Eine kleine soziologische Studie
Obwohl auf Gegenstände der Kunst bezogen, darf man die Feststellung, daß die durch die eigene vorbehaltlose Beobachtung gewonnene Wahrheit alle Einbildungskraft übertreffe, vielleicht zu einer Haltung gegenüber den neuen Eindrücken verallgemeinern: als Versuch, sich der vorgefaßten Vorstellungen, Vorurteile und Einbildungen zu entschlagen, welche Goethe durch Erziehung und Bildung in größtem Umfang besaß, und mit eigenen Augen betrachtend und beobachtend vor Ort eine frische „anschauliche Kenntnis“ zu gewinnen, damit „nichts Name, nichts Wort bleibe“.
Unter diesem großen Aspekt ist auch die kleine soziologische Studie interpretierbar, die Goethe in Neapel unternommen hat. Ihr Gegenstand hat den Vorzug, für heute ein umstandslos aktuelles Thema zu sein. Es handelt sich in der Italienischen Reise um die Eintragungen vom 28. Mai 1787. Goethe sagt dort, er möge der Meinung von Volkmann - des gängigen Italienführers jener Zeit - nicht folgen. „Er spricht zum Beispiel, daß dreißig- bis vierzigtausend Müßiggänger in Neapel zu finden wären; und wer spricht's ihm nicht nach! Ich vermutete zwar sehr bald nach einiger erlangter Kenntnis des südlichen Zustandes, daß dies wohl nordische Ansicht sein möchte, wo man jeden für einen Müßiggänger hält, der sich nicht den ganzen Tag ängstlich abmüht. Ich wendete deshalb vorzügliche Aufmerksamkeit auf das Volk, es mochte sich bewegen oder in Ruhe verharren, und konnte zwar sehr viel über gekleidete Menschen bemerken, aber keinen unbeschäftigten.“
Goethe beginnt mit der genauen Beobachtung verschiedener Bevölkerungsgruppen, ganz so, wie er als Naturforscher gewohnt war, Gesteine und Pflanzen zu untersuchen. Empirische Forschung, wie sie systematisch auch der von ihm bewunderte jüngere Alexander von Humboldt betrieb, war in jener Zeit, als in Deutschland die spekulative Philosophie des Idealismus vorherrschte, noch suspekt. Über den gerade erschienenen Bericht von Archenholz urteilt Goethe scharf, sein Geschreibe in „großtuige(r) und verachtende(r) Manier“ schrumpfe am Ort selbst zusammen.

Empirische Forschungen
Archenholz, eine reiselustiger Hauptmann aus Danzig, später als Publizist und Historiker bekannt geworden, sieht die Verhältnisse Neapels mit den nüchternen Augen der Aufklärung. Er sagt über die Lazaroni, die Obdachlosen Neapels: „Man rechnet die Anzahl dieser Menschen auf vierzigtausend, die weder Stand, Beschäftigung, Eigentum, Wohnung noch Lebensunterhalt haben, sich durch die äußerste Dürftigkeit auszeichnen und dennoch in einer gewissen Vereinigung leben . . . Die überaus große Fruchtbarkeit des Landes, das heiße Klima und die Trägheit haben hier diese Menschenklasse erzeugt. Ein Lazarone begnügt sich oft ganze Wochen lang, bloß von Früchten zu leben. Seine körperliche Bedeckung ist äußerst gering, denn er ist fast nackend und seine Wohnung selten in Häusern.“ Weiter heißt es: „Man schläft auch hier mehr als in einer Stadt Italiens, das heißt, in der warmen Jahreszeit den größten Teil des Tages.“
Gegenüber solchen, gewiß sehr verbreiteten Ansichten schreibt Goethe: „Ich fing meine Beobachtungen bei früher(!) Tageszeit an, und alle die Menschen, die ich hie und da still stehen oder ruhend fand, waren Leute, deren Beruf es in dem Augenblick mit sich brachte.“ Indem er weit vor Sonnenaufgang aufgestanden ist, um seine Beobachtungen zu machen, straft Goethe alle jene Lügen, die sich über das Volk von Neapel am heißen Vormittag bei einer Limonade ein Urteil bilden. Er beschreibt detailliert die Arbeit von Lastträgern, Kutschern, Schiffern, Fischern, Kehrichtsammlern und Kindern. Und er geht so weit zu behaupten, „daß zu Neapel verhältnismäßig vielleicht noch die meiste Industrie (Fleiß) in der ganz niedern Klasse zu finden sei“. Der „sogenannte Lazzarone (sei) nicht um ein Haar untätiger als alle übrigen Klassen". Dann macht Goethe über die Neapolitaner dies schöne Bemerkung: „daß sie sogar bei der Arbeit des Lebens froh werden wollen".
Bei der Arbeit! Diese Feststellung faßt südliche Lebensart gegenüber der nordischen Ansicht, nach der ein Tagedieb ist, wer sich „nicht den ganzen Tag ängstlich abmüht", pointiert zusammen. Die kontinuierliche Arbeit des Nordländers erklärt Goethe damit, daß er „zur Vorsorge, zur Einrichtung von der Natur gezwungen wird … Die Natur zwingt ihn zu schaffen, vorzuarbeiten.“ Nach deutscher Art zu arbeiten ist danach keine Frage der höheren Moral. Goethe, der das Gesellschaftliche stets in Zusammenhang mit der Natur und den Menschen stets als deren Bestandteil dachte, sieht, daß Arbeit als produktive Anstrengung notwendig mit Erholung und Pause einhergehen muß.
So bemerkt er etwa, daß die Menschen aus „dem geringen Volk in Neapel … zwar ihr Geschäft verrichten, aber auch zugleich einen Scherz aus dem Geschäft machen“. Er übersieht keineswegs, „daß Fabriken“ - auf diese Weise - „nicht zustande kommen". Goethe hat im Gegensatz zu den anderen Reisenden aus dem Norden die Widernatürlichkeit der kontinuierlichen Arbeit erkannt, die dann im Zeitalter des Industriekapitalismus überall gefordert werden sollte und auch heute noch gefordert wird, wenn auch die Flexibilisierung der Arbeitszeit manche Veränderung gebracht hat.
Ferdinand Gregorovius, als Italienkenner berühmt gewordener Historiker, der Goethes Italienreise kannte, veröffentlichte ab 1853 Teile seiner Wanderjahre in Italien. Dort lesen wir: „Es war mir für das Wesen Neapels folgende Erscheinung immer charakteristisch: um die Mittagszeit liegen im Portikus einer glänzenden Kirche, des Doms San Francesco di Paola, im Angesicht des königlichen Schlosses, Lazzaroni schlafend ausgestreckt, in unschönen Gruppen, mit zerrissenen Wämsern, diese Säulenhalle keineswegs verzierend … In jeder anderen Residenz Europas würde die Polizei solche Schläfer von den Stufen des Doms und aus dem Angesicht des Schlosses hinweggefegt haben. Hier schlafen sie den ruhigsten Schlaf, und vor ihnen schreiten die Wachen achtlos auf und ab."
Kein Anblick für den Ästheten also. Doch macht sich der hochgebildete Autor gleichwohl die Freude, einem Lazzarone für ein paar Gran beim „Makkaroniverschlingen“ zuzusehen.
Der nordische Blick wird vier Jahrzehnte nach Goethes Reise immer deutscher, etwa in einem Brief des romantischen Malers Ludwig Richter: „Wie kann sich ein echter deutscher Mann über ein fremdes, ihm ganz unbekanntes Land so recht freuen?“ Goethe dagegen hatte geschrieben, er habe sich „ganz hingegeben"; und „je mehr ich mich selbst verleugnen muß, desto mehr freut es mich". Womit etwa gemeint ist, daß er „keinen Eigendünkel und keine Prätention“ hatte, d. h. sich seiner Vorurteile entledigte, um zu einem „unmittelbaren Anschauen“ zu gelangen - ein schmerzhafter Prozeß. „Urteilen möchte ich gar nicht, wenn es nur möglich wäre.“

Weltoffenes Denken
Verglichen mit Archenholz und Gregorovius, die italienischer Lebensart keineswegs feindlich gegenüberstanden, oder Richter sucht Goethe das fremdartige Leben aus den jeweiligen Bedingungen des Ortes zu verstehen. Die Abkehr von der Eurozentriertheit, welche die Ethnologen heute zur Beurteilung fremder Gesellschaften fordern, die lange nach den Maßstäben der abendländischen Industriezivilisation durchaus auch wertend als „unterentwickelt“ beurteilt wurden, wäre Goethe sofort verständlich gewesen. Erstaunlich ist, wie umstandslos sein weltoffenes und weltumgreifendes Denken sich auf Probleme beziehen läßt, die heute angesichts ihrer Globalität auf den Nägeln brennen, während doch so manche Stimme aus der Vergangenheit nur noch ein Wispern ist.