Kategoriearchive: Text in der Frankfurter Rundschau

Übergrößen

Neue Litfaßsäulen

Sie hatten der Litfaßsäule, auf der ich nachsehe, ob es neue Filme gibt, ein Kondom übergezogen. Beeindruckend. Und nun machen sie aus der Litfaßsäule riesig den roten Klebstift, den ich verwende, weil die Kuverts so schlecht schmecken. (Übrigens: wenn es Kondome gibt, die nach Lakritze schmecken, warum nicht eher Kuverts?) Die Idee, das Ding, für das geworben wird, vollplastisch in Übergröße selbst auftreten zu lassen, ist nicht neu. Aber was ist heute noch neu.
Werbeleute sind der Kunst manchmal dicht auf den Fersen. Anstatt ihr Produkt und die Welt abzubilden - die selektive Abbildung der Welt war von Giotto bis zu den Schinken des sozialistischen Realismus Aufgabe und Mühsal der abendländischen Malerei - und anstatt das Ding, das sie bewerben, auf die Straße zu stellen nach Art eines Denkmals, satteln sie das Produkt auf schon Vorhandenes auf.
Sich des Vorhandenen zu bedienen statt Neues in die überfüllte Welt zu stellen, wie es Avantgardisten der Moderne bis in die 60er Jahre wollten, ist eine Haltung der Postmoderne. Man arbeitet mit dem Vorgefundenen, eine Einlassung in das, was schon da ist. Aufgegeben ist die Selbstbezüglichkeit, welche die Autonomie der Kunst auf die Spitze getrieben hatte. Kunst - wie verquer auch immer - bezieht sich wieder auf die Welt. Oder wie im Rodeo: der Stier wird wieder geritten. Oft mit den üblichen Folgen des Rodeos.
Das Kondom nach Art eines Ballons schweben zu lassen ist doof. Den Klebstift auf die Straße zu stellen ebenso. Die Litfaßsäule, die dort auf der Bockenheimer immer steht, mit dem Pariser zu verhüllen, ist witzig: weniger wegen der (Alp-)Traumgröße, als darum, daß man mir anstelle des Kinoprogramms die Botschaft gibt "Vergiß es! Das Kondom ist viel, viel wichtiger!" Und die Litfaßsäule als Klebstift: "Was soll die Werbung, hier bin ich selbst, und zwar riesig! Aber auf der für Werbung vorgesehenen Litfaßsäule!" Das Geistreiche dieser Haltung besteht darin, im Rahmen zu bleiben, aber ganz groß.

Paul Maenz

Das Tor zur Weltkunst. Warum Paul Maenz seine Sammlung Weimar gab

Haben nicht Ludwig, Buchheim, Nannen ihre Stiftungen an ihrem Wohnsitz oder an der Stätte ihres Wirkens untergebracht? Als Paul Maenz zur Verblüffung der Kunstwelt seine 1970 in Köln gegründete, renommierte Avantgarde-Galerie genau nach 20 Jahren auf dem Gipfel des Erfolges schloß, machte er noch einmal klar, daß er seine Galeriearbeit einer anspruchsvollen Gestaltung unterworfen hatte. Er habe, sagte er, die Galerie in die Welt gesetzt, und er habe daher auch die Pflicht, sie selbst und bewußt wieder herauszunehmen. Selbstbestimmter Anfang, selbstbestimmtes Ende. Maenz hat seine Galeriearbeit reflektiert und mit moralischem Anspruch betrieben. Läßt sich an seiner Weimarer Stiftung diese Haltung noch wiedererkennen? Heute, da wir alle ironisch sind?
Maenz glaubte immer an die subversive Kraft der Kunst – trotz der Einvernahme durch den Markt. Denn gute Kunst, meinte er, sei ihrem Wesen nach subversiv. Mittlerweile ist das Neue Museum Weimar eröffnet worden, um die Sammlung Paul Maenz aufzunehmen. Die Lobreden zum außerordentlichen Ereignis sind verklungen, Weimar hat mit Feuerwerk und Luftakrobaten begonnen, seine Rolle als europäische Kulturhauptstadt des Jahres 1999 zu spielen. Das Museum muß nun zeigen, was es leisten kann.
Herbert Marcuses berühmter Satz, die Schönheit der Kunst sei – anders als die Wahrheit der Theorie – verträglich mit der schlechten Gegenwart, eine Feststellung, mit welcher die radikalen Intellektuellen Ende der sechziger Jahre die Kunst generell unter Ideologieverdacht stellten, hielt Maenz nicht vom Glauben ab, "daß die Kunst eher offenlegt als überdeckt, nicht zur Tarnung der Verhältnisse, sondern zur Einsicht führt".
Paul Maenz, der andererseits kein Geheimnis daraus macht, daß er weiß, daß die Mark rund ist, verstand sich bei der Veröffentlichung von Kunst stets als Beteiligter: "Zusammen mit den Künstlern, gemeinsam, bildeten wir den Raum, in dem sich das Neue zum ersten Mal zeigen konnte." Seine Galerie sah er als den Ort, wo das Kunstwerk erst wirklich zur Welt kam. "Der erste Schritt des Werks führt in die Galerie, was man sich ruhig wie eine Geburt vorstellen darf." Zwischen der Kunst, die er vertrat, und der Galerie, die er konzipiert hatte, sah er eine Ähnlichkeit: "Ihr Wesen ist dem der Kunst verwandt, und das heißt: Veränderung." Veränderung, die Vorstellung, Kunst werde sich im Bewußtsein der Menschen nachhaltig verhaken, ist, wie ich glaube, auch die Leitvorstellung des Stifters gewesen, seine Sammlung nach Weimar zu geben.
Die Impulse, die Weimar zu einem kulturellen Mittelpunkt werden ließen, kamen meist von außen, was bei einer Kleinstadt nicht weiter wundert. Wieland, Goethe, Schiller und Herder hatten hier die deutsche Klassik begründet, in welcher die Stadt schließlich erstarrte. Zu Anfang des Jahrhunderts brachte Harry Graf Kessler als Direktor des Weimarer Museums die Welt der Moderne in die verschlafene Stadt: die französischen Impressionisten, Rodin. Die Aktzeichnungen aus dem Lande des "Erbfeindes" machten Skandal und zwangen Kessler zur Demission. Zwei Jahrzehnte später scheiterte hier das junge Bauhaus. Walter Gropius übersiedelte nach Dessau. Die Künstlerkolonie war der Bevölkerung verhaßt.
Bereits 1924 war Weimar eine Hochburg der Rechtsradikalen. 1926 hielten die Nazis hier ihren ersten Reichsparteitag ab, auf dem sie sich zu Goethe und Schiller bekannten, "zu der großen deutschen Vergangenheit". Die wahre Hölle wurde im Jahre 1937 auf dem Ettersberg angelegt, einem nur wenige Kilometer von Weimar gelegenen luftigen Hügel, wo Goethe und die Herzogin Anna Amalia im Sommer einst hatten Lustspiele aufführen lassen: das KZ Buchenwald. 1950 benutzten die Kommunisten das ehemalige KZ als Internierungslager für Nazis und Unschuldige. Hitler ließ in seiner Lieblingsstadt direkt vor dem Museum das sogenannte Gauforum für Volksaufmärsche errichten, der Bau verkam in den Zeiten der DDR. Seine Sprengung soll die Furcht verhindert haben, zusammen mit dem Gebäude auch eine tonnenschwere, nicht transportable Skulptur des Olympiers in die Luft jagen zu müssen, was man wohl nicht nur im Westen für "typisch kommunistisch" gehalten hätte.
Und nun Paul Maenz, – "le genereux", der Großzügige, wie ein französisches Magazin titelte. "Wirklich glaubwürdig kann man nur sammeln", sagt der Stifter, "wenn man bereit ist, alles wieder herzugeben. Alles andere ist Spekulation." Maenz weiß, daß Kunst ihrem Wesen nach nicht für Auserwählte, sondern für alle gemacht wird. Die materielle Aneignung des Sammlers ist bloß eine obsessive Abart geistiger Aneignung. Das Museum ist das erste für moderne Kunst in den neuen Bundesländern, deren Bewohner nicht nur unter den Nazis, sondern auch in dem direkt nachfolgenden kommunistischen Regime, d. h. von 1926 bis 1989, von allen wichtigen Entwicklungen der Kunst abgeschnitten waren. An die entschieden kosmopolitische Haltung Goethes anschließend, präsentiert sich das Museum gegenüber den völkischen Reminiszenzen des nationalsozialistischen Realismus wie des auf die "Abbildtheorie" eingeschworenen sozialistischen Realismus als offenes Tor zur Weltkunst, einer Kunst, die sich der Politik nicht unterwirft, einer Kunst, die autonom, also im besten Sinne frei ist. Im Gegensatz zu nationalsozialistischer und realsozialistischer Staatskunst, deren Unterwerfung unter den Willen der Macht an ihrer Vereinseitigung leicht erkennbar ist, wird im Neuen Museum eine Vielzahl von Perspektiven vorgeführt. Hier ist zu besichtigen, was draußen in der Welt inzwischen geschehen ist.
Maenz hat sich mit Weimar/Buchenwald für den Auftritt der Weltkunst einen sehr deutschen Ort gewählt. Erkennbar wird ein kulturpolitisches Konzept. Genau an dem Ort, an dem sich der zum Klischee gewordene Doppelcharakter der Deutschen in Klassik und KZ manifestiert hat, an dem Ort, wo selbstgerechte Provinzialität sich gegen die Anfechtungen urbaner Internationalität sträubte, an dem Ort, der schließlich für viele Jahrzehnte von der Welt abgeschnitten war – das Schlimmste, was einem in der Welt berühmten Ort des Geistes zustoßen konnte – und genau zu dem Zeitpunkt, da dieser Ort als Kulturhauptstadt 1999 wieder seinen alten Rang zurückzuerobern sucht, hat Paul Maenz positioniert, was vielleicht als eine Botschaft gelesen wird: Freiheit und Vielfalt in der Kunst als Einspruch gegen Anpassung und Nivellierung. Kreative Freiheit und Vielfalt sind Dimensionen der Autonomie, sie ist subversiv, weil sie die Vorstellung vom Andersartigen nicht preisgibt. Darin liegt ihre Sprengkraft.

Frankfurter Rundschau, 25.01.1999, S. 12

Engel

"Das ist ein hübscher Engel!" ruft die Kleine und deutet auf die splitternackte Porzellanfigur.
"Nein, das ist kein Engel!" erwidert die Tante bestimmt.
"Aber er hat doch Flügel!"
"Ein Engel benimmt sich nicht so!" antwortet die Tante, die sich durch die Flügel nicht irritieren läßt. Die Tante hat recht: Engel sind zwar nackt - übrigens nur die kleinen -, aber sie schießen auf keinen Fall Kobolz.
Die beliebtesten Engelchen sind heute die beiden mit den aufgestützten Armen, die ein wenig skeptisch von unten her der auf Wolken schwebenden Sixtinischen Madonna zuschauen (Raffael, Gemäldegalerie Dresden). Auf einem Poster halten sie Kaffeetassen in der Hand. In der sienesischen Malerei des Trecento flattern die Paradiesvöglein noch ohne Unterleib herum und erinnern mit ihren langen, am Kopf ansetzenden Flügeln an Schwalben. Ein Jahrhundert später umschwirren sie scharenweise verganzkörpert und unten ohne die heilige Handlung - etwa bei Corregio. Im Unterschied zu ihren großen, stets würdevoll bekleideten Artgenossen, welche an der Handlung teilnehmen wie der gewaltige Verkündigungsengel oder die dienstbaren Engel, welche die Seelen in den Himmel emporheben, sind diese kleinen nur heiteres Dekor. Sie dürfen Schriftrollen und Kerzen halten, Vorhänge raffen oder Blumen streuen. In Schwärmen auftretend vermitteln sie eine heiter-liebliche Atmosphäre. Wie heiter auch immer, Kobolz schießen sie nicht, und sie strecken dem Betrachter nicht den Po entgegen.
Solche Schamlosigkeiten leisten sich nur Amoretten oder Eroten, die im Hellenismus erfunden wurden und besonders in der Kunst des Barock und des Rokoko immer dann zugegen sind, wenn Liebe in der Luft liegt. Als Vervielfältigungen des kleinen Amor, darum männlich, aber ohne Köcher und Pfeil, umspielen sie die Liebespärchen. Ihr kindlicher Körper steht für Unschuld. Daher wissen sie nicht, was gut und böse ist, und dürfen neugierig, mutwillig und ungeniert nackt sein und Kobolz schießen. Sie sind amoralisch, schamlose Lustvöglein ohne die Probleme des Sündenfalls. Alles ist ihnen erlaubt, was der Moralkodex den irdischen Erwachsenen verbietet.
Die Eroten necken die Verliebten, wenn sie an den verhüllenden Schleiern zupfen, und spornen sie an. Die Amoretten verweisen auf die Freiheiten der Liebe, auf eine anarchische, spielerische Gegenwelt. Sie treiben allen möglichen Unfug. Die Flügel kennzeichnen sie als nicht ganz von dieser Welt: Eroten sind wie die Engel Zwischenwesen, die zwischen Himmel und Erde hin- und herfliegen und zwischen den Göttern und den Menschen vermitteln. Nicht erdgebunden und von zweifelhafter Realität, entschwinden sie schnell. So deuten sie das Unbeständige der Verliebtheit an.
"Putten" werden die Kindlein ohne Flügel benannt. Doch ist diese Sprachregelung nicht streng. Wie sollte sie auch angesichts ihres übermütigen Gegenstandes. Es gibt also Putten mit und ohne Flügel. Von den Eroten unterscheiden sie sich eben dadurch, daß sie in anderen Themen auftauchen. Es gibt auch bekleidete und verkleidete Putten, wie man sie etwa aus den Gartenanlagen des Barock und Rokoko kennt. Sie sitzen nackt auf Terrinendeckeln und Uhrgehäusen, Spiegeln und Tafelaufsätzen. Die Aura des Zwischenwesenartigen fehlt den flügellosen Putti. Sie sind irdisch. Sie kamen in der Frührenaissance wieder auf. Donatellos und della Robbias Sänger-Kanzeln (Dommuseum Florenz) gelten als möglicher Anstoß.
In den Kleidern von Erwachsenen wirken Putti zwar niedlich, doch haben sie auch etwas von der Unschuld verloren, die durch ihre Nacktheit glaubhaft war. Schon im Rokoko findet man Putten, die kokett mit den Tüchern spielen, die ihr Geschlecht verbergen. Im bürgerlichen 19. Jahrhundert schließlich, das in der Erotik und Sexualität so verklemmt war wie kein anderes, gibt es sehr zweideutige Kinderdarstellungen. Die Figur des kleinen Mädchens, das den Rock schürzt, in welchem es Blumen trägt, und derart seine naiv gestellten Beinchen entblößt, während es den Finger der rechten Hand in koketter Nachdenklichkeit an die Lippen legt, ist ein Typ pädophiler Kitschfiguren, die mit dem mutwilligen, kobolzschlagenden, frechen Eroten nichts zu tun hat. Amoretten und Putti sind anmutig, doch nicht lasziv. Nackt und geflügelt, bleibt die Amorette lediglich Symbol.
Die Amorette sollte in der Tradition der Tischdekorationen aus Porzellan, die in Barock und Rokoko als kleines "divertimento" Anlaß für eine witzige Bemerkung sein konnten, zwischen den Gedecken herumtollen. Und je nachdem, ob ein Gast amüsiert ist oder pikiert - wozu auch das Ignorieren zählt, weiß man besser, mit wem man es zu tun hat.
Als heiterer bis ironischer Zierat zum Schönstehen waren Porzellanfigürchen nicht nur in adligen, sondern auch in bürgerlichen Haushalten beliebt. Die Motive schäkernder Liebespaare atmen die Sinnenfreude des Jahrhunderts, in dem Böttger und Graf von Tschirnhaus das von den Chinesen in Ching-te-chen seit Marco Polos Zeiten gehütete Geheimnis (das Arkanum) des echten, hartgebrannten Porzellans durch eigene Experimente entdeckten (1708). In Barock und Rokoko nahmen die Porzellanmanufakturen ihren Aufschwung, unter Schirmherrschaft der hochverschuldeten Landesfürsten, die sich mit dem "weißen Gold" eine neue Geldquelle zu erschließen hofften. Porzellan wurde den absolutistischen Potentaten der deutschen Zwergstaaten, die mit den großen französischen Louis glaubten wetteifern zu müssen, zum "nothwendigen Attribut des Glanzes und der Würde". Die Vernarrtheit in Porzellan ging so weit, daß August der Starke, der die Manufaktur in Meißen begründete, dem preußischen Soldatenkönig 600 "Kerls" für ein paar chinesische Vasen gab, in die er sich verguckt hatte. Und der Alte Fritz machte mit seiner Berliner Manufaktur Gewinn, indem er zum Beispiel jüdischen Bürgern nur dann eine Heiratserlaubnis erteilte, wenn sie für 600 Taler Porzellan kauften.
Die Porzellanfigürchen sind Multiples, niedlich klein und angenehm anzufassen, ihr Anspruch ist - im Unterschied zur Kunst - aufs Gefällige beschränkt. Sie bedienen ohne tiefere Bedeutung den Schönheitssinn. Die Bedeutungen waren oft allegorischer Art. In bewußter Oberflächlichkeit dienten die Nippesfigürchen als Intermezzo für das Auge. Ihre Motive waren oft mythologischer, mehr oder weniger erotischer Natur. Mitunter wirken die kleinen Ensembles auf modernste Weise witzig: etwa wenn der Hut des Liebhabers an der Spitze einer abstrakten Rocaille hängt und damit angedeutet ist, daß es sich bei der dargestellten Szene keineswegs um eine Abbildung der Wirklichkeit handelt.
Im Belvedere zu Weimar, von dessen Salon aus die Fürstenmutter Anna Amalia auf die Residenzstadt ihres Sohnes Carl August von Weimar hinabblicken konnte, stehen heute Vitrinen mit hübschem Porzellan. Nicht von ungefähr: Denn vermutlich befanden sich im Schloß einst auch die Versuchsräume, in denen die vom Herzog Ernst August engagierten Arkanisten dem Geheimnis des "ächten" Porzellans auf die Spur kommen sollten. Aber es wurden nur Fayencen. Unter den heutigen Ausstellungsstücken sind auch einige aus der "Aeltesten Volkstedter" Manufaktur im nahen Rudolstadt, in welcher der freche Putto mit dem nackten Po hergestellt wird.
Immerhin 35 Kilometer trennen die heute etwa 35 000 Einwohner zählende ehemalige Residenzstadt derer von Schwarzburg-Rudolstadt von der Stadt der Dichter: eine halsbrecherisch kurvenreiche Berg- und Talfahrt auf der Bundesstraße 85, über der sich starke Buchen stellenweise wie zu einer grünen Röhre zusammenschließen, in der es nach Trabi duftet. Hinter unüberholbaren Lastwagen erhascht der schnelle Blick links oder rechts "Semmeleck", "Mein Frisör", "Zum Fettsüppchen", "Folkfest". Wir sind das Folk? Ein Teilstück ist noch mit Kopfstein gepflastert. Doch wie lange hätte wohl der Geheimrat, "der an einer gedeihlichen Entwicklung der Thüringer Porzellanindustrie regen Anteil nahm", von Weimar nach Rudolstadt gebraucht? Eben. Die Pferde stapften durch knietiefen Schlamm, die Kutsche blieb stecken, unwillige Bauern mußten schieben. Im Radio Thüringen witzelt der Sprecher von "blühenden Landschaften". Gegen damals? Auf jeden Fall.
Den merkwürdigen Namen "Aelteste Volkstedter" trägt der Betrieb, um sich von den übrigen Thüringer Porzellanmanufakturen abzusetzen. In dem in rund zwölf Klein- und Kleinststaaten zerrissenen, waldreichen Thüringen des 18. Jahrhunderts gab es nicht weniger als 14 "Waldfabriquen", in denen nach frühkapitalistischer Manier aus Porzellan nicht nur alles Erdenkliche für den täglichen Gebrauch hergestellt wurde, Gabelknäufe, Geschirr, Rasierbecken, Riechfläschchen, Nadelbüchsen (als Wickelkinder), Pfeifenknöpfe und Nachttöpfe in volkstümlichem Geschmack, sondern auch Edles für den Hof. 1785 verdiente ein Porzellanfacharbeiter monatlich ebensoviel wie eine Potpourrivase kostete (eine reich verzierte Deckelvase zur Aufbewahrung duftender Blumen und Kräuter).
Am Rande des verregneten Städtchens finde ich nach einigem Fragen eine Anhäufung unscheinbarer, zurückgesetzter Gebäude. Durch ein vergittertes Fenster werfe ich einen Blick in einen Lagerraum. Ich werde nicht enttäuscht: Tausende von Liebespaaren! In einem abgewetzten Büro, dessen Staubigkeit in der Nähe der Werkstätten nicht wundert, warte ich auf Udo Dittrich. Die prachtvolle Porzellankutsche auf dem Aktenschrank stelle ich mir um 1800 auf dem Weg nach Rudolstadt vor und freue mich, daß ich schon angekommen bin. Der Geschäftsführer geleitet mich in den Verkaufsraum mit den vollgestellten Schauregalen. In einer Ecke steht der Alte Fritz mit zwei Windspielen, etwa 60 Zentimeter hoch. "Der Alte Fritz geht immer", sagt Herr Dittrich. Er ist ein echter "Porzelliner" und seit 1954 im Betrieb.
Ich sitze zwischen einer Unzahl tanzender, schäkernder, parlierender Rokokodamen mit ihren Kavalieren, ihr französisches Gezwitscher im Ohr, mit leicht sächsischem Akzent. Die Roben sind oft spitzenbesetzt: eine Spezialität des Betriebes; die Spitzengarniererin bestreicht Baumwolltüll mit Porzellanmasse und drapiert ihn zu kunstvollen Kleidern an die Figur. Da! Eine Affenkapelle! Die berühmtere von Meißen, 1750 von Kaendler und Reinicke modelliert, hat ein anderes Format. Plagiat? Damit hat man keine Schwierigkeiten. Das Nachahmen hat im Porzellangeschäft Tradition. Die Kapelle musizierender Schweine ist eine eigene Erfindung. In der Mitte des Raumes Prunkequipagen mit vier Rössern, Gebilde von etwa einem Meter Länge. Kammerkonzerte von ähnlicher Größe. Wer kauft heute solche riesigen Tafelaufsätze, die einst fürstliche Gelage zierten? Exklusive Restaurants der oberen Kategorie. In der Nazizeit gehörten Handgranatenwerfer und Reichsadler zu den "vaterländischen" Motiven. Und im verblichenen Realsozialismus?
"Auch Ernst Thälmann, Wilhelm Piek und Karl Marx wurden verlangt."
"Hat man nicht versucht, die Rokoko-Figürchen dem dekadenten Geschmack des Klassenfeindes zuzuschreiben?"
"Ja, es gab den Versuch, das als Kitsch abzustempeln. Wir sollten die Produktion einstellen. Aber man sah dann davon ab, weil der Verkauf Devisen einbrachte, die der Staat doch dringend benötigte. Ein Funktionär sagte damals, wenn sie eine Fuhre Mist haben wollen, dann liefern wir auch die." In Porzellan.
Die 1762 in Rudolstadt-Volkstedt gegründete Porzellanmanufaktur ist die älteste heute noch produzierende Manufaktur Thüringens. Ihre Gründung geht auf Georg-Heinrich Macheleid zurück, der 1760 die richtige Zusammensetzung der Porzellanmasse "nacherfand", 52 Jahre nach Böttgers streng geheimgehaltener Entdeckung: Porzellanarbeiter, die flohen, wurden Deserteure genannt und auch so behandelt. Die "Aelteste Volkstedter" wurde nach einer wechselvollen Geschichte eine Aktiengesellschaft aus vormals selbständigen Manufakturen.
Noch in den letzten Kriegstagen wurde die Fabrik zerstört, doch der Modellkeller, die Schatzkammer, konnte gerettet werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg schloß man die "Aelteste Volkstedter" mit anderen Manufakturen Thüringens zur VEB Vereinigte Zierporzellanwerke Lichte zusammen, zum größten Hersteller Europas. 1989, nach dem Fall der Mauer, wurde die VEB entflochten und Eigentum der Treuhand, die den Betrieb 1990 an das Unternehmen Seltmann in Weiden/Oberpfalz bei Regensburg, einen Geschirrhersteller, verkaufte.
Nach der Wende mußte die Belegschaft der Aeltesten Volkstedter von 90 auf 22 Mitarbeiter reduziert werden. Vergleichbare Betriebe in der Region haben 15 Mitarbeiter. Man ist dabei, die Belegschaft wieder um zwei Arbeitsplätze aufzustocken. In diesem Jahr wurden vier Lehrlinge ausgebildet, ein Indikator für die Hoffnung auf Fortbestand. Es arbeiten hier überwiegend Frauen. Alle ArbeiterInnen wurden im Hause zu Facharbeitern ausgebildet, etwa zu "Porzellanformern" oder "Porzellanmalern". Einige von ihnen sind 40 Jahre im Betrieb, manchmal in der dritten Generation. Die durchaus virtuose Feinarbeit wird im Leistungslohn verrichtet. Der Betrieb ist nach Angabe ihres Geschäftsführers der einzige der Branche, der die mit der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie vereinbarten Tariflöhne bei REFA-Normalleistung zahlt. Die Leistungsgrade liegen bei 105 Prozent. Doch nicht alle Mitarbeiter arbeiten gern im Akkord. Den Vorsitz im dreiköpfigen Betriebsrat führt eine Frau. Dem "Weißbetrieb" und dem "Buntbetrieb" steht je ein Meister vor.
Das Lustige am Purzelbaum ist die Umkehrung: Der Putto stellt den Kopf, den Erwachsene möglichst weit oben tragen, auf den Boden und den "Bürzel" in die Höh. Und dann wieder umgekehrt. Der Putto "bäumt" sich auf, er kommt auf die Füße, um sich sogleich wieder auf die Hände zu werfen. Mal ist der Kopf unten, mal oben, eine sehr mutwillige Art der Fortbewegung. In seinem schlichten Realismus, der sich von der zierlichen Anmut des Rokoko unterscheidet, scheint mir der Putto (oder die Amorette), dessen Herstellung ich mir ansehen konnte, auf zeitlose Art auszudrücken, was uns vor lauter Sorgen oft fehlt: ungebändigte, überschäumende Lebenslust.
Der kobolzschießende Putto ist einer aus der Gruppe der fünf "Purzel", wie die Porzelliner die Amoretten nennen. Er bildet den Anfang eines Bewegungsablaufs mit den vier anderen: Der Putto nach ihm steht auf dem Kopf, der dritte kommt auf dem Rücken zu liegen, der vierte schaukelt sich wieder auf, und der letzte sitzt, überlegend, ob er das Ganze noch einmal machen soll. Der kobolzschießende gibt das Thema an.
Gustav Oppel (1891-1978), ein Modelleur aus einer Thüringer Porzellinerfamilie, der auch für Rosenthal in Selb tätig war, hat die Gruppe 1936 entworfen, mitten im aufmarschierenden Nazifaschismus ein Stück anarchischer Lebenslust, die im nachhinein fast widerständig anmutet, wäre der Protagonist, der Putto, nicht so harmlos. Die Gruppe der mutwilligen Purzel wurde auch zu Zeiten der DDR gut verkauft.
Der kobolzschießende Purzel besteht aus sieben Einzelteilen, von denen jedes in einer eigenen Arbeitsform gegossen wird. Der Porzellanformer gießt die durchgequirlte Porzellanmasse aus Kaolin, Quarz und Feldspat in die Arbeitsform aus Gips, die aus zwei Hälften besteht und die Form einer ovalen Butterbrotdose hat. Auf Holzgestellen lagern Tausende dieser Formen, da die komplizierteren Figuren und Figurengruppen aus bis zu 300 Einzelteilen zusammengesetzt werden. In unserem Falle aus nur sieben. Da aber der Putto in Serie gefertigt wird, liegen stets mehrere Beinchen, Ärmchen und Flügel nebeneinander, was etwas merkwürdig aussieht. Der Porzellanformer nimmt die Teile aus den Arbeitsformen und setzt sie mit halbflüssiger Schlämmasse zu der Figur des Putto zusammen. Mit dem Bossiergriffel verputzt er die Nähte. Eine Arbeitsform dient für 30 bis 35 Güsse, dann wird sie zerschlagen, weil die Konturen undeutlich werden. Aus der Mutterform, welche dem Modell abgenommen wurde, werden wieder neue Arbeitsformen hergestellt.
Ist der Putto zusammengesetzt - und das geschieht mit der ruhigen Hand des kunstfertigen Handwerkers -, wird er in den Glühbrand von 900 Grad gesteckt. Sodann werden die Unterfarben des Gesichts, der Flügel und der Haare angelegt, was bei dem weißen Putto entfällt. Die Porzellanmalerei hat eine eigene Abteilung. Es sind zumeist Frauen, die, den Arm zur Sicherheit auf ein Brett abgestützt, mit dünnen Pinseln die feine Malerei besorgen. Die Arbeit - jede der ausgebildeten Porzellanmalerinnen malt ihr Stück von Anfang bis Ende - geht auf die Augen. Glasiert wird in einem anderen Raum mit der Spritzpistole. Dabei besteht die Gefahr, daß Feinheiten verlorengehen.
Es folgt der Schmelzbrand von 800 Grad, bei welchem die Glasur mit der Farbe verschmilzt. Sodann werden die Fleischfarbe angelegt, also trockener Farbstaub aufgetragen, und die Haare gestrichelt. Der Körper hat einen Hauch von Rosa: Das Wort "Porzellan", angeblich von Marco Polo geprägt, stammt ursprünglich aus italienisch "porcella" (kleines weibliches Schwein), was im übertragenen Sinne auch die weibliche Scham bezeichnete. "Porcellana" hieß eigentlich die Kaurimuschel. Die pulverförmigen Aufglasur-Schmelzfarben auf Metalloxydbasis werden mit Terpentinöl angerührt. Der Glattbrand, aus dem der fertige Putto hervorgeht, hat 1360 Grad. Die großen Elektroöfen stehen im Keller des hufeisenförmigen Gebäudes, nicht weit von den Trommeln, in denen die Glasur gemischt wird. Im Keller befindet sich auch die Schatzkammer des Betriebs: Hier lagern numeriert die Mutterformen, die es ermöglichen, alte Modelle immer wieder zum Leben zu erwecken.
Tradition beeindruckt in der heutigen Zeit, da auch große Firmen oft kaum Jahre bestehen. Auch Ansässigkeit beeindruckt, wo doch der Wechsel des Standortes zum Credo der Konzerne gehört, die nach dem Prinzip des shareholder value arbeiten. Voraussetzung dafür, daß ein und derselbe Gegenstand an ein und demselben Ort hergestellt werden kann, ist etwas, das allen spätmodernen Ökonomen die Haare zu Berge stehen läßt: die Nicht-Flexibilität der Arbeitskraft. Geschäftsführer Dittrich, selbst gelernter Porzellanmaler, läßt keinerlei Chef-Gebaren erkennen, als wir mit Meister Heidel und zwei weiteren Kollegen darüber sprechen, daß der thüringische Porzelliner nicht wie der Fernsehtechniker tendenziell überall Arbeit finden könnte. "Arbeit haben wir nur in der Porzellanmanufaktur, und die ist hier. Das hat Vorteile und Nachteile."
Auf der anderen Seite ist der Betrieb auf die wenigen virtuosen Kunsthandwerker angewiesen, die durch keine Maschine je ersetzbar sind. Diese wechselseitige Abhängigkeit hat durchaus etwas Familiäres. Man spricht ruhig und selbstbewußt miteinander. Die Unersetzlichkeit mag ein Grund dafür sein und auch, daß man einander seit Jahrzehnten kennt. Der zumeist unpassende Schlachtruf der Unternehmer "Wir sitzen alle in einem Boot", hier trifft er zu.
In der Manufaktur komplizierter Zierporzellane kann die Produktivität nicht durch Maschinisierung erhöht werden wie üblich. In Rudolstadt gibt es nur den großen Quirl für die Porzellanmasse, die Trommeln zum Mischen der Glasur, Schleifgeräte und die Brennöfen. Während Massenprodukte für den anonymen Markt hergestellt werden, wird hier auf Bestellung gearbeitet. Sorgsam, präzise, bedächtig. Obwohl nach Stückzahl entlohnt wird: Was zählt, ist allein Qualität. Arbeitshetze ist in dieser bescheidenen Nische kapitalistischen Wirtschaftens gar nicht möglich.
Die "Jahresendflügelwesen", wie die Engel im antiklerikal-präzisen Amtsdeutsch der ehemaligen DDR hießen, umschweben weit vor Jahresende die heilige Handlung des großen Einkaufs, und das seit einiger Zeit in immer größeren Schwärmen. Daß derart anstatt der Himmelfahrt Mariä der Kommerz gefeiert wird, wen wundert's. Engel, traditionell Vermittler, Dienstgeister und Dekoration, führen in die heiligen Hallen der Warenhäuser, die schon bei ihrem Aufkommen im 19. Jahrhundert "Paradiese" genannt wurden. Eine hochgehimmelte, aber durchschaubar sehr irdische Sache. Wer die verkaufsstrategisch genährten Illusionen in seinem Kopf nicht haben will, mag die Kommerzflügelwesen fliegen lassen und auf der Erde bleiben, bei den herumtollenden nackten Putti, die mit ihrer anmutigen Verspieltheit das Fest der Liebe verkünden, das andere.

Krücket

Von den vielen, die in den vorweihnachtlichen Straßen Mitleid zu erregen suchen, indem sie ihr Unglück und ihre Behinderungen darstellen, unterscheidet sich ein kleiner schwarzhaariger Mann, der seine Insuffizienz virtuos überspielt: Mit Hilfe zweier Krücken und dem Kopf balanciert er einen Ball. Er läßt den Ball auf der Krücke entlangrollen, schippt ihn empor, fängt ihn mit dem Kopf und köpft ihn auf die zweite Krücke, mit der er den Ball auf die erste wirft und so fort ohne daß der Ball zu Boden fällt. Dieses Spiel gelingt ihm recht lange.
Der Mann vollbringt nicht irgendeine Leistung, sondern macht sein Handicap zur Grundlage einer Artistik, die in präzisem Gegensatz zu seiner Behinderung steht: Indem er gerade mit den Krücken hantiert, bleibt seine Leistung für jedermann sichtbar an die Behinderung gebunden. Man kann sie nicht vergessen wie etwa dann, wenn er Jo-Jo spielte. Der Mann demonstriert nicht seine jammervolle Lahmheit, sondern macht sie zum Bestandteil eines trotzigen Spiels. Die Performance hat etwas Kühnes, der spielerische Umgang mit .der übermächtigen Not erscheint spöttisch, frech, sogar frivol, denn mit Krücken Spaß zu treiben gilt als unanständig.
Sich über das Unabänderliche lustig zu machen ist eine der Funktionen von Ironie. Es wundert, daß der Mann nicht größere Aufmerksamkeit erregt. Denn sein Spiel ist eine Metapher, die eine schwerwiegende und höchst aktuelle Redewendung drastisch faßt: aus der Not eine Tugend zu machen.

Das Leben als Kunstwerk

Über die Verbindungen zwischen Dandy und Design

Der von Beau Brummel (1778–1840) begründete Dandyismus ist keine Kleiderfrage, wie es das Vorurteil will. Nicht daß er den Frack erfand und stets erlesen gekleidet ging, machte Brummel zum Vorbild der Dandys, sondern seine sichere Vornehmheit in allen Fragen gesellschaftlichen Lebens, durch die er zwanzig Jahre unangefochten den guten Geschmack der englischen Oberschicht beherrschte.
Er führte ein Konzept streng ästhetischer Lebensart vor, das sich über Kleidung, Wohnen, Speisen weit hinaus auf die Kommunikationsformen insgesamt bezog. Es war Brummel, der, während es mit der Aristokratie zu Ende ging, den Gentleman entworfen und vorgelebt hat, einen Adel, der nicht mehr von der Herkunft abhing. Der Dandyismus war eine Rebellion aristokratisch gesinnter Individuen gegen die drohenden Nivellierungen der aufkommenden Massengesellschaft, gegen die ordinäre Fortschrittsseligkeit einer ebenso raffgierigen wie heuchlerischen Bourgeoisie, gegen den Primat der Maschinen, gegen das Mittelmaß.
Es ist dieser auf das Ganze der Lebensführung zielende ästhetische Gestaltungsanspruch, durch den der Dandyismus sich mit den anspruchsvollsten Designtheorien berührt, wenngleich diese sich nie als konservativ verstanden. Die konzeptuelle Parallelität resultiert aus der hinter beiden Bewegungen stehenden alten philosophischen Frage "Wie soll man leben?"
Konzepte bürgerlicher Lebensgestaltung haben diese Frage vornehmlich moralisch verstanden: Ein gutes Leben hatte zugleich ein anständiges Leben zu sein, und die gute Form mußte sich durch ihre Nützlichkeit beweisen. Hintergrund ist die frühbürgerliche Vorstellung von Sparsamkeit als Tugend. Werner Sombart führt (1913) den als Architekten, Architekturtheoretiker und Vorbild des Renaissance-Menschen berühmt gewordenen Leone Battista Alberti als denjenigen an, der die Basis bürgerlicher Wirtschaftsführung mit dem einfachen Gedanken legte, auch dann zu sparen, wenn es nicht notwendig ist. "Die Idee des Sparens trat in die Welt! Nicht des erzwungenen, sondern des selbstgewollten Sparens als einer Tugend." Tugend, weil dies Sparen eine eigene Entscheidung und einen Verzicht darstellt. Die Maxime war gegen die Lebensführung des Adels gerichtet, dem die ruhmreiche Verschwendung oberstes Lebensprinzip gewesen war.
Der gute bürgerliche Geschmack vom Biedermeier bis hin zum Design der amerikanischen Shaker zeichnet sich in der Folge durch Sparsamkeit aus, für die der Begriff "Schlichtheit" steht. Es handelt sich um mehr als den Verzicht auf Dekor, das Überflüssige schlechthin. Nützlich und damit auch schön war ein Gegenstand dann, wenn er - einfach zu handhaben und ohne vom Zweck durch Dekor abzulenken - Zeitvergeudung vermied. Die leichte Handhabbarkeit von Gegenständen impliziert stets den geringeren Zeitaufwand: das bürgerliche Implikat von "form follows function".
Auch die Dauerhaftigkeit von Gebrauchsgegenständen ist eine auf die tugendhafte Sparsamkeit (und Zeitersparnis) rückführbare Qualität. Diese grundsätzliche Orientierung leitet weit über Adolf Loos hinaus Architektur und Design der Moderne an. Die Produktgestaltung wie die Architektur richtete sich auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse. Das bloß Schöne, das Dekorative, dessen verschwenderische Nutzlosigkeit man nirgends schöner als an den verspielten Rocaillen des Rokoko genießen kann, galt als unmoralisch. "Wahrhaft unästhetisch wirken die ornamentierten Dinge erst, wenn sie im besten Material mit der höchsten Sorgfalt ausgeführt wurden und lange Arbeitszeit beansprucht haben." (Adolf Loos 1908)
Inzwischen haben wir erlebt, was in der Soziologie "Paradigmenwechsel" genannt wird. Die von Gerhard Schulze 1992 eingeführte These von der Ästhetisierung des Alltagslebens bezeichnet das Phänomen einer breiten Umorientierung: Sie besagt etwa, daß wir auf der Entwicklungsstufe unserer heutigen Gesellschaft zunehmend mehr Entscheidungen nach Geschmackskriterien treffen. Der Spruch vom Designer-Baby bezeichnet den Extremfall. Ging es in der Armutsgesellschaft noch um die Gebrauchsgüter überhaupt, kann man heute zwischen den unterschiedlichsten Formen desselben Gebrauchgutes wählen. Damit hat sich die Frage nach dem "Was" zu einer Frage nach dem "Wie" verlagert, eine Verschiebung vom Inhalt zur Form, die sich vom Zwang der Inhalte befreit.
Für die Oberschichten ist diese Frage nicht neu. Doch in der fortgeschrittenen Konsumgesellschaft stellt sie sich in ganzer Breite selbst noch unter den Bedingungen der Arbeitslosigkeit. Diese gesellschaftliche Neuorientierung bildet die Voraussetzung für den mächtigen Aufschwung des Designs in den 80er Jahren. Ging es den Modernen noch um die letztendliche Bestgestaltung, ein auf welchen Umwegen auch immer anzunäherndes Ideal, so ist die pluralistische Postmoderne nun gegen deren Einheits- und Gleichheitsvorstellungen mit dem Leitwort der "Differenz" angetreten, das eine Sichtweise begründet, die grundsätzlich mehrere Möglichkeiten gelten läßt.
Auf diesem Paradigmenwechsel beruht der Primat der Form. Die Ästhetisierung des Alltagslebens hat sich von der moralischen Grundorientierung der tugendhaften Sparsamkeit gelöst. Designer arbeiten kaum noch mit dem hochgespannten Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit einer Lösung, die für jedermann gut sein sollte, wie die Modernen postuliert hatten. Oft entwerfen sie heute - an der Kunst orientiert - Gerätschaften ironischen Charakters: eine elitäre Gestaltung - nicht mehr für alle, sondern für einige. Wie die Literatur, wie die Kunst, wie die Medien arbeitet das Design auf Zielgruppen hin, d. h., es versucht, statt einem abstrakten Ideal, den differenten konkreten Bedürfnissen zu entsprechen.
Mit dem Primat der Form über den Inhalt und der Irrelevanz moralischer Gestaltungsprinzipien, wie er sich in der Ästhetisierung der Alltagswelt darstellt, erreicht das Design aber das Niveau, auf dem der Dandyismus sich schon immer befand. Denn dieser war von Anfang an ein Protest gegen die Nivellierung und Standardisierung des Lebens unter Kostengesichtspunkten, mit der die konforme Massengesellschaft sich bescheidet.
Oskar Wilde (1854–1900), der den Dandyismus um die Jahrhundertwende zu seiner schillerndsten Blüte brachte, formulierte und lebte das elitäre Bewusstsein des Dandy in provokantester Weise aus. Muße, Verschwendung und Kostbarkeit, die dem frühen Bürgertum widerwärtigen Lebensprinzipien der verhaßten Aristokratie, führt er der Gesellschaft als vorbildlich vor und das so öffentlich wie irgend möglich. "Nur unter eleganten Leuten bin ich bei mir selbst" schreibt er, "in der Weltläufigkeit der Hauptstadt, im Zentrum der Wohlhabenheit, im Luxus eines Hotelpalastes." "Ich möchte mein Leben zu einem Kunstwerk machen" ist der Satz, mit dem er die Originalität und das Prinzip des Dandyismus auf den Punkt bringt, und lapidar: "Ästhetik steht über der Ethik."
Den Massen geht es um Inhalte, um das "Was": Arbeit, Brot, Inhalte, die moralisch begründet sind. Inhalte lassen sich von Moral nicht lösen, eine Not, welche die political correctness unserer Tage zur Tugend macht. In vielen Vorträgen und Texten hat Wilde den Primat der Form über den Inhalt vorgetragen. Dort bezeichnet er das gewöhnliche Leben und auch die Natur als Rohmaterial, das künstlerischer Formung unterworfen werden müsse. Zur rohen Natur rechnet Baudelaire, der Vertreter der französischen Variante des Dandyismus, übrigens auch die Frau! Anstatt sich bis ins Mark von den gesellschaftlichen Verhältnissen prägen zu lassen und/oder lustvolle "events" anzuhäufen wie der hedonistische Konsument zum Ende unseres Jahrhunderts, raffiniert der Dandy die brave Lebensgestaltung des Bürgers oder die "Selbstverwirklichung" des Aussteigers oder Nischenfreaks zur Lebenskunst.
Für Otto Mann (Der Dandy, 1925) ist der Dandy der "Kunst gewordene Mensch". Daß der Dandyismus nicht nur konzeptuell, sondern auch ganz praktisch das Design berührt, ist durch zwei, stark auf Ruskin und Morris gestützte Vorträge (1882, 1883) zu belegen, die Wilde in Amerika hielt, dessen verblüfften Bürgern er seine Theorie des Schönen nahezubringen suchte. In The House Beautiful durchwandert Wilde im Geist ein Haus, dessen Einrichtungsfehler er bei seinem Rundgang kritisiert. Sein eigenes Haus in der Londoner Tite Street sollte Maßstäbe setzen. Etwa rosa Wände mit einem Stich ins Fleischfarbene, goldgelb mattierte Zierleisten und ein mit japanischem Leder überzogener Plafond. Die üblichen Tapeten seien so abscheulich, meine Wilde, daß, wer ihnen als Kind ausgesetzt sei und später auf die schiefe Bahn gerate, sie durchaus dafür verantwortlich machen könne. "Es fällt mir von Tag zu Tag schwerer, auf dem hohen Niveau meines blauen Porzellans zu leben", ein elitäres Bonmot, das die Schönheit des einzelnen Gegenstands zur Lebensart des Dandy in Beziehung setzt.
Zwischen Dandyismus und Design gibt es also konzeptuelle Parallelität und auch praktische Berührungspunkte. Gemeinsam ist beiden Bewegungen ein ästhetisches Bewusstsein, das beim Dandyismus ausdrücklich, im gegenwärtigen Design ansatzweise elitär ist, insofern es den Verallgemeinerungsanspruch aufgegeben hat. Die Unvergleichlichkeit des hochkultivierten Individuums und seines Ambientes gegen den Massengeschmack zu exponieren, darin ähneln sich beide. Beide empfangen von der zeitgenössischen Kunst wichtige Impulse. Deren gegenwärtige Tendenz, mit Konsumabfall oder abgeschmacktestem Kitsch ironisch zu arbeiten, beeinflußt sowohl Outfit und Jargon jugendlicher Szenetypen im Umkreis der metropolen Kunstmilieus als auch das junge Design. Die Ironie gehört seit der Romantik zu der Grundhaltung in Übergangsperioden. Brummel erlebte den Niedergang der Aristokratie, Wilde der Belle Epoque und wir die Auflösung der alten Arbeitsgesellschaft.

Überfluss

Heiße Sommertage, Brunnen, auf dem Beckenrand sitzend die Füße kühlen. Doch wurden Brunnen einst keineswegs wegen der Kühlung errichtet, sondern der Stadt zum Schmuck. Meist ist weder die Symbolik des Brunnens noch die eigene Ästhetik des Wassers mehr bewußt. Anstatt die Anmut des Wassers zur Geltung zu bringen, indem man ihm Gelegenheit gibt, seinen Reichtum an Bewegung, Formen, Farben und Geräuschen und sein Temperament zu entfalten, scheinen viele moderne Brunnenanlagen die Besonderheit des Wassers zu ignorieren: es spritzt und trieft lediglich irgendwie. Für heiße Füße genügt das.
Vergessen ist, daß Brunnen – als Zierbrunnen – Symbol des Überflusses waren. Das überfließende Wasser erhielt nicht zufällig die Rolle, Überfluss überhaupt darzustellen. Wasser war – besonders in der agrarischen Gesellschaft – als Saft des Lebens, als das Fruchtbarkeit schenkende Element stets allen bewußt. Auf der Pariser Place d'Etoile spritzt das Wasser aus den Brüsten der Nereiden. Wasser war kostbar – solange es von Wasserträgern in Ledereimern von Stockwerk zu Stockwerk verkauft wurde (in Paris noch im letzten Jahrhundert), solange es schwarz war wie das rußige Wasser der Themse; solange es wie in Venedig in Zisternen gesammelt oder in Fässern aus der Brenta herangeschafft werden mußte; solange es also nicht wie selbstverständlich aus dem Hahn sprudelte.
Im Zweiten Weltkrieg sollen die jungen Rotarmisten die Wasserhähne aus den Bädern und Küchen deutscher Wohnungen geschraubt haben, um sie nach Russland mitzunehmen, in der Hoffnung, aus ihnen werde auch zu Hause das Wasser fließen, das die Frauen sonst eimerweise mit dem Joch vom Dorfbrunnen heranschleppten. Falls nicht wahr, ist die Geschichte doch poetisch.
Das Bewusstsein für die Kostbarkeit des Wassers schwand mit der Mühelosigkeit seiner Verfügbarkeit. Wasser zu vergeuden war wenigstens in den großen Städten bis ins vorige Jahrhundert hinein, in dem die Leitungsnetze und die Kanalisationen entstanden, ein teures Vergnügen. Allerdings wusch man sich im Rokoko sparsam aus tellergroßen Schüsseln, und das englische water closet wurde erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts in London eingeführt.
Die ruhmreiche Verschwendung war die Lebensmaxime des Adels und des absolutistischen Hofes. Die Wasserspiele wurden in jener sinnenfrohen Zeit ebenso gepflegt wie das Feuerwerk, das Pendant des hochaufspritzenden Wassers, dessen erotische Symbolik in den Chambres separees der Belle Epoque dann der Champagner übernahm: die Herren öffneten die Flaschen stets unter Knallen und Spritzen, so daß die Damen ob dieses anzüglichen Überflusses Gelegenheit fanden, laut aufzujauchzen. Die Brunnenschalen, über deren Rand das Wasser fließt, um in einem schimmernden, zart abreißenden Schleier in ein unteres Becken zu fallen, gleichen den in Italien und Frankreich noch gebräuchlichen Obstschalen, über deren Rand die Trauben quellen – nicht Fülle darstellend wie in einer flachen Schale, – sondern Überfülle, Überfluss, wie er sonst nur aus dem göttlichen Füllhorn quillt.
Doch die Verschwendung ist Schein: nichts wird vergeudet. Von sprudelnden Quellen und echten Brunnen unterscheidet sich der Springbrunnen dadurch, daß er stets dasselbe Wasser emporschleudert. Keine Epoche hat den Schein und das Theatralische so kultiviert und genossen wie Barock und Rokoko. Wenn man damals zur Darstellung des Reichtums soviel verschwendete wie irgend möglich, so setzt doch oft das flache Gelände, in welchem die Schlösser erbaut waren, dem Gefälle des Wasser Grenzen. "Ich habe dreihunderttausend Taler vergebens aufgewendet, um Wasser hierhin zu führen", beklagte sich Friedrich der Große in Sanssouci gegenüber Casanova. Die Wasserkünstler mußten sich der Pumpen bedienen. Der geschlossene Kreislauf des Wassers wurde erfunden (den man im steilen Tivoli nicht benötigte).
Das Scheinhafte des Überflusses wußte der Adel aus ästhetischen Gründen zu schätzen und das Bürgertum aus Sparsamkeit. So bauten sich auch die reichen Städte schönfließende Brunnen. Mit wachsender Knappheit des Wassers – um das, wie Ökonomen und Soziologen voraussagen, die Kriege der nächsten Jahrhunderte entbrennen könnten – werden Künstler, die künftig Brunnen entwerfen, seine Kostbarkeit wohl zu bedenken haben. Das Scheinhafte des Überflusses ist dann real.

Artikel in der Rubrik der Frankfurter Rundschau "Times mager"

Casanova, von der Liebe abgesehen

Der soziale Abenteurer großen Stils. Eine Aussicht.

Wer sich Casanovas erinnert, der dreiundsiebzigjährig mit dem Ende seiner Epoche starb, am 4. Juni 1798 in Dux, einem böhmischen Kaff, wo er im Schloß seines letzten Gönners an Pamphleten gegen die Jakobiner feilte, denkt nicht an das Fossil des Ancien Regime, sondern selbstverständlich an den lebenssprühenden „Frauenhelden". Verspottet von den Domestiken, weil er, sein geliebtes Hündchen neben sich, noch immer in seidenen Kniehosen und Brüsseler Spitzen einherging, schrieb der zu Lebzeiten erfolglose Literat, um sich die Langeweile zu vertreiben, täglich bis zu zwölf Stunden an der berüchtigten Geschichte meines Lebens.
Wie oft wurde der Venezianer mit Don Juan, dieser bösartigen Ausgeburt der Literatur, verwechselt! Denn aus männlicher Sicht faszinierte stets das „Frauenquantum". Welche Empörung, als die Memoiren ein Vierteljahrhundert nach Casanovas Tod in der Biedermeierzeit posthum veröffentlicht wurden, im prüden 19. Jahrhundert! Für das müßige und frivole Leben eines verschwenderischen Grandseigneurs des Rokoko konnte das sich etablierende Bürgertum kein Verständnis haben. So entrüstete sich 1822 ein Literaturblatt, daß er die „Infamien seines Jugendlebens vor die Augen rechtschaffener Leute“ führe. Ludwig Tieck urteilte: „Der Mensch ist ganz verrucht!“ Und Heinrich Heine: „Es ist keine Zeile in diesem Buche, die mit meinen Gefühlen übereinstimmte, aber auch keine Zeile, die ich nicht mit Vergnügen gelesen hätte.“
Die Kritiker des vorigen Jahrhunderts und noch Stefan Zweig, der 1928 einen rauschenden Essay über Casanova geschrieben hat, verachteten in dem lebenslustigen Venezianer den unersättlichen Triebmenschen. Doch in unserer durchsexualisierten Zeit werden die erotischen, übrigens niemals pornografischen Passagen der Memoiren weniger interessieren.
Auch ist der zum zynischen Verführer abgestempelte „Mannshengst“ (Zweig) inzwischen gar als Feminist rehabilitiert. Ein wahlloser Phallomane, als den ihn noch Fellini verhöhnt - den Casanovadarsteller läßt er wie einen pumpenden Maikäfer auf diversen Frauenleibern arbeiten -, war Casanova nicht, denn ihn zog an den Frauen gerade das Besondere an. Die Faszination, die er ausübte, beruhte wohl weniger auf seinen körperlichen Vorzügen und seinem prächtigen Auftreten als auf einer über seine Zeit weit hinausgehenden avantgardistischen Haltung gegenüber dem anderen Geschlecht: Casanova behandelte die Frauen nicht als inferior. Er diskutierte mit seinen Geliebten, die er sich oft zu wirklichen Freunden machte, über Gott und die Welt und bereitete ihnen Vergnügen, das zur Bedingung seines eigenen Genusses wurde. „Ich wollte geliebt werden, das war meine fixe Idee.“

"Der Kultus der Sinneslust war mir immer die Hauptsache"
Die Wiederkehr eines Todestages ist fraglos ein sehr konventioneller Grund, sich eines seine Zeit überragenden Menschen zu erinnern. Notwendigerweise zurückblickend wird die Forschung zu dieser Gelegenheit gewiß manch Neues oder Vergessenes über Casanova vorzulegen haben. Ich möchte Casanovas „Aktualität“ zu begründen suchen, vorausblickend, denn als weltgewandter Abenteurer großen Stils nimmt Casanova gewisse Züge eines postindustriellen sozialen Typus vorweg, dem wir in naher Zukunft begegnen können, ein Typus, der ausdrücklich von dem des Liebhabers unabhängig ist. Kann man von diesem Aspekt überhaupt absehen? Ich denke ja, denn Casanova war kein vagabundierender Frauenverführer, sondern ein Abenteurer, der ohne Liebe nicht leben konnte.
Soziale Typen sind nicht ganz unabhängig von den historischen Verhältnissen, in denen sie auftreten. Sollte Casanova ein Vorläufer sein, wo liegen dann die Ähnlichkeiten zwischen dem Rokoko und unserer Zeit? Bei allen hier als bekannt vorausgesetzten strukturellen Unterschieden ähneln die beiden Zeitalter sich darin, daß sie zu Ende gehen. Zu Casanovas Zeit zerfiel die feudal-absolutistische Gesellschaft. Heute löst sich die traditionelle Arbeitsgesellschaft auf, wenn auch die kapitalistische Wirtschaftsweise fortbesteht. Die Arbeitsplätze nehmen unumkehrbar ab. Erzwungener Müßiggang und wechselnde Jobs ohne ernsthafte Professionalität werden zum Los vieler Menschen.
Daher verlieren die bürgerlichen Arbeits- und Leistungsideologien an Überzeugungskraft. In den Metropolen haben wir es häufig mit hochmobilen, flexiblen, urbanen und lebenserfahrenen Dilettanten zu tun, deren Selbstbewußtsein nicht mehr darin besteht, einen einzigen Beruf auszufüllen, sondern jeder Aufgabe gewachsen zu sein. Sie fühlen sich wie Casanova „zu allem fähig". Die zunehmende Verschuldung von jedermann zur Führung eines guten Lebens, häufiger Partnerwechsel und abnehmende Zahlungsmoral erinnern an die Gebräuche des Rokoko, das Arbeit geringschätzte: So entscheidet auch heute, ob man sich leisten kann, was up to date ist, woher die Mittel dazu auch kommen mögen. Es sind Anzeichen eines abenteuerlich werdenden Lebens.
Konsumismus und Hedonismus unserer Tage, das von Jugendideologien genährte Bedürfnis, das Leben hier und jetzt auszukosten (im Rokoko wird nach Eduard Fuchs „die Frau nie älter als zwanzig"), die industrielle Organisation der „Freizeit“ in „Erlebniswelten“ – die heutige Entsprechung der an den Höfen pompös inszenierten theatralischen Festivitäten – und die von der Postmoderne wiederentdeckte Dimension des Scheins, des Alsob, das zu Casanovas Zeit, als das Theater das Leben durchformte wie heute das Fernsehen, eine so große Rolle spielte, sind gewiß, wenn auch oberflächliche Ähnlichkeiten zwischen unserer Zeit und dem Rokoko.
Doch die Oberfläche ist ja stets die Sphäre einer ersten Orientierung, und um mehr geht es hier nicht. Globalisierung meint u. a. Internationalität, die - anders - auch im Ancien Regime durch die alle Nationen übergreifenden Verwandtschaftsbeziehungen des Adels bestand. Die vornehme Welt parlierte französisch und folgte überall demselben Geschmack, derselben Etikette und demselben Ehrenkodex. Heute ist das Amerikanische Weltsprache, lingua franca für je dermann, und trotz unterschiedlicher Milieus mit eigenen Soziolekten sind die globalen Standardisierungen unseres Lebens bis in die Umgangsformen unübersehbar. Glich sich einst das Leben der internationalen Oberschicht über den Verhaltenskodex an, so folgt in der Massengesellschaft die Angleichung des Lebens überhaupt über die Globalisierung der Märkte. Seine spielerische Haltung gegenüber dem Leben, die Unzahl von Professionen, in denen er auftrat - vom Geiger bis zum Börsenmakler -, und sein ständiger Ortswechsel, von seinen Amouren abgesehen, heben Casanova klar vom bürgerlichen Menschen ab und, was die beiden letzteren Merkmale anlangt, auch von den Adligen. Er war ein sozialer Abenteurer, der sich vom allgemeinen Typ, der auch den Zivilisationsaussteiger in abseitigen Gegenden umfaßt, unterscheidet: Casanova genoß das Leben der vornehmen Welt in den europäischen Metropolen, in denen er, um ein Wort der Brüder Goncourt zu verwenden, neugierig „herumkletterte wie in den Etagen eines Hauses".
Casanova reiste mit Lakaien und Equipage von Metropole zu Metropole, wegen des Gesindels stets zwei geladene Pistolen in den Taschen. Kurz: Er war hedonistisch, mobil (ein erklärter Kosmopolit zur Zeit, als das Bürgertum den Nationalstaat ersehnte), urban, und er beherrschte die Weltsprache, das Französische, in dem er seinen Esprit entfaltete, den schlagfertigen und brillanten Witz, welcher im Rokoko auch dem Parvenü den Zugang zu den oberen Kreisen öffnete: vier allgemeine Merkmale, die auch den spätmodernen Typus kennzeichnen werden, der allerdings amerikanisch spricht.

"Ich war vollkommen mein eigener Herr"
Casanova, der Abenteurer großen Stils, wurde von einer widersprüchlichen Motivation getrieben: einer radikalen Freiheitsliebe zum einen, dem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung zum andern. Er wollte dazugehören, ohne sich zu binden, beliebt sein und unabhängig zugleich. Durch die zweite, die soziale Komponente seiner Motivation unterscheidet er sich von den gewöhnlichen Abenteurern, die Beute machen und das Weite suchen. Während diese wenig Mühe darauf verwenden, sich zu integrieren, suchte Casanova einen festen Platz in der vornehmen Gesellschaft der Metropolen.
Er war ein Aufsteiger. Es ist das Bedürfnis, in den ersten Kreisen eine hervorragende Rolle zu spielen, die den sozialen Abenteurer großen Stils charakterisiert. Doch Abenteuer ist er nur, weil letztlich der Wunsch nach Unabhängigkeit überwiegt. Vor die Alternative gestellt, entscheidet er sich immer für die Freiheit - wie Casanova, solange er jung war. Älter geworden suchte er vergebens in ganz Europa nach einer auskömmlichen Stellung, die seinen Fähigkeiten angemessen war. Ehrbare Ämter waren dem Klerus und dem Adel vorbehalten oder mußten käuflich erworben werden. So blieb Casanova ein Außenseiter mit dem aufmerksamen Blick des immer Fremden, der sich schwer ein- und unterordnete. Seine unbedingte Freiheitsliebe hat er durch den tollkühnen Ausbruch aus den Bleikammern des Dogenpalastes bewiesen, dessen Bericht ihn in allen Salons zum Star machte.
Die Freiheitsliebe, diese stärkere Seite seiner Motivation, zeigt sich auch an den Reisen, die er nur mit Hilfe von Pässen und Empfehlungsschreiben der Hochwohlgeborenen bewerkstelligen konnte, da es Freizügigkeit noch nicht gab; an den vielen, im letzten Augenblick ausgeschlagenen günstigen Heiraten; an den freimütigen Reden, die ein Grund seiner Kerkerhaft waren; an der Lust, sich willentlich dem Zufall zu überlassen, und schließlich an dem elitären und antiautoritären Bedürfnis, jedes Verbot zu übertreten. Noch vor der Französischen Revolution versuchte er als freies, selbstverantwortliches Individuum zu leben.

"Ich sagte, ich wäre kein Baron"
Ein Bestandteil seiner widersprüchlichen Motivation ist das starke Bedürfnis des Parvenüs, einen sozialen Status zu erlangen und zu verteidigen: Denn sowohl um sich individuell durchzusetzen als auch um sich sozial zu behaupten, muß der soziale Abenteurer Status demonstrieren.
Doch ein Hochstapler, der sich durch Anmaßung akademischer Titel und Adelsprädikate in betrügerischer Absicht in die vornehme Gesellschaft drängt, war Casanova nicht. Abenteurer zogen unter falschen und wechselnden Namen von Stadt zu Stadt. Durch Orts- und Namenswechsel suchten sie dem schlechten Ruf zuvorzukommen. Casanova dagegen, der sechzehnjährig zu Padua zum Doktor beider Rechte promoviert worden war, behielt seinen Namen bei und nannte sich „Chevalier de Seingalt“, zu Recht, denn der Papst hatte ihm durch die Verleihung eines Ordens die Möglichkeit eröffnet, den untersten Rang der Adelshierarchie einzunehmen. „Seingalt“ hat er sich in einem Akt sozialer Selbstkonstitution aus dem Alphabet zusammengestellt, das, wie er argumentiert, jedermann gehöre. Um in der vornehmen Gesellschaft nicht als bloßer Unterhalter zu gelten, mußte man ein Herr sein, und ohne „von“ war in der feudal-absolutistischen Epoche niemand ein Herr.
Mit den gewöhnlichen Abenteurern hat Casanova jedoch gemein, daß er versuchen mußte, neuartige Situationen mit sicherem Auftreten zu meistern. Daher legte er auf einen sozialen Status wert, der ihm von vornherein Achtung verschaffte. Er, der auf seinen Mut baute, fürchtete nichts mehr als die Lächerlichkeit, denn ein Ausgleiten auf dem Parkett war der soziale Tod und der materielle Ruin. Casanova war bereit, seinen selbstgeschaffenen Namen mit der Klinge zu verteidigen wie ein Edelmann von Geblüt.
Der soziale Abenteurer wird immer auffallend statusorientiert sein, gleichgültig, ob er in der feudalen, der bürgerlichen oder nachbürgerlichen Epoche auftritt: Denn der erste Auftritt entscheidet. Casanova, der in einer Gesellschaft lebte, die bereits an der Kleidung erkennbar nach Klassen und Ständen geordnet war, entstammte einer Schauspielerfamilie. Wurden Schauspieler auch so berühmt wie seine Mutter Zanetta Farussi, rangierten sie doch unterhalb des Bürgertums und wurden nicht einmal auf dem christlichen Friedhof begraben. Heute dagegen avancieren Schauspieler zu Staatspräsidenten, und Showgrößen werden geadelt, denn sie sind Exponenten einer immer mächtigeren Kulturindustrie. Den Zugang zu den Salons erlangte Casanova durch Empfehlungen seiner hochgestellten Gönner, durch seinen Esprit, das Passepartout im geselligen 18. Jahrhundert und den Eindruck, den er auf Frauen machte. J. Rives Childs nennt ihn „den bedeutendsten Kopf der europäischen Salons".

„Ehrenhafte List kann für Klugheit des Geistes gelten“
Aus dem Heer der vagabundierenden Falschspieler und Scharlatane ragten durch kriminelle Virtuosität Cagliostro und der Graf Sain-Germain heraus, die Casanova eifrig zu entlarven suchte. Obwohl der Venezianer selbst stets am Rande der Kriminalität auf bedenklich geschickte Art seinen Lebensunterhalt zusammenbrachte und wie oft in Wechselaffären verstrickt den Behörden entfloh, eingekerkert oder ausgewiesen wurde, so war er doch kein professioneller Betrüger. Wenn er andere überlistete, dann oft aus Übermut und um anmaßenden Personen seine Überlegenheit zu demonstrieren, besonders solchen, die sich mit falschen Titeln schmückten.
Zu Casanovas Ehre sei gesagt, daß er aufgrund seines geheimnisvollen und charismatischen Auftreten oft überschätzt wurde, so daß er in die zweideutigen Rollen, die man ihm antrug, erst hineinwuchs. Seine Gönner bedrängten ihn fortwährend, ihnen sein kabbalistisches Zahlen-Orakel zu erstellen. Mit den magischen Praktiken hat Casanova der vornehmen Welt Dienste geleistet, für die er belohnt wurde, etwa mit einer kurfürstlichen Schnupftabaksdose, die er als Zeichen seiner Zugehörigkeit herumzeigen konnte. Ein Speichellecker und Parasit war er nicht. Er handelte nicht aus Habsucht, wenn er die großen Summen annahm, die man ihm zukommen ließ. In aristrokatischer Großzügigkeit verschwendete er alles.
Wenn es den Hochwohlgeborenen beliebte, ihn für ein Medium ihres Aberglaubens zu halten, sollte er sie zu seinem Nachteil daran hindern? Casanova wurde stets nach den Wertmaßstäben seiner Kritiker beurteilt und nie auch nach denen seiner Zeit. Machten nicht die Aristokraten, denen Casanova sich zugehörig fühlte, Schulden, ohne sie je begleichen zu wollen? Wann bezahlten sie schon ihren Schneider?

„Leben und spielen war für mich gleichbedeutend“
So wenig wie ein Betrüger war Casanova ein Degenheld. Fast 1,90 m groß, athletisch gebaut, verachtete er Gewalt, denn er wußte sich mit Worten zu wehren. Stierkampf, Jagd und Schlachtgetümmel, all diese männlichen Freuden waren ihm zuwider. Daß er ein Spieler war, unterscheidet ihn nicht von anderen Abenteurern seiner Zeit, auch nicht vom Adel. Alle Welt spielte von Mittag bis in die Nacht. Casanova spielte weniger, um zu gewinnen, als um den großen Herren nicht nachzustehen, deren Lebensmaxime die ruhmreiche Verschwendung war. Sparsam waren nur die Bürger. Casanova lebte nicht vom Glücksspiel. Er hat als Lotteriedirektor und Börsenspekulant im Dienst der französischen Krone durