Kategoriearchive: Text in der Frankfurter Rundschau

Vor der roten Ampel sind alle gleich

Der Straßenverkehr ist heute die "Schule der Nation"

Den "Bauernlümmeln" wurden auf dem Exerzierplatz "die Hammelbeine lang gezogen" und "Menschen aus ihnen gemacht". Das Militär galt einmal als "Schule der Nation". Gedient zu haben war eine Garantie dafür, auch im zivilen Leben gehorchen zu können. Ein Gedienter hatte "Benimm". "Gedient?" war die erste Frage des Arbeitgebers. Durch das Marschieren lernten die ungelenken Dörfler und rachitischen Proletarier das gerade Gehen, doch keineswegs den "aufrechten Gang". Aus der Perspektive der wilhelminischen Gesellschaft wurden sie sozialisiert. Doch das ist lange vorbei.
"Schule der Nation" ist heute der Straßenverkehr. Soziologisch betrachtet hat er eine integrierende Wirkung. Das ist angesichts zentrifugaler Tendenzen in unserer Gesellschaft, die sich aus der zunehmenden Individualisierung, dem Zerfall von Traditionen und Institutionen, der Flexibilisierung der Arbeitszeit und der wachsenden Mobilität ergeben, nicht gering zu schätzen. Der Straßenverkehr ist das einzige gesellschaftliche Subsystem, in welchem Freiheit und Gleichheit, die großen Postulate der Französischen Revolution und die Basis unserer Demokratie, heute fast jedermann unmittelbar und täglich erfahrbar sind. Mobilität wird oft zum Inbegriff von Freiheit verkürzt ("Freie Fahrt für freie Bürger").
Die Mobilität ist eines der Kriterien, nach denen unsere Zeit sich von der feudalen Epoche der Leibeigenschaft, der nachts verschlossenen Stadttore, des begrenzten Warenverkehrs und – in den deutschen Kleinstaaten – der dauernden Passkontrollen augenfällig unterscheidet. Wenn auch das Auto von einigen als Machtmittel oder gar als Waffe missverstanden wird – 1991 titelte die Zeit: "Der lackierte Kampfhund" –, so stellt das die integrative Wirkung des Autoverkehrssystems im Ganzen nicht in Frage. Vor der roten Ampel sind alle gleich, eine Gleichheit, die sicherer gewährleistet ist als etwa die vor dem Gesetz, wo oft entscheidet, ob man seinen Prozess bis zur höchsten Instanz finanziell durchstehen und/oder sich einen guten Anwalt leisten kann. Auto fahren zu können gehört heute zu den zivilen Grundfähigkeiten. Wer diese Qualifikation nicht besitzt, gilt als Kauz, als nicht normal, fast als nicht vollwertiger Bürger, geradeso wie Leute, die kein Telefon besitzen, keinen Fernseher oder keinen Computer.
Es ist weniger die Moral, welche die Autofahrer dazu anhält, die Regeln einzuhalten, als die Selbsterhaltung. Rücksicht und Vorsicht übt man im wortwörtlichen Sinne weniger um der anderen willen als in Sorge um die eigene Person und das heilige Blechle – sieht man von der infantilen Angst vor Strafe einmal ab. Denn Autofahren ist ja mit höchsten Risiko verbunden. Und weil man sich aus Egoismus und weniger aus moralischen Motiven sozial verhält, hat dieses gesellschaftliche Subsystem die denkbar stärkste motivationale Basis – dieselbe Basis wie das Marktsystem.
Die positive soziale Funktion des Verkehrssystems lässt sich an zwei Phänomenen belegen, die jeder kennt. Die Verengung der Autobahn auf nur eine Spur führt zu der Notwendigkeit des Einfädelns, eine Anforderung, die noch in den 60er Jahren kaum erfüllbar war. Ob Lernprozess oder Generationswechsel: Die soziale Leistung besteht heute darin, auf das unmittelbare Recht des Zufahrens zu verzichten in der Einsicht, dass ohne das Vorlassen des anderen das eigene Fortkommen ganz unmöglich würde. Die Fahrer verzichten auf die Durchsetzung eines unmittelbaren Interesses, um es mittelbar durchzusetzen, vermittels des anderen, dem sie den Vortritt lassen: Paradoxerweise wird der Vordermann, das direkte Hindernis, derart zum Mittel für das eigene Fortkommen. Das zu begreifen erfordert strategisches Denken. So instrumentell dies Verhalt auch ist, es ist doch sozial, das eigene Interesse zeitweilig zurückzustellen, damit das Ganze funktioniert, von dem man – wie alle – abhängt. Dies soziale Verhalten unterscheidet sich von den naiven, brutalen Kraftakten unmittelbarer Durchsetzungsversuche jedenfalls durch Kalkül.
Auch bei dem zweiten Phänomen, das die integrative Funktion des Systems belegen kann, handelt es sich um einen Verzicht. Die Autobahn nach Berlin ist streckenweise vierspurig und ohne Geschwindigkeitsbeschränkung. Auch die letzten "Rennpappen" drücken dort auf die Tube. Verwundert bemerkt man dagegen hin und wieder schwere und schnelle Wagen, die die gebotene Möglichkeit nicht ausnutzen, sondern die übliche Geschwindigkeit einhalten – und das nicht etwa, weil die Fahrer telefonieren. Ob sie nun vor sich hingrübeln oder Beethoven hören, bei den Überholenden hinterlassen sie den Eindruck, auf etwas zu verzichten, das sie ohne weiteres tun könnten. Porsche etwa exportiert nach den USA, wo rigide Geschwindigkeitsbeschränkungen bestehen. Warum dort einen so schnellen Wagen fahren? Auf etwas zu verzichten, das man tun könnte, ist eine Art sublimen Genusses, möglicherweise verwandt mit der Askese. Es handelt sich um das Gefühl, dass man könnte, wenn man wollte. Freilich handelt es sich auch bei dem Verzicht um eine Demonstration, ob man will oder nicht: Man zeigt, dass man es nicht nötig hat. Die britischen Oberschichten haben daraus die distinguierte Haltung des understatement entwickelt, die mit dem Konzept des gentleman zusammenhängt, wie es einst Beau Brummel (1778–1840) begründet und vorgelebt hatte. Der gesellschaftliche Status erhöht sich durch den Verzicht. Der Herr ließ der Dame einst den Vortritt und demonstrierte so die Stärke gegenüber dem "schwachen Geschlecht", weshalb Feministinnen sich diese Höflichkeit verbitten und sogar den angebotenen Platz in der U-Bahn ablehnen. Verzicht aus der Position der Stärke: Man könnte von einer Kultur des Lassens sprechen.
Der Begriff, der sich in ökologischen Argumentationen findet, geht wahrscheinlich auf die Große Verweigerung zurück, die Herbert Marcuse den Studenten in den 60er Jahren als Strategie empfohlen hatte. Handlungsfolgen verstellen den Horizont. So viel ist in die Welt gestellt, dass der Gedanke der Unterlassung bestechend ist. Viele Künstler arbeiten darum mit vergehenden Materialien. Doch ist nicht zu vergessen, dass auch jede Unterlassung Fakten setzt – wie etwa die unterlassene Hilfeleistung bei einem Unfall. Dennoch kann es sehr kultiviert sein, Dinge zu unterlassen, die man tun könnte. Darauf beruht Freuds Konzept der Sublimierung, nach welcher Kultur aus der Umsetzung der Triebe entsteht. Doch auf das zu verzichten und anscheinend gering zu achten, was andere liebend gern täten oder besitzen wollten, kennzeichnet auch den Snobismus. Aber mag es vielleicht auch snobistisch sein, eine Möglichkeit zur Durchsetzung ungenutzt zu lassen, so erscheint doch dieser Verzicht, betrachtet man die Handlungsfolgen, in einem anderen Licht. Aus welchen Gründen immer die Starken in einer Gesellschaft sich zurücknehmen und einreihen, entscheidend ist, dass sie es tun und damit denen, für die sie Vorbild sind, den Eindruck geben, rücksichtsvoll zu sein, auch wenn es sich dabei bloß um Kalkül, Softi-Allüren oder raffinierten Genuss handeln mag. Die deutsche Sprache drückt ein gewisses Sozialverhalten als Perspektive aus: Rücksicht, Vorsicht, Voraussicht, Übersicht, Nachsicht. Ob diese Perspektiven aus moralischen Motiven oder aus Berechnung eingenommen werden, ist praktisch unbedeutend: dass sie eingenommen werden, ist entscheidend. Toleranz ist eine urbane Haltung, die nicht auf Nächstenliebe beruhen muss. Sie kann ganz unedle Gründe haben.

Chinesische Künstler in Weimar

La Cina è vicina
Künstler aus dem Reich der Mitte in Weimar

Chinesen in Weimar. Walter Smerling und Dieter Ronte hatten sie schon vor einigen Jahren nach Bonn, Harald Szeemann hat sie auf die letzte Biennale nach Venedig geholt. Wo sie auffielen, nicht, weil sie in der Kunst neue Wege gehen, sondern weil es Chinesen sind: Vertreter eines mächtigen, geheimnisvollen Landes, das sich im Umbruch befindet.
Die in Weimar gezeigten Arbeiten sind von ungleicher Qualität. Die aus dem Sozialistischen Realismus bekannte Instrumentalisierung der Kunst zur Übermittlung von Botschaften wirkt nach. Sie führt oft zu einer flachen, lesbaren Symbolik, die unserem westlichen Kunstverständnisvon der Eigenständigkeit der Kunst nicht entspricht. So verspottet etwa Lu Hao die Undurchsichtigkeit der Bürokratie mit durchsichtigen Plexiglas-Modellen von Regierungsgebäuden. Überdeutlich auch die Anspielungen, die Yue Minjun mit den in Reih und Glied stehenden, lebensgroßen und völlig identischen Männern gibt, die – wie Gefangene die Arme im Nacken verschränkt – mit fest geschlossenen Augen lauthals lachen. Auch die säulenartig aufeinander stehenden Männer, die eine Autobahnbrücke zu stützen scheinen, sind als Ironisierung des Fortschritts kaum misszuverstehen (Foto einer Performance von Wang Jin).
Unter dem Titel Our Chinese Friends zeigen neudeli, die Galerie der Bauhaus-Universität, und die ACC-Galerie an zwei Orten 16 chinesische Künstler, von denen einige auf der Biennale waren. Die Titel gebende Arbeit Our Chinese Friends stammt von Ingeborg Lüscher (alias Ying-Bo), der einzigen Nicht-Chinesin. Die Video-Arbeit zeigt eine Runde vergnügter Chinesen und Chinesinnen, die hingebungsvoll so etwas wie das Kinderspiel "Schere, Stein, Papier" spielen und sich königlich amüsieren. Die Arbeit bezauberte schon in Venedig durch die Unbefangenheit der Protagonisten.
Das brisante Thema des neuen Individualismus schlägt Chang Yugong mit den Konterfeis der Neureichen an, die er mit Schoßhund und Handy fotografiert und dann in poppigen Farben in Seide sticken lässt. Die in einer Aureole naiv und stolz grinsenden Emporkömmlinge agieren vor Ort vermutlich brutal. Den aufgeblasenen "homo novus" thematisiert Zhou Tiehai in einer anderen Version mit Fotomontagen, die sein eigenes Gesicht, seine Sprüche und Ideen dem Cover von bekannten westlichen Magazinen implantieren.
Auch Zhuang Hui, der schon 1997 auf der Art Cologne auffiel, thematisiert das zentrale Problem von Individuum und Gesellschaft. Mit Hilfe einer Spezialkamera fotografiert er ganze Belegschaften: Hunderte von nebeneinander aufgereihten Polizisten, Werks- oder Krankenhausangestellten repräsentieren jeweils ein Kollektiv, in China noch immer die kleinste soziale Einheit. Es starrt den Betrachter von den bandbreiten Panoramafotos als vieläugiges Ganzes an. Doch nähertretend sieht man in höchst verschiedene, individuelle Gesichter, auch in das des Künstlers.
Elegant wirkt Huis Arbeit durch ihre Einfachheit: Belegschaftsfotos sind in China üblich, doch ohne Herrn Hui, der nur durch die Kunst dazugehören kann. So benutzt er eine Tradition und bricht sie zugleich. Den Bezug zur Tradition halten andere Künstler durch die herkömmliche Machart, etwa die Stickerei. Oder Ai Wei Wei:Er baut aus antiken Möbeln Skulpturen zusammen; und Wang Jin lässt ein kaiserliches Prunkgewand aus transparentem PVC herstellen und mit Nylonfäden besticken. Auch Qui Shi-Hua verbindet Tradition mit der Anmutung moderner Kunst: Wenn man seine großen Weißen Bilder lange anschaut, wachsen daraus die Schatten chinesischer Landschaften hervor. Mit dem Faszinosum der Leere arbeitet ebenso Xie Nanxing, dessen zwei große Ölgemälde unserem Kunstverständnis am nächsten kommen: ein bedrückend leerer Raum mit unheimlichen Spuren an der Wand, zum anderen ein Schleier mannshoher, blauer Gasflammen. Auffallend das riesige Portrait von Harald Szeemann mit der Miene des Erlösers (Zhou Tiehai): Die chinesischen Künstler verdanken ihm viel.

(Bis 27.8.2000)

Stilformen um 1900

Boa im Vorfrühling
Eine Ausstellung in Apolda dokumentiert Stilformen um 1900

Einen Katzensprung von Weimar entfernt: Apolda, ehemals Stadt der Stricker und Wirker. Mitten im Ort alte, leere Fabrikgebäude und zwischen den Arbeiterhäusern hier und da die Villa eines Fabrikanten. Eine von ihnen ist heute das Kunsthaus, das Domizil des rührigen Kunstvereins. Die Ausstellung „1900 – Traum und Wirklichkeit“ lässt eine Entgegensetzung von Symbolismus und Realismus erwarten. Doch Kurator Hans-Dieter Mück möchte zeigen, dass die Kunst um 1900 den Einteilungen der Kunsthistoriker oft nicht entspricht. Es gibt viele Mischungen. Der im Stilpluralismus schließlich dominante Jugendstil macht Anleihen auch beim Realismus: Abbild wird Sinnbild, wie bei Heinrich Vogelers Liebespaar am Meer. Die Märcheninterpretationen des Jugendstil-Illustrators sind dagegen traumhaft suggestiv. Zum Symbol der Schwelle zwischen zwei Jahrhunderten wurde der Januskopf.
Einerseits die Todessehnsucht des fin du siècle, etwa in Max Klingers historistischen, heute unerträglich pathetischen Radierungen und Kupferstichen „Vom Tode“; andererseits nicht minder pathetisch der Jugendstil, der sich sendungsbewusst als Aufbruch feierte, z.B. mit den Apotheosen des Tanzes von Ludwig von Hofmann. Doch auch der Jugendstil kokettierte mit dem Tod, z.B. in der Salome von Wilhelm Holz. Böcklins Toteninsel hing als Reproduktion in vielen Bürgerhäusern. Die Bourgeoisie verschanzte sich vor dem Massenelend, das Industrialisierung und Großstadt hervorgebracht hatten, im ästhetisierten Heim, viele Künstler flohen aufs Land und schufen im Abseits Heimatliches, Idyllisches, Erdiges, Volkhaftes (von Kalkreuth, Thoma, von Zügel).
Traumartig wirkt der Eskapismus der realistischen Landschaftsmalerei wie auch des dekorativen Jugendstils. Der „wilhelminische“ Stil, der vom Kaiser geförderte monumentale Historismus, etwa die riesigen Historienschinken des Großkünstlers Hans Makert, verewigte abgelebte Stile zu erhabenen Scheußlichkeiten. Gegen diesen reaktionären Totenkult setzten die rebellischen, zu „Sezessionen“ zusammengeschlossenen Künstler auf die „reine“, unverbrauchte Natur. Gegen Industrie, Großstadt und Proletarisierung sahen sie die lebbare Utopie im Kunsthandwerk.
Die ausgestellten Landschaftsbilder haben nichts von der positiven Lichtheit und Freiheit des französischen Impressionismus, der ja um 1900 nicht mehr neu war – ausgenommen die heiteren Sommerbilder von Gleichen-Russwurms. Auch der spätere Bauhaus-Lehrer Adolf Hoelzel sieht den Vorfrühling eher düster. Die Exponate rufen ein Gefühl großer Fremdheit hervor, etwa „Die Sinnlichkeit“ (Franz von Stuck), eine monströse Boa, die sich zwischen den Schenkeln einer Nackten hervorwindet und auf deren Busen züngelt. „Rinnsteinkunst“ (Wilhelm II.), das waren vor allem die schreienden Arbeiten der Kollwitz zum Bauernkrieg und dem Weberaufstand. Der alte Menzel und Max Liebermann hatten die junge Künstlerin für eine Goldmedaille vorgeschlagen, doch der Kaiser, der auch die „unteren Stände“ ästhetisch-moralisch zu erheben gedachte, hintertrieb die Preisverleihung.
Gewiss sind auch die „realistischen“ Radierungen der Kollwitz nicht ohne heroisches Pathos, das heute befremdet. Pathos ist eine rhetorische Weise der Inszenierung, und Inszenierung ist uns heute nicht fremd. Wohl aber das Heldische. Thematisch eindrucksvoll nah ist das Paar, das nachts mit dem schlafenden Kind einen schlammigen Wegrand entlang wandert: Migranten, Obdachlose, Asylsuchende. Es ist die heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten (Fritz von Uhde).
Kunstvereine sind von den Leihgebern abhängig, welche die besten Stücke ungern außer Haus geben. Da muss man Ideen haben: Die wohl über 100 hoch symbolischen Ex-libris, darunter von Stefan Zweig und Morgenstern, sagen über den Zeitgeist der alten Jahrhundertwende oft mehr als manches Bild.
Bis 10. September 2000.

Das Haus in der Kunst

Ich und mein Iglu. Das Haus in der Kunst:
Eine Ausstellung in Hamburg kehrt das Äußere nach innen und das Innere nach außen

Anthropologisch gesehen ist das Haus ein fundamentales Faktum und darum auch eine Basismetapher unseres Denkens. Darüber hinaus ist es aber auch ein aktuelles Thema – angesichts zunehmender Obdachlosigkeit und der neuen Völkerwanderungen von Flüchtlingen, Wanderarbeitern und Touristen sowie vor dem Hintergrund unserer automobilen Gesellschaft, die mit Hotel, Wohnmobil und Wohncontainer längst Behausung plus Mobilität verbindet. „Obdachlosigkeit ist degradierender als Arbeitslosigkeit“, schreibt Ludwig Seyfahrt vielversprechend im Katalog. Tadashi Kawamatas Hüttendörfer und Schlafkartons oder die herumstehenden Wohnwagen von Guillaume Bijl nehmen Bezug auf diese weltweiten Probleme. Erstaunlich darum, dass gerade sie fehlen.
Themen-Ausstellungen sind nicht unproblematisch, da sie nahe legen, die meist komplexen Exponate nur unter einem Aspekt zu sehen. Den Anspruch formuliert Zdenek Felix, Direktor der Hamburger Deichtorhallen, so: „Es geht um die Frage, wie Künstlerinnen und Künstler sich in den letzten drei Jahrzehnten mit den ästhetischen, funktionalen, gesellschaftlichen, kontextuellen und nicht zuletzt auch ökologischen Aspekten von Haus und Behausung in ihren Werken auseinander setzen.“
Es geht dabei aber weder um das Wohnen, ein Thema, das hier 1997 unter dem Titel „Home Sweet Home“ vorgestellt worden ist, noch um Architektur aus Sicht der Kunst, wie 1999 in der Villa Merkel in Esslingen, noch vornehmlich um gesellschaftliche Aspekte der Behausung, wie man erwarten könnte. Geboten wird ein Potpourri: eine computergenerierte, schulterhohe Kirche (Julian Opie), eine Windmühle (Andreas Slominsky), Parkhausskelette als Metallskulptur (Rita McBride), bemalte Kinderhäuser (Andreas Schulze), backsteingroße Betonhäuschen (Hubert Kiecol) und sogar Vogelhäuschen. Zum Thema passt auch das Iglu von Mario Merz, die archaische Behausung von Nomaden in Halbkugelform, die das Schutzbedürfnis des Menschen mit der kosmologisch begründeten Geometrie in Einklang bringt.
Die Häuser auf den Fotos von Bernd und Hilla Becher sind einander so ähnlich und so verschieden, wie die Menschen, die in ihnen wohnen. Zu Recht hat man diese Fotos Portraits genannt, die das Verhältnis von Mensch und Haus offenbaren. Ihr Schüler Andreas Gursky zeigt in dem Foto einer breiten Rasterfassade massenhaftes Wohnen (Wohnblock Montparnasse) und im Foto eines chinesischen Bankhochhauses massenhaftes Arbeiten. Es geht um den Rückzug des einsamen Individuums in einen Funktionsraum, in dem es gerade noch arbeiten und masturbieren kann. Es geht um die minimalen Lebensbedingungen. Bei Zittel: „Flucht-Vehikel“.
Absalons Cellule, die an die Schlafkapseln in Tokio erinnert, bemisst sich am körperlichen Aktionsradius des Künstlers und gleicht doch einem Grabgewölbe. Die auf Bierkästen postierte Überlebenshütte des Ateliers van Lieshout mit einem lächerlich großen Schornstein, primitivstem Hausrat und betulich in eine Tonne geführtem Regenrohr eignet sich zum Vegetieren eines Schrats im Abseits. Zittels Wohnmobil, ein Schild private auf dem Nierentisch, hat Bibliothek, Telefon und Fax. Ihre Arbeit heißt Work Station. Sie ist die Einzige, die die Situation der mobilen Arbeitsmonade ins Bewusstsein rückt. Schon klassisch und zweifellos in ihrer Kraft überragend sind die Arbeiten des 1978 jung verstorbenen Gordon Matta-Clark, berühmt geworden durch das Zersägen und Durchbohren ganzer Häuser, deren Teile er ausstellte: Zu den beeindruckendsten Arbeiten der Hamburger Ausstellung gehört Bingo, ein Wandfragment, das zuvor im Westfälischen Landesmuseum in Münster zu sehen war. Die sieben Meter lange Skulptur: die Außenseite eine mit roten Schindeln bedeckten Hausmauern, die Innenseite eine Wand mit Sims, Treppenwange und abgeschnittener Tür- und Fensterleibung. Ein lapidares Stück Innen und Außen, zugleich Hauptthema der Architektur.
Per Video ist die berühmte Arbeit von Rachel Whiteread mitzuerleben: die innere Armierung und äußere Einrüstung eines Abbruchhauses, das die Künstlerin 1993 mit Beton ausgießen ließ. Dann wurden Dach und Mauern abgeschlagen, und zurück blieb der blockhafte Abguss der Innenräume mit Abdrucken von Simsen, Treppen und Kamin. Monumentalisiert wird – vergleicht man die Außenmauern mit einem Kleid – das Futter. Ebenfalls das Innere nach außen und das Äußere nach innen holt Dan Graham, indem er Mauern durch Glas transparent macht und Wände verspiegelt. Er umspielt so Frank Lloyd Wrights Idee der Transparenz als Kriterium einer demokratischen Architektur. Von Graham sind kleine ausgeklügelte Arbeiten zu sehen.
Explizit politisch arbeitet Martha Rosler aus New York. Ihre Foto-Collage „Bringing War Home“ (1967–1972) lässt den Vietnamkrieg ins Wohnzimmer ein, wo man vom Lehnstuhl aus das Treiben der Panzer im Garten beobachten kann oder muss. Schutz bietet das Haus nicht mehr, die Welt kann überall hereinbrechen.

Deichtorhallen Hamburg, bis 17.September 2000.

Jean Dubuffet als Lithograph im Kunstverein Ulm

Der Herr an der Mülltonne

Skandal machte Jean Dubuffet (1901–1985), der sich nach langen Studien nur schwer entschloss, ein Künstler zu sein, schon mit seiner ersten Ausstellung im Jahre 1946: Er forderte die Ehrenrettung des Schmutzes, verquickte die traditionsreiche Ölfarbe programmatisch mit Dreck und kratzte in die „haute pâte“ verrückte Figuren und Gesichter. Vorbilder waren die Kritzeleien von Geisteskranken, Kindern und Pissoirbesuchern, die er zur Art Brut erklärte und sammelte. Er suchte nach Ursprünglichkeit: äMan muss andere völlig ungewohnte Mittel einsetzen, um das Sehen wieder zu wecken. Scharfzüngig und voller Witz hatte Dubuffet nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die etablierte Kultur einer moralisch bankrotten Bourgeoisie polemisiert.
Nach der opulenten Retrospektive im Saarbrückener Saarland-Museum (1999) zeigt nun der Ulmer Kunstverein mit Lithographien eine weniger bekannte Seite des großen Franzosen, der in allen Künsten experimentierte, auch in Musik, Theater und Architektur. Hatte er in der Malerei die rohe Materie ins Bild geholt, arbeitete er in seinen Lithographien mit Abdrücken der Materie: dem Erdboden, Mauern, alten Koffern und sogar der Rückenhaut eines Freundes. Diese objektiven Wirklichkeitsabdrücke kombinierte er dann und schuf so ein geschichtetes Realitätskonzentrat wie in „Les Phénomenès: 362 Lithos“, von denen fünf zu sehen sind.
Ausschnitte davon verwendete er dann zu Collagen wie der lustigen „Karottennase“, die der Ulmer Ausstellung den Namen gibt. Die Collage war für ihn die Technik, welche dem assoziativen wilden Denken entspricht. Er streute Nähfaden, Papierschnipsel, Brotkrümel auf die Druckplatten, ließ sie vom Regen betropfen oder erhitzte sie auf der Herdplatte er tat mithin alles, was der professionelle Lithograph peinlich vermeidet. „Ich konnte,“ schrieb er, „in unendlicher Mannigfaltigkeit Drucke entwerfen, ohne jemals einen Pinsel zu berühren, sondern einfach durch Variation in der Abfolge der Matritzen. Das könnte durch eine dritte Person ausgeführt werden …“
In der hohen Zeit des Informel mit seinem emphatischen Subjektivitätsbegriff ließ Dubuffet die leblose Materie in Abbildern selbst zu Worte kommen und vergeistigte sie so. Er nahm sich als Künstler zurück, eine Haltung, die Züge der objektivistischen Kunsttendenzen der 60er Jahre vorwegnimmt. Unter den Exponaten aus Privatsammlungen und den Leihgaben der Staatlichen Graphischen Sammlung München findet man seltene Künstlerbücher mit handschriftlichen Texten des Künstlers, besonders schön: die 15 Serigraphien Oriflammes Tot/blau auf gelbem Grund von 1984, die in Zusammenhang mit den Farbfilzstiftarbeiten der Argument-Reihe und den Bildern des Typs Mire Kowloon (1983) entstanden; das Algèbre de „LHourloupe“ (1967), 52 Spielkarten nach Dubuffets berühmter puzzleartiger Bildschrift LHourloupe; und die 15 Lithos „Les Murs“ (1945) mit Graffiti-Inschriften auf rissigen schwarzen Flächen mit Figuren.
Ein Video zeigt den Künstler, der stets gekleidet ging wie ein Herr, in einer Abfalltonne suchend, abblätternde Mauern musternd, Steinchen aufklaubend, die er schnell in die Tasche seines schönen Trenchcoats steckt. Dubuffet, der zurückgezogen lebte und doch mit allen Größen der Zeit bekannt war, sprach langsam und artikuliert. Er war hoch gebildet, sprach unter anderem Arabisch und Russisch, bewunderte Paul Klee und schrieb täglich. Seine Texte umfassen vier Bände à 400 Seiten. 1947, als in Paris die Kohlen knapp waren, fuhr er in die Sahara. Im Wüstensand fand er Spuren, Fußabdrücke von Tieren und Menschen: Spuren als Zeichen der Geschichte, Spuren des gewöhnlichen Lebens, aus dem er sich die Erneuerung der Kunst erhoffte.
Wegen der Seltenheit der Exponate ist die Ausstellung für Kenner Dubuffets ein Muss und für die Kunstinteressierten Gelegenheit, einen der großen Revolutionäre der Kunst kennen zu lernen.

Jean Dubuffet, Nez carrotte, Kunstverein Ulm, bis zum 4. Juni 2000.

Sein Name ist Hase

Über Sinnbilder, Kunstwerke, Anarchie und Auferstehung

Joseph Beuys, unter den deutschen Künstlern der große Zauberer, der Alchemist, der alles in alles verwandelte, liebte den Hasen als Symbol so sehr, dass er sich selber einen Hasen nannte und den Hasen sogar als Kühlerfigur auf seinen Bentley setzte. Für ihn, der eine Partei der Tiere gründete, zu deren Mitgliedern außer den Hasen und Elefanten auch Engel gehörten, war der Hase das Symbol der Umwandlung und des Neubeginns. Beuys war sich der Fruchtbarkeitssymbolik, welche den Hasen zum Osterhasen macht, sehr wohl bewusst. So behauptete er etwa vieldeutig, "ein toter Hase könne mehr für die Umwandlung der Gesellschaft bewirken als eine Theorie". Gemeint war die Marxsche Theorie, welche in den 60er und 70er Jahren von den Studenten auf alles und jedes angewandt wurde; Marx passte immer.

Warum Osterhase? Warum nicht Osterfuchs? Kein Witz, im Hannoverschen brachte einst der Fuchs die Eier; sie hießen Vosseier. Und in der Rhön und Thüringen der Storch, der ja die Wickelkinder bringt. Woanders der Kuckuck. In Tirol das Huhn. Weil diese Alpenbewohner unverbesserliche Realisten sind. Und was ist mit den Ostereiern? Überall in der Welt wurde das Ei als Keimzelle des Lebens erkannt: Es ist ein Fruchtbarkeitssymbol, das jeder versteht. Darum die Sitte, dass die Verliebten sich mit Eiern beschenkten. An Ostern feiert die Christenheit die Auferstehung Jesu. Der Kirchenlehrer Ephram bezieht das Ei auf die Auferstehung: "Gleich einem Ei springt das Grab auf", Ostern ist der Sieg des Lebens über den Tod. Es ist das christliche Frühlingsfest, das die Kirche den vorchristlichen Frühlingsfesten angepasst hat.
Ja, und der Hase? In England gilt der Märzhase - und Ostern fällt ja dann und wann in den März - als Inbegriff der Liebestollheit. Er ist für die Insulaner das Urbild aller Verrücktheit, weshalb sie sagen, jemand sei "mad as a marchhare". Aber auch im Deutschen hat der Hase einen kleinen Klaps. Im berühmten Wörterbuch der Gebrüder Grimm findet man unter "Hasenpfeil": "Pfeile, die zum verliebten Thoren machen", "Hasenfuszig", "hasenhaftig" und "hasierlich" bedeuten allesamt "närrisch". Im 16. Jahrhundert gab es Sprüche folgender Art: "es ist aber haserei ein solch gebrechen, der zu entspringen pflegt fürnemlich im hirn." Und: "sobald er einen trunk empfeht (empfängt), hasieret er und lacht."
Johann Friedrich von Flemming hat 1749 ein unter Kennern hoch geschätztes Buch "Der vollkommene teutsche Jäger" verfasst, in welchem er über den Hasen das Folgende zu berichten weiß - hier in der urigen Schreibweise: "Dieses wohlbekannte Thierlein hat GOTT sonderlich gesegnet, dass es sich des Jahres vielmahl vermehret, weil es sonst die vielerleyen undenklichen Nachstellungen derer Menschen, Raub-Tiere und Raub-Vögel schon längst ausgerottet hätten." (Es muss hier gesagt sein: der lepus vulgaris ist nach den neuesten Berichten inzwischen tatsächlich vom Aussterben bedroht.) Und weiter: "Wann es sein Leben lassen muss, kann es sehr kläglich schreyen und erbärmlich um Huelfe ruffen. Ist ein furchtsames trauriges Thierlein, bekommt auch zuzeiten die Pocken, ja offt von grosser Geilheit (hört! hört!) die von ihm so offte getrieben wird, wohl gar die Franzosen." Im Ernst? Die "französische Krankheit", die den armen Casanova so oft geplagt hat? "Im Frühjahr so es halbwege Wetter ist, lauffen die Hasen nach der Häsin etliche Meilweges herum, suchen die Häsin und riechen ihr nach, rammeln mit grosser Begierde, dass offt hinter einer Häsin drey bis vier Rammler lauffen... Die Häsin ist eine untreue Mutter, lässet ihre Jungen nicht über sechs Tage saugen, dann verläst sie dieselben und läufft aus grosser Geylheit (sieh an!) dem Rammler wieder nach, welcher die Jungen, wann er sie frisch findet, auffrist, damit er die Häsin wiederumb zur Geylheit brauchen möge."
Das also sind die Familienverhältnisse des Hasen. Und auch des Osterhasen! Tiervater Brehm bestätigt von Flemmings Feststellungen mit etwas dezenteren Worten: Die Häsin verlasse ihre Kinder nach wenigen Tagen "neuer Genüsse halber". Den prüden Christen des Mittelalters war der Hase das Sinnbild von Liebesgier und Laster. Goethes Christiane schrieb an ihren Liebsten: "Aus lauter Hasigkeit" möchte sie "ein Wägelchen nehmen und mit dem Bübechen zu Dir fahren." Honny soit qui mal y pense. Sagt man(n) nicht auch heute: "Ich bin verrückt nach ihr?"
Der Hase ist also wie das Ei ein Fruchtbarkeitssymbol, und zwar in vielen Kulturen. Da der Hase in allen geografischen Breiten und unter allen Klimaten lebt - oder besser lebte - und seine Hasigkeit gerade um Ostern herum in aller Öffentlichkeit am wildesten austobt, liegt es nahe, dass er irgendwann mit den Ostereiern zusammengebracht wurde. Der Osterhase mit dem Korb voller Ostereier ist ein Symbolkonzentrat. Die Fastenzeit hört auf, und alle bekommen zu Recht Frühlingsgefühle. Übrigens lebt die Hasigkeit in den Ausdrücken Ski- und Betthäschen weiter. Und die Mädchen vom Playboy sind bekanntlich keine Miezen, sondern "Bunnys": Häschen. Dass die Osterhasen sehr anmutige, durchaus erotische Tiere sind, mag ein Bild aus dem "Hasenbuch" belegen, dem berühmten von Edmund von Freyhold illustrierten und von Christian Morgenstern mit Versen versehenen Kinderbuch aus den 20er Jahren. Joseph Beuys, unter den deutschen Künstlern der große Zauberer, der Alchemist, der alles in alles verwandelte, liebte den Hasen als Symbol so sehr, dass er sich selber einen Hasen nannte und den Hasen sogar als Kühlerfigur auf seinen Bentley setzte. Für ihn, der eine Partei der Tiere gründete, zu deren Mitgliedern außer den Hasen und Elefanten auch Engel gehörten, war der Hase das Symbol der Umwandlung und des Neubeginns. Beuys war sich der Fruchtbarkeitssymbolik, welche den Hasen zum Osterhasen macht, sehr wohl bewusst. So behauptete er etwa vieldeutig, "ein toter Hase könne mehr für die Umwandlung der Gesellschaft bewirken als eine Theorie". Gemeint war die Marxsche Theorie, welche in den 60er und 70er Jahren von den Studenten auf alles und jedes angewandt wurde; Marx passte immer.
Doch auch Beuys ging es um Umwandlung der erstarrten gesellschaftlichen Verhältnisse und des in zweckrationalistischen Begriffen gefangenen Denkens. Er wollte das verschüttete kreative Potenzial freisetzen. ("Jeder Mensch ein Künstler.") Am 26. November 1965 konnte das Publikum durch ein Fenster der Düsseldorfer Galerie Schmela, deren Eingang verschlossen war, Joseph Beuys dabei zusehen, wie er einem toten Hasen die Bilder erklärte. Er kehrte dem Publikum den Rücken zu und hielt den Hasen so im Arm, dass man glaubte, der sei lebendig. Dann stand Beuys auf, ging mit dem Hasen zu den Bildern, zeigte sie ihm und ließ ihn die Bilder mit der Pfote berühren. Allein der Hase durfte die Bilder sehen, das Publikum musste draußen bleiben. Hin und wieder hielt er den Hasen zum Publikum gewendet.
Die Aktion dauerte zwei bis drei Stunden. Beuys sagte später: "Ich erklärte sie (die Bilder) ihm, weil ich sie nicht den Leuten erklären mag. Ein Hase versteht mehr als viele menschliche Wesen mit ihrem sturen Rationalismus." Im Zusammenhang mit einer anderen Hasen-Aktion ("Eurasia", 1966) sagte Beuys: "Der Hase ist das Element der Bewegung, der Aktion, die den starren Kunstbegriff ändert." Beuys sah im schnellen Hasen "ein Überbrückungszeichen durch Bewegung".
Der Künstler, Anhänger des Anthroposophen Rudolf Steiner, bemühte sich in der Zeit der Ost-West-Konfrontation, die Welt als ein Ganzes zu sehen. Wie Steiner hielt er den "Ost-Menschen" für intuitiv und der Sinnenwelt verbunden - man erinnert sich, dass der Künstler im Krieg als Flieger abgestürzt war und ihm die Tataren das Leben gerettet hatten - und den "West-Menschen" für eher intellektuell. Beuys stellte sich eine gegenseitige geistige Befruchtung vor, die auch zu einer politischen Befriedung führen sollte. Der hin und her sausende Hase, der ja keine Grenzen kennt und überall zu Hause ist, war das Symbol der Bewegung und Überbrückung und auch des Friedens. Denn der Hase gilt als ein harmloses und friedliches Tier.
Einen Hasen, der einem winzigen Schützen gegenübersitzt, nannte Beuys "Der Unbesiegbare". Der Künstler gab eine Erläuterung: "Wenn der Hase nicht so anständig wäre, würde er sogar den Aggressor überwinden können. Aber der Hase ist viel zu anständig, das zu wollen. Er will lediglich weiterleben." Hier steht der Hase für das friedliche Leben, das, so die Hoffnung des Künstlers, letztlich unbesiegbar sei. Unbesiegbar? Ja, weil der Hase so fruchtbar ist.
Am 30. Juni 1982 hatte Beuys eine Zarenkrone, das Symbol der Macht, in einen Hasen umgeschmolzen. Es war eine spektakuläre Aktion anlässlich der documenta VII. Helmut Mattner, der Besitzer des Düsseldorfer Nobelrestaurants "Datscha", hatte sich 1961 von dem Juwelier Rene Kern eine Nachbildung der Zarenkrone Iwan des Schrecklichen aus dem 16. Jahrhundert anfertigen lassen: als Trinkgefäß für erlesene Gäste. (Es wurde daraus zuzeiten Krimsekt getrunken.) Dazu hatte er sich eigens eine Genehmigung von Nikita Chruschtschow besorgt.
Beuys gelang es, Mattner dazu zu bewegen, dass er ihm die 1850 Gramm Gold schwere, mit 76 Perlen und vielen Edelsteinen besetzte Krone überließ. (Der Kneipier: "Er hat mich nächtelang bearbeitet.") Der Künstler wollte die Krone nun von einem Kasseler Juwelier einschmelzen lassen. Dieser weigerte sich jedoch aus "berufsethischen Gründen". Daraufhin holte sich Beuys seine Krone mit den Worten ab: "Dann schlage ich die Krone eben selbst mit dem Hammer kaputt." Ungeachtet einer Unterschriftensammlung Kasseler Bürger zur Rettung der Krone erschien Beuys - wie in der von Veit Loers herausgegebenen Dokumentation berichtet - an besagtem Tag mit seinem Assistenten Johannes Stüttgen auf dem Kasseler Friedrichsplatz. Er packte die Krone aus einer Plastiktüte und hielt sie mit den Worten in die Höhe: "Es geht jetzt los! Es wird also jetzt die Krone Iwans des Schrecklichen eingeschmolzen. Ich zeige sie euch noch mal!"
Während Beuys dann eigenhändig begann, auf dem überdachten Holzpodest die Edelsteine mit einer Nagelschere aus der Krone zu polken, ließen die Zuschauer Protestrufe hören und warfen mit Eiern. Ungerührt schraubte Beuys das Kreuz von der Kronenspitze und tat es mit den Steinen in ein Einmachglas. Dann zerlegte er die Goldschale in sechs Teile, rollte diese trichterförmig zusammen, schlug sie mit einem Hammer platt und steckte sie in einen aus Ziegelsteinen gemauerten Ofen. Während das Gold erhitzt wurde, rief Beuys durch ein Megaphon: "Agrippa von Nettesheim!, Paracelsus!, Athanasius Kircher!" - die Namen großer Alchemisten - und zeigte das Einmachglas herum. Als das Gold geschmolzen war, wurde es in Hasenform gegossen.
Die Umwandlung durch Wärme ist im Beuysschen plastischen Denken eine zentrale Kategorie. "Unser Denken muss wärmer werden", forderte er. Beuys präsentierte dem Publikum dann einen goldenen Hasen in der Form eines Schokoladenosterhasen, wie man ihn überall kaufen kann. Zum Ende der documenta wurde das Werk für 777 000 Mark verkauft. Der "Friedenshase" befindet sich heute als Dauerleihgabe in der Staatsgalerie Stuttgart - eingemauert hinter Panzerglas. In einem Interview bemerkte Beuys zu der Hasenform, die sei ja nicht von ihm erfunden, er habe einen "anonymen Osterhasen" gegossen, das sei sozusagen "Volkskunst".
Um was es dabei ging, ist klar: Beuys hatte in einem quasi-alchemistischen Prozess symbolisch Macht in Fruchtbarkeit und Frieden verwandelt. Plastiktüte, Nagelschere und Einmachglas sind dabei Requisiten, welche die Nichtachtung der Macht und ihre Umwandlung mit den gewöhnlichsten Haushaltsmitteln deutlich zum Ausdruck bringen und in Verbindung mit der Bemerkung "Volkskunst" etwa besagen, dass das Volk zur tatsächlichen Umwandlung der gesellschaftlichen Machtstrukturen in friedliche Verhältnisse keiner besonderen Mittel bedarf. Und die Fruchtbarkeit des Osterhasen heißt für Beuys die Lebendigkeit der von Unterdrückung befreiten Kreativität: Leben. Beuys: "Ich glaube an den Menschen." Beuys, der auch an den berühmten Fluxus-Veranstaltungen teilgenommen hat, glaubte wie viele Künstler an eine fließende Kreativität, an permanente Umwandlungsprozesse. Eine der schönsten Plastiken von Barry Flanagan ist ein Hase, der mit seinen riesigen Füßen auf einem Helm steht. Die 1988 entstandene übermannshohe Bronzefigur gehört zu einer Reihe von Riesenhasen, darunter boxende, trommelnde, tanzende, springende, turnende, mit Stock und Teleskop wandernde. Und einer grübelt vor sich hin wie der "Denker" von Rodin. Aber es gibt auch eine Hasen-Plastik, die nach dem Vorbild mittelalterlicher Domskulpturen die Tugend darstellt. Die Großbronzen sehen aus wie geknetet, was ihnen viel Spontaneität verleiht. Die Hasen haben riesig lange Ohren, die ausdrucksvoll in verschiedene Richtungen zeigen, und ihre Köpfe sind manchmal ein wenig eselig.
Der 1941 in Wales geborene Künstler, Student und dann Professor an der renommierten St. Martin's School of Art in London, hatte als Bildhauer nicht-figürlicher Objekte schon in den 60er Jahren einen guten Namen, bevor er am 10. Februar 1978 in den Hügeln von Sussex einen Hasen sah, der - wie es in einem Katalog heißt - fröhlich von Osten nach Westen sprang. Ein Buch mit dem Titel "Der springende Hase" (Evans/Thomson, ed. Faber & Faber, 1972) festigte seinen Entschluss, große Hasen zu modellieren.
Der erste Hase entstand 1979 und wurde, mit goldenem Laub bekränzt, beim ersten Mondeslicht in einer kalten Januarnacht aufgestellt. Flanagan hatte mit dem Hasen eine Figur gefunden, die es erlaubte, den Menschen auf liebenswürdige Weise zu parodieren. Denn seine Hasen sind unverkennbar anthropomorph. Alle Figuren muten archetypisch an und wie in unvordenklicher Zeit entstanden. Keiner, der hinschaut, kann sich ihrer frechen Grazie entziehen. Flanagan hat ein Symbol für die Unbezähmbarkeit kreiert, für die Freiheit. Wie könnte anarchische Freiheit unprätentiöser und anmutiger dargestellt werden als durch einen übermütig tanzenden Hasen, die Freiheit, deren künstlerische Darstellung gewöhnlich nie ohne das schwerfälligste Pathos abging? Flanagans bezaubernde Hasen stehen überall in der Welt, sehr oft in Parks.
Für Beuys war der Hase Symbol der Bewegung, der Veränderung und des Friedens, bei Flanagan symbolisiert er die kreatürliche Freiheit, zu der natürlich die nicht unterdrückte Sexualität gehört. Die Nähe beider Auffassungen ist deutlich. Flanagans Hasen haben noch viel von der "Hasigkeit", der Liebestollheit, die ihnen immer nachgesagt wurde. Das alte Fruchtbarkeitssymbol lässt sich umstandslos als Zeichen für überschäumende Kreativität verstehen. Jeder Mensch sei ein Künstler, hatte Beuys gesagt. Um sich zu befreien, muss der Mensch über die Mächte triumphieren, die ihn gefangen halten: Flanagans Hase auf dem Helm und Beuys' aus einer Krone umgeschmolzener Friedenshase bringen das zum Ausdruck.
Diese Befreiung aus verkrusteten gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnissen ist - emphatisch betrachtet - durchaus eine Auferstehung von den Toten, ein Sieg des Lebens über den Tod, der zu Ostern von den Christen gefeiert wird. Flanagans Hasen in einer Kirche aufzustellen, wäre keineswegs blasphemisch: von der feierlichen Trauer über das Leiden und den Tod - am Karfreitag wird die Kreuzigung betrauert - würde der Akzent hoffnungsvoll auf die Freude über das Leben verschoben.
Aus Hoffmanns berühmtem Struwwelpeter kennen wir "Die Geschichte vom wilden Jäger". Dort kann man lesen: "Es zog der wilde Jägersmann sein grasgrün neues Röcklein an; nahm Ranzen, Pulverhorn und Flint und lief hinaus ins Feld geschwind. Er trug die Brille auf der Nas und wollte schießen tot den Has. Das Häschen sitzt im Blätterhaus und lacht den wilden Jäger aus."
Es fällt nun nicht schwer, die kleine Geschichte im Kontext der Bemerkungen zu Beuys, Flanagan und der Auferstehung zu erläutern. Der Jäger repräsentiert die tödliche Macht, der kleine Hase das Leben. Die Macht ist entschlossen, das Leben auszulöschen. Aber der Hase lacht wie "Der Unbesiegbare", der Beuyssche Hase, der so anständig ist, dem kleinen Schützen nicht eine runterzuhauen. Doch es bedarf der List. Das Häslein klaut dem schnarchenden Jäger die Brille und das Gewehr. Der kann nun nichts mehr sehen und nicht mehr schießen. Dem Hasen genügt die Hilflosigkeit des Mächtigen freilich nicht. Er vertraut nicht auf ein partnerschaftliches Nebeneinander von Leben und Macht. Er setzt des Jägers Brille auf und legt an, ist offenbar etwas welterfahrener als der Beuys-Hase. Der Jäger springt schreiend davon. Doch als der Hase tatsächlich schießt, allerdings daneben, denn er hat nur die Kaffeetasse der Jägersfrau getroffen, ist er offenbar zu weit gegangen. Weil: Seinem Kind, dem kleinen Has, "floss der Kaffee auf die Nas. Er schrie: ,Wer hat mich da verbrannt?' und hielt den Löffel in der Hand." Wohl wahr, wenn man sich so rabiat gegen die Unterdrückung wehrt, muss man auch an die Folgen für die eigenen Kinder denken.
Ob die Macht umgeschmolzen wird, ob man auf ihrem Helm herumtanzt, ob sie mit dem Gewehr vertrieben wird oder ob wir Ostern feiern: Die Grundtendenz ist dieselbe. Darum, liebe "Hasomanen" (Beuys): "Es lebe der Osterhase!"

Fotos von Hiroshi Sugimoto

Zombiehände

Ich interessiere mich nicht für lebende Menschen, sagt Hiroshi Sugimoto. Die monumentalen Porträts historischer Persönlichkeiten im Berliner Guggenheim-Museum erscheinen denn auch als die lebender Toter. Wächserne Haut tritt todesmatt aus den mit Perlen, Diamanten und Spitzen überladenen Gewändern der schönen, traurigen Frauen Heinrich des VIII hervor. Die unheimliche Wirkung von Zombies erreicht der japanische, in Kalifornien lebende Künstler, indem er Wachsfiguren der Madame Tussaud fotografiert, die ihrerseits nach Porträts von Hans Holbein und anderen geformt wurden.
Vier Realitätsebenen sind so ineinander verschränkt und in Sugimotos Fotos zu einer falschen, doch suggestiven Unmittelbarkeit verschmolzen: die reale Person etwa des Königs, das Porträt des Königs, die Wachsfigur nach dem Porträt des Königs und das Foto der Wachsfigur nach dem Porträt des Königs. Das reale Tuch der kostbaren Gewänder und das unechte Fleisch der Wachspuppen werden fotografisch auf dieselbe Realitätsebene transportiert. Der englische Herrscher und seine ungeköpften Ehefrauen schauen alle nach rechts.
Die übergroßen Figuren, schwarz-weiß fotografiert und vor schwarzem Hintergrund sind gegen visuellen Kontext verabsolutiert. Das konzentriert die Suggestion. Auf dem Foto der nach Vermeers arrangierten Musikstunde sieht man in dem über dem Spinett angebrachten Spiegel anstelle der Beine von Vermeers Staffelei die von Sugimotos Fotostativ. Besonders auf dem in einem Extraraum ausgestellten Abendmahl nach Leonardo, zu dem der Künstler die Wachsfiguren merkwürdigerweise in Japan gefunden hat, fallen die unmäßig großen Hände im Vordergrund und die winzigen Hände im Hintergrund auf. Die Kamera verzerrt die ausgebreiteten Arme der Apostel ins Groteske. So bleibt die Differenz zwischen Gegenstand und Darstellung unübersehbar.
Einige der Porträts sind komisch. Die streng blickende Queen Victoria sieht aus wie ein Transvestit, Elisabeth I. steckt in einem viel zu weiten Kleiderpanzer, auf dem rechten Ärmel ein pfötchengebendes Hermelin und von der durch ein Kettennetz geschützten riesigen Hand Henry V. stellt man sich leicht vor, dass sie schwer auf seinem Lande lag. Sugimotos ironisierende Fotos sind von allergrößter Präzision: „Wenn Sie genau hinsehen, können Sie in den Perlen ein Spiegelbild von mir mit der Kamera sehen.“ Totenstille strahlten schon Sugimotos Seestücke (Seascapes) aus oder die Dioramas mit ausgestopften Tieren. Die Fotos menschenleerer historischer Theater zeigen auf der Bühne ein weiß gleißendes Nichts.
Die Präsenz des Nichts und die Abwesenheit der Menschen lassen an den Tod denken. Mumifizierung und Musealisierung, das Leben im Tode, die Verewigung sind Sugimotos Thema, der den Grabstein für die allererste Kunstform in der Geschichte der Menschheit hält.
Bis 14. Mai 2000. Katalog 59 DM.

Indianische Kunst aus Ecuador

Die beflügelte Jungfrau
Eine Ausstellung in Den Haag zeigt alte indianische Kunst aus Ecuador

Es mutet ein wenig skurril an, wenn Indios Barockskulpturen schnitzen. Spanische Mönche hatten die Eingeborenen des heutigen Ecuador im 17. und 18. Jahrhundert gelehrt, nach Stichen und Kopien der großen Meister der sevillanischen Schule (Juan de Mesa 1583–1627, Alonso Cano 1601–1667) Heiligenfiguren zu verfertigen. Die Ausstellung Passie en devotie (Passion und Unterwerfung) zeigt im Museum Het Palais, Den Haag, zum erstenmal in Europa Werke der Schule von Quito, aus der Hauptstadt Ecuadors. Die vielfarbigen Skulpturen aus einheimischem Zedernholz wurden im späten 18. Jahrhundet zu einem Exportartikel. Doch haben sich die indianischen Künstler im oktroyierten Formenkanon der Europäer etwas an indianische Eigenart bewahren können?
Die Kunst des Barock entfaltete ihre messianische Inbrunst im Dienste der Gegenreformation auch in den Kolonien. Die Franziskaner, Domenikaner und Jesuiten, die nach Pizarros blutigen Eroberungszügen ihre Klöster in den Trümmern der Inka-Stadt errichteten, ließen die neuen Ordenskirchen mit einer unvorstellbaren Pracht ausschmücken, um die Unterworfenen von der Macht des katholischen Glaubens zu überzeugen.
Neben den anonymen indianischen Bildhauern, die zur Verbreitung des Glaubens die europäische Skulpturentypen tausendfach kopierten, haben sich Bernardo Lagarda und Manuel Chili, genannt Caspicara, einen Namen gemacht. Dem ersteren wird die ausgestellte Virgo immaculata zugeschrieben, die einen Drachen zertritt. Abweichend von der üblichen Ikonografie ist die Figur geflügelt: ein Zugeständnis an den Indianerglauben, der geflügelte Totemtiere kannte?
Von Caspicara ist die berühmte Mater dolorosa, das zarte Gesicht in verhaltener Trauer. Sie gehört zu dem Typus von Figuren, die bewegliche Arme haben und zu den großen Prozessionen wie Puppen mit kostbaren Gewändern und Geschmeide bekleidet werden. Wirkliche Tuche, Glasaugen, Kristalltränen und echte Wimpern hatte zur Steigerung seines expressiven Realismus schon Juan de Mesa verwandt. Die Bekleidung führte dazu, dass die Künstler oft nur noch Köpfe schnitzten, von denen einige ausgestellt sind. Viele dieser äde-vestir-Figuren wurden in Teilen verschickt und am Ort zusammengesetzt. Nach dem Vorbild von Alonso Cano, der in Spanien die Vielfarbigkeit in die Holzbildhauerei eingeführt hatte, haben alle Figuren aus Quito eine starke, doch keineswegs naiv-bunte Farbigkeit. Die Gesichtsfarbe ist lebhaft, die gläsernen Augen sind blau.
Mit Wunden übersät, geschunden und blutüberströmt sind die Christusgestalten. Den Leidens- und Todeskult des spanischen Barock haben die indianischen Künstler in der Darstellung des Gekreuzigten nachvollzogen, obwohl die präkolumbianische Kunst um Quito (z. B. die Kulturen von Manabi, Esmeralda und Carchi) solche Qualen nicht kennt. Den Kruzifixen ist darum die schöne, weiße, nackte Gestalt des Auferstandenen gegenübergestellt: das Leben wenn auch nach dem Tode. Bei einigen der liegenden Jesuskinder spielt die Hautfarbe ins Bräunliche. Wenigstens bei einem der drei graziösen Engel, die ganz Rokoko nur mit einem wehenden goldenen Röckchen und strumpfartigen Stiefeln bekleidet dahertänzeln, ist die Augenform uneuropäisch.
Offenkundiger ist das Indianische in dem vollen Gesicht und der gedrungenen Gestalt einer Heiligen Clara. Während man auf Bildern hier und da Landschaft und Vegetation der Anden erkennt, ist an den Skulpturen indianische Eigenart schwer auszumachen. Die barocke Körperhaltung mancher Figuren und das hingebungsvolle Leiden sind spanischer Art und den Indios fremd gewesen. Abweichungen in Gesicht und Körperproportionen vom europäischen Standard sind selten, doch manchmal werden die ikonografischen Vorgaben abgeändert. Die Jungfrau hat Flügel, und der Erzengel trägt Krone und Szepter. Eigentümlich die dekorative Überfülle floraler Motive.
Von überzeugender Eigenständigkeit aber ist eine kraftvolle Figur von Johannes dem Täufer mit einem dicken Schäfchen. Der anonyme Künstler hat sich von den Normen des Rokoko befreit: eine Arbeit vom herben Charme unserer rheinischen Madonnen. Mit dem Freihandelsgesetz (1778) hatte sich die Kunst vom Patronat und den Vorgaben der Kirche lösen können.

Museum Het Paleis, Lange Voorhout 74, bis 11. Juni 2000

Jorge Rodriguez Aguilar in Freiburg

Eierhandgranaten in Sirup. Arbeiten von Jorge Rodriguez Aguilar in Freiburg

30 Jahre Bürgerkrieg zwischen Drogenmafia, Guerilla und Regierung im Hinterhof der Weltmacht: Das genügt zur Normalisierung brutalster Gewalt. Gewalt findet in Kolumbien überall, nicht dann und wann, sondern immer statt. In der Kunst ist Gewalt zum großen Thema geworden. Verglichen mit Bruce Naumans schaurigen Metaphern oder Cindy Shermans manieristischen Horrorszenarien kommt der kolumbianische Künstler Jorge Rodriguez Aguilar sarkastisch zur Sache. 1997 war der 39-jährige Künstler durch eine Installation „De la lesna al changon – el pan nuestro de cada dia“ (Vom Messer bis zur Knarre – unser täglich Brot) im Berliner Haus der Kulturen aufgefallen, die im folgenden Jahr als „one man show“ der Galerie Ruta Correa auf der Art Frankfurt zu sehen war.
Die Freiburger Galerie zeigt nun die Installation in Form eines ärmlichen kolumbianischen Gemischtwarenladens in ihren Räumen. Hinter der Ladentheke hängen Schusswaffen aller Art, allerdings handelt es sich um „hausgemachte“ Waffen. Waffen sind Lebensmittel, heißt das, Mittel zum Überleben. Das Bedenkliche und Erschütternde daran ist, dass sich die Kreativität eines Volkes aufs Ersinnen von Mordwerkzeug kapriziert. Der Künstler hat die Waffen nachgebaut. In Sirup eingelegte Eierhandgranten; in Weckgläsern aufbewahrt werden sonst nur gute Dinge, Früchte, die man sich aufhebt für Zeiten, in denen es sie nicht gibt. Süße Granaten sind gute Granaten (Bonbons), die man seinen Freunden anbietet: den falschen Freunden, damit sie krepieren. Neben einer „Wachiman“-Mütze, der Kopfbedeckung eines Aufsehers in der Plantage oder dem Gefängnis, ein volksempfängerähnliches Radio: heiße Rhythmen, aber die Texte handeln von vergessenen Leichen am Straßenrand.
Von makabrer Poesie ist der Vogelkäfig in Form eines Maschinengewehrs, als Insasse ein hölzernes Singvögelchen: Gesang und Gewalt sind zu einer Metapher verquickt. Doch das Objekt hat sich ein hartnäckiger Sammler aus der Installation herausgekauft. Einfach ist das Symbol der waffenförmigen Kuschelkissen: man hat es sich im Morden gemütlich gemacht. Die in anderen Vogelkäfigen inhaftierten Plastikpistolen und Schleudern haben die Singvögel ersetzt. Nun sitzen die Killer, so die hoffnungsvolle Lesart. Die schlimme Lesart: die Singvögel sind zu Waffen mutiert.
Alles verwandelt sich in Gewalt. Doch die Zwillen in Freiheit sind durch kleine Schlösser unbrauchbar gemacht. So auch alle Feuerwaffen: mit einem Maulkorb, einem Lippenstift, einem Schnuller, einem Glöckchen. Das erinnert an die portugiesische Nelkenrevolution, in der die Mädchen die Gewehrläufe der Regierungssoldaten mit Blumen verstopften. Kann Gegengewalt im Ernst so harmlos sein? In einem großen Glas: Schokoladenrevolver. Im Regal ein Flaschenöffner als Pistole. Drückt man ab, fährt ein Kerl sein Ding in den Hintern einer Frau, die das „Tier mit vier Füßen“ macht. Wer als Kind süße Pistolen lutscht, wird sein Geschlechtsteil leicht als Schießprügel verwenden.
Der Künstler arbeitet inzwischen in Brasilien. In Kolumbien hat er es nicht mehr ausgehalten. An internationalen Standards gemessen, mag seine Kunst in ihrer bittersüßen, bunten Verspieltheit und komischen Aggressivität abseitig, provinziell wirken. Das Gemisch von agitativer Direktheit und Hintersinn ist ungewohnt. Für sich genommen, mögen einige Objekte weniger überzeugen, doch das Ganze erinnert an die frühen Berichte vom ungebrochenen Mut der Indios, die ihre Feinde noch im Angesicht des Todes mit Hohn übergossen.
Galerie Ruta Correa, Freiburg, Goethestraße 3. Bis 14. 1.2000.

Faun

Ist der schön!" rief Dorothee. Dr. Breitinger hatte eigentlich schon zu den Caesaren weitergehen wollen, um zu sehen, ob sie hier, in der Münchener Glyptothek, auch eine Portraitbüste von Vespasian hätten, dem römischen Soldatenkaiser mit dem breiten Bauernschädel. Der hatte die von den Juliern zerrütteten Staatsfinanzen unter anderem mit der legendären Urinsteuer saniert und zu diesem Zweck eigens staatliche Pissoirs errichten lassen. Daher das "Geld-stinkt-nicht". Breitinger mochte diesen Kaiser, der für seinen Witz berühmt war. Nun blieb er stehen.
"3. Jahrhundert vor Christi", kommentierte er, "eine der schönsten Skulpturen des Hellenismus." Bei Dorothee war er allerdings nicht sicher, ob sie an Stelle des Kunstwerks den Kerl selber meinte. Darum schob er seine Freundin, die als knackig zu bezeichnen er sich neulich verbeten hatte, da er Küchenterminologie für Menschen unpassend findet, an den gespreizten Schenkeln des Barberinischen Fauns vorbei mehr auf die rechte Seite hinüber und machte sie auf die Spitze des Pferdeschwanzes aufmerksam, der, von vorn nicht zu bemerken, zwischen der nackten Hinterbacke und dem Pantherfell hervorlugte.
"Es ist ein Faun!" meinte der Doktor mit Nachdruck und ging seinen Vespasian suchen. (Aber den gibt es dort nicht.) Was für ein Mannsbild! Dorothee hatte sich wieder in den Anblick des Nackten versenkt. Was würde, sinnierte sie, dieser schlafend hingegossene Waldmensch wohl tun, wenn er plötzlich erwachte und sie hier erblickte? Während sie ihn anstarrte? Das Glied hatte man ihm abgeschlagen vorn, aber an dem Übrigen konnte man sehen, dass es wohlgebildet gewesen war, nicht so ein spitziger Schweineschwanz, mit dem die Satyrn auf den griechischen Vasen herumliefen.
In Kassel, fiel ihr ein, gab es im Museum auf der Wilhelmshöhe die Zeichnung eines Fauns, der gebückt ein Gefäß umklammert, in das er sein Ding gesteckt hat, und verzückt daran horcht. Sie hatte lachen müssen. Was würde dieser prächtige Faun - es schien ihr, als könne sie seinen Atem hören - also tun? Davonspringen? Auf sie zustürzen, um ihr etwas anzutun? Oder zu fressen? Waren diese Faune nicht überhaupt Kannibalen? Oder würde er sie ansprechen in einer gurgelnden, erdigen Sprache? Sie würde nachher ihren Doktor fragen, der einmal Altphilologie studiert hatte und so was wusste.
"Wie du dir das vorstellst!" grinste Breitinger über seinem Cappuccino, höchst erfreut, gefragt zu werden. "Er würde natürlich fliehen und dich dann aus sicherem Abstand beäugen. Wahrscheinlich würde er aber davontorkeln, denn die Forschung ist der Ansicht, er sei berauscht. Faune trinken gern. Und da sie hemmungslos sind, ist die Annahme, dass sie saufen, bis sie umfallen, sicher richtig. Wärest du aber ein Mann, was du zum Glück nicht bist" – der Doktor fasste ihre Hand –, "würde er ein Stück weiter weglaufen und von dort deine Bewegungen nachäffen."
Und dann fuchtelte Breitinger in albernster Weise mit den Armen herum und schnitt dazu Grimassen. Die Schulkinder, die es sahen, kicherten verlegen. Denn das fanden sie uncool. Dorothee auch. "Faune machen sich über Männer lustig?" fragte sie.
"Nur über Machos. Schon auf den griechischen Vasen treiben sie mit den Waffen der Helden Unfug und spielen mit ihnen. Auf einem Bild von Botticelli zum Beispiel erwartet Venus schön gelagert, was Mars vergessen, buchstäblich im Kampf verschwitzt hat: Denn er schläft. Vier ziemlich mongoloid aussehende Fäunchen haben sich seiner Waffen bemächtigt, einer hat seinen Helm übergestülpt, ein anderer bläst dem schlafenden Kriegsgott mit einem Muschelhorn ins Ohr. Faune sind feige, friedlich und faul und arbeiten nie, es sei denn, um Wein herzustellen, für sich selber natürlich."
"Und sie laufen allen Frauen nach und wollen nur das eine..."
"Nun ja, sie sind Naturwesen. Sie sind zudringlich und unverschämt. Sie schleichen sich sogar an die Göttermutter heran, aber Herakles verscheucht sie rechtzeitig. Übrigens treiben sie es tatsächlich nur mit Nymphen, die es sehr mögen. Daher ,nymphoman'". Der Doktor grinste machomäßig. "Menschenfrauen gegenüber sind sie bei aller Zudringlichkeit aber sehr, sehr vorsichtig."
Dorothee lächelte, denn sie dachte an den großen Barberinischen Faun. Sie versuchte, sich seine Hände vorzustellen, erinnerte sich nun aber, dass er keine mehr hatte. Der Doktor sprach weiter. "Die Faune sind neugierig. Oft sieht man sie im Sinne des Wortes etwas entdecken. Sie ziehen nämlich schlafenden Mädchen die Decke weg, um sie genau betrachten zu können. Könnte solch ein Mädchen auf einem Gemälde die Augen aufschlagen, würde der Faun einen Bockssprung machen und davonrennen. Sie sind nämlich bei aller Zudringlichkeit ängstlich."
"Bockssprung?" fragte Dorothee. "Haben die nicht überhaupt Bocksbeine?"
Dr. Breitinger lehnte sich auf seinem Stühlchen zurück wie einer, der nun ausholen möchte. Dazu faltete er noch die Hände und schloss einen Moment die Augen. O Gott, dachte Dorothee, hoffentlich macht er es nicht gar zu gründlich. Lieber wäre sie noch einmal zu dem großen Faun zurückgegangen und hätte ihn einfach bloß betrachtet, nein: beobachtet.
"Die Satyrn auf den griechischen Vasen haben Pferdeschwänze und Pferdeohren: Sie sind Pferdemenschen und als solche mit den wüsten Menschenpferden, den Kentauren, verwandt. Die Archäologen nennen sie "Mischwesen". Bocksbeine hat Pan, der ja auch ein Bocksgesicht hat. Aber schließlich vermischt sich die Figur des griechischen Feldgottes mit den Satyrn, die mal mit Bocksbeinen, mal mit Menschenbeinen auftreten, Spitzohren und Bockshörnchen haben. Alte Satyrn sind - wie auf den Bildern von Rubens, Jordaens und van Dycks - glatzköpfig, dickbäuchig und versoffen. Man nennt sie Silene, nach ,Silenus'. So hieß der alte Erzieher des Dionysos."
Der Doktor holte Luft, bevor er fortfuhr. "Im Vatikan gibt es eine oft kopierte wunderbare Statue eines schlanken Silens von Lysipp, ohne Stülpnase und aufgeworfenen Lippen, der liebevoll ein strampelndes Kind wiegt: den kleinen Dionysos, den furchtbaren Vegetationsgott, der seine Gegner wahnsinnig macht oder in Weinstöcke verzaubert. Der Barberinische Faun wäre nach Darwin also ein fortgeschrittener Typ. Im Hellenismus werden sie immer menschlicher, obwohl schon Praxiteles . . ."
"Menschlicher? Heißt das etwa auch", unterbrach Dorothee, die dauernd an "Rubensfrau" denken musste, "dass die Menschen in sich das Animalische anerkennen?"
"Übrigens ist das rechte Bein von Bernini", sagte der Doktor, der sich nicht gern unterbrechen lässt. "Man ist nicht sicher, ob die Haltung, die Bernini ihm damit gegeben hat, die ursprüngliche war." Dorothee gähnte (Bernini. Bernini?), was Breitinger übersah. Doch ging er auf seine Weise auf die Frage ein.
Man wisse ja zunächst nicht, erinnerte er seine Freundin, dass es sich bei der Figur um einen Faun handele, so menschlich sehe er aus. ("Seine Stellung", sagt A. Furtwängler 1910, "drückt eine von jeglicher Rücksicht freies Sichgehenlassen aus. Die Beine sind gespreizt.") Als Mensch betrachtet, musste die Skulptur also ungeheuer provokativ gewirkt haben. Dadurch, dass der Faun schlafe, werde der Betrachter oder die Betrachterin zum Voyeur mit allen Implikationen. Das heißt, der hellenistische Bildhauer sei sich der Zumutung durchaus bewusst gewesen. Erst wenn er die Skulptur auch von der rechten Seite betrachtet und das Schwänzchen erkannt habe, werde so mancher Herr erleichtert geseufzt haben: "Gottlob, er ist ein Tier!" Dorothee lachte.
Der Künstler, ergänzte Breitinger, habe sich die Frivolität leisten können, weil der Faun eben nicht als Mann angesehen werden könne, obwohl er so aussehe. Denn Männer lägen nicht so hingegeben als Objekte für die Augen anderer, womöglich gar von Frauen. Auch darum übrigens habe man diesem so menschlich anmutenden Faun einen Weinbecher angedichtet, der ihm aus der Hand geglitten sei. Er sei offensichtlich nicht Herr seiner selbst und damit als Mann nicht ernst zu nehmen.
"Vielleicht eine andere Sorte", meinte Dorothee.
"Andere Sorte? Er sieht tierisch dumm aus."
"Eher wie ein junger Bauernbursche. Er hat kein edles Gesicht, sicher, er ist ein Mann aus dem Volk. Wahrscheinlich ist er sehr lustig und tanzt gern."
"Ja, bis zum Umfallen. Übrigens ist er im Ernst kein Mann, Doro, sondern ein Naturwesen. Er ist unkultiviert. Wenn er Trauben frisst, läuft ihm der Saft übers Gesicht. Die Faune sind maßlos. Kultur besteht bekanntlich im Maßhalten, in der Angemessenheit. Faune sind gierig. Sie kriegen nie genug." Dorothee hing ihren Vorstellungen nach. Dr. Breitinger, der noch einen Cappuccino bestellte - er sagte "Cappuccio", was sie peinlich fand -, war etwas heftig geworden. Er war ärgerlich. "Ich weiß nicht", meinte Dorothee unbestimmt.
Der schlafende Faun (aus parischem Marmor) wurde bei den Umbauten, die Papst Urban VIII. Barberini in den Jahren 1624 bis 1641 an den Befestigungsanlagen der Engelsburg vornehmen ließ, zwischen Resten antiker Skulpturen gefunden. Faunus ist ursprünglich ein Gott der alten Kultur von Latium, der Gegend um Rom. Er ist ein Erdgott, Schützer von Ackerbau und Viehzucht. Sein Name leitet sich her von dem lateinischen Wort "favere" (begünstigen). Der Papst ließ die überlebensgroße Statue in den Palast seiner Familie am Quirinal bringen, wo sie größte Bewunderung erregte.
An der Statue fehlte Verschiedenes, namentlich das ganze rechte Bein und der linke Unterarm, die wahrscheinlich von dem Barock-Bildhauer Bernini ergänzt worden sind, der bei den Bauten des Papstes als Architekt tätig war. "Aus Scheu vor dem Werk des anderen Großen (H. Walter, 1993) vervollständigte er den Torso bloß in Gips. Ein gewisser Vincenzo Piacetti, Bildhauer von Beruf und Kunsthändler, der die Statue der Familie Barberini 1799 abkaufte, also etwa 150 Jahre nach der Ausgrabung, scheute sich nicht, Berninis respektvolle Ergänzungen abzuschlagen und durch Marmor zu ersetzen. Er wollte ein gutes Geschäft machen.
Der Satyr "ist weinschwer auf einen Felsen gesunken und schläft unruhig, den Arm über dem Kopf", schreibt Lippold im Handbuch der Archäologie 1950. Und Reinhard Lullies 1979: "Eine Gestalt aus dem mythischen Gefolge des Dionysos... Größte Bewunderung hat insbesondere der Kopf des Barberinischen Fauns hervorgerufen mit den breiten Backenknochen und den mageren Wangen, mit den eingefallenen Augen unter geraden, in der Mitte fast zusammengewachsenen Brauen, dem leicht geöffneten Mund und den breiten Nasenflügeln. Man glaubt, die schweren, gleichmäßigen Atemzüge des Schlafenden zu hören, der in die Tiefe seiner Traumwelt versunken ist. In dem einsamen Schläfer hat der Künstler, einer der bedeutendsten Bildhauer des späten 3. Jahrhunderts v. Chr., ein großes und tiefes Bild der Natur gestaltet, das über jeden Naturalismus hinausgeht."
Um 1500 besaß Andrea Riccio in Padua eine weit berühmte Werkstatt, in der Kleinbronzen hergestellt wurden. Auf Satyrn war er spezialisiert. Er stellte sogar ganze Satyrnfamilien her. Kein "studiolo" eines Renaissancefürsten oder eines humanistischen Gelehrten, das nicht auch ein Faun zierte, in dienender Haltung, als Bestandteil eines Schreibgeräts oder als Lampenhalter. Denn als Symbol der niederen Triebe musste der Faun in Knechtschaft gehalten sein. Noch heute findet man in Rom an Toreinfahrten eiserne Prellböcke in Form eines Fauns, der seinen Unterleib vorwölbt: Diese verwundbare (unreine!) Seite streckt der Ärmste den Wagenrädern entgegen.
Ursprünglich selbstständige Dämonen, die über ein dem Menschen verschlossenes Naturwissen verfügen, dienen die Satyrn dann dem efeubekränzten Dionysos, dem Jahr für Jahr neu geborenen Frühlingsgott, dessen Erscheinen die Natur zu neuem Leben erweckt. Im Gefolge des märchenhaft zarten, doch mächtigen Gottes torkeln sie zwischen den schlangenumgürteten Mänaden, die in orgiastischer Ekstase die Opfertiere zerreißen und roh verschlingen, trunken und lärmend dahin. Die Menschen trachteten die Satyrn zu fangen, um ihnen ihr Wissen abzupressen. Auch der bocksbeinige und bärtige Hirtengott Pan, ebenso geil wie die Satyrn und der Erfinder der Onanie, der den Athenern einst in der Schlacht bei Marathon beistand, indem er den Persern durch sein Auftauchen einen "panischen" Schrecken einjagte, ist ein Begleiter des Dionysos.
Die Satyrn, schreibt Dieter Blume 1985, "vertreten die Naturkräfte, die ungebändigten Triebe, die vollkommen dem Irdischen verhaftet sind und die von der Möglichkeit des menschlichen Geistes, dem Kreislauf von Werden und Vergehen zu entkommen, ausgeschlossen sind." Zur Unterwerfung der inneren Natur, der Triebe, der Sinnlichkeit, verbündeten sich Humanismus und Kirche: Der pferdehufige und gehörnte Satyr ist das Vorbild für den christlichen Teufel.
Im Jahrbuch des Archäologischen Instituts aus dem Jahre 1901 findet sich eine Art Anleitung zur richtigen Betrachtung des Barberinischen Fauns. "Welches ist die Hauptansicht des Satyrs?" fragt H. Bulle. "Bei der jetzigen Aufstellung wird der Beschauer zuerst der Statue so gegenübergeführt, dass er den Rumpf des Satyrs sich gerade gegenüber hat... Aber der feinfühlige Betrachter wird in dieser Blickrichtung zwischen den hässlich gespreizten Beinen (sic!) hindurch etwas Brutales empfinden, das sonst der Antike fremd zu sein pflegt... Endlich aber wird er das Bedürfnis fühlen, zu einer besseren Ansicht des vollendetsten Teiles dieser Statue, des Kopfes, zu gelangen... Dieses Bedürfnis wird ihn weiter nach rechts führen", bis er nämlich den Fohlenschwanz entdeckt hat und endlich weiß, dass es sich nicht um einen echten Mann handelt. Gottlob, er ist ein Tier! Genauso hatte es auch der Dr. Breitinger gemacht, ohne diese Anweisung je gelesen zu haben.
Die Statue des schlafenden Fauns hat einstmals in den Gärten Kaiser Neros längs des Tibers gestanden. Nun stand der Faun bis Ende des 18. Jahrhunderts im Palazzo Barberini. Als der kunstsinnige Kronprinz Ludwig von Bayern im Jahre 1805 nach Rom kam, um für seine Sammlung einzukaufen, war er von der Statue so beeindruckt, dass er sie unbedingt zu besitzen wünschte. Die Verhandlungen waren zäh und zogen sich hin. In den Rechtsstreitigkeiten nahm der klassizistische Bildhauer Antonio Canova die Partei der Familie Barberini, sein ebenso berühmter Konkurrent Thorvaldsen versteckte die Statue für den bayerischen Prinzen.
Der Streit um den Faun wurde zur nationalen Angelegenheit, bis die Fürsprache der österreichischen Kaiserin für ihren in den Faun verliebten Bruder den Ausschlag gab. Am 10. August 1816 endlich gelangte der schlafende Satyr, "unverpackt, auf den Schultern von 64 Trägern in das Magazin des Kronprinzen... Aber es dauerte bis zum 6. November 1819, bis es so weit war, dass die Kiste, mit dem päpstlichen Siegel versehen, aufgeladen werden konnte. 9 Maultiere zogen den Wagen über die Alpen, bei jeder Steigung mussten Ochsen vorgespannt werden. Am 19. Dezember war der Zug glücklich in Kufstein angelangt" (Bulle). Aber ach: Der Faun war zu schwer für die Brücke über den Inn. Eine Notbrücke wurde gebaut, wie zum Übergang der Artillerie.
"Na gut", meinte Dorothee versöhnlich, "mögen sie ein bisschen dumm sein, die Faune, so sind sie doch friedlich. Und ich mag friedliche Männer", setzte sie süffisant hinzu, denn ihr Doktor war ein Streithammel.
"Also, so friedlich sind sie nicht und auch nicht dumm. Nimm etwa Marsyas, den vielleicht berühmtesten aller Satyrn. Er forderte sogar den göttlichen Apoll zum Wettstreit heraus."
"Du meinst, er wollte mit einem Gott kämpfen?"
"Ja, aber mit einem Musikinstrument. Marsyas spielte die Doppelflöte. Der Sage nach hob er sie auf, als Athene sie wegwarf."
"Wegwarf, warum?"
"Als sie darauf blies, schwollen ihr die Backen, und sie sah hässlich aus. Da warf sie die Flöte fort. Es gibt von der Szene eine wunderbare Gruppe von Myron, eine Reproduktion steht im Garten des Frankfurter Liebieghauses, vergoldet." Dr. Breitinger lehnte sich zurück, um wieder mal weiter auszuholen.
"Dieser Flöte entlockte Marsyas leidenschaftliche, berauschende Töne, während die Lyra des Apoll als Instrument der Himmelsmusik galt."
"Sphärenklänge", meinte Dorothee spöttisch, denn Breitinger redete wie im Schulfunk.
"Es ging also um irdische Leidenschaft gegen göttliche Rationalität. Und es wurde zuvor ausgemacht, dass der Gewinner mit dem Verlierer machen könne, was er wolle."
"Wer war Schiedsrichter?" fragte Dorothee.
"König Midas."
"Der mit den Eselsohren?"
"Die hat er erst dafür bekommen, dass er Marsyas für den besseren Musiker hielt."
"Also hat Apoll gewonnen", sagte Dorothee. "Was hat er mit dem Satyr gemacht?"
"Ihm die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen."
Dorothee dachte an den Barberinischen Faun und schüttelte sich. Der Gott, erklärte Dr. Breitinger, habe diese Schindung aber nicht selber vollzogen, sondern damit einen Skythen beauftragt. Die Skythen waren für ihre Grausamkeit berühmt. Dieser Skythe stehe als so genannter Schleifer (arrotino) in vielen Museen, das Original in den Uffizien. Man habe diese Skulptur wegen ihrer außerordentlichen Qualität lange für ein Werk Michelangelos gehalten.
Nach Ansicht der Archäologen schaue der seine Sichel wetzende Schleifer sich nach dem stöhnenden Marsyas um, den er an den Handgelenken an einen Baum gehängt hat. Es gebe zwei Typen des Marsyas: Der weiße Marsyas ergebe sich in sein Schicksal, der rote bäume sich auf. Man habe lange nicht gewusst, dass der weiße Marsyas und der Schleifer zusammengehören. Ovid lasse den gequälten Satyr in seinen "Metamorphosen" (VI, 385) ausrufen. "Quid me mihi detrahis?" ("Warum entreißt du mich mir selbst?") Damit werde gesagt, dass die irdische Hülle unter Schmerzen abgestreift werden müsse, um zu einer höheren Erkenntnisform zu gelangen.
"Was heißt hier höhere Erkenntnisform!" ereiferte sich Dorothee. "Er ist doch nach dieser Prozedur wohl tot?"
"Gewiss", sagte Dr. Breitinger. "Tot, aber geläutert. Übrig bleibt von dem geschundenen Körper die reine Seele."
"Find ich echt Scheiße!" meinte Dorothee und warf unwirsch ihre roten Haare zurück, bevor sie aufstand. Dr. Breitinger nahm sie sanft am Arm, um sie zum Ausgang zu führen. Er fand seine junge Freundin traurig, aber sehr schön.
"Geläutert!" meinte Dorothee wegwerfend und fasste ihren Doktor irdisch fest am Arm.
"Auch ich bin primitiv! Auch ich!" dachte Breitinger triumphierend.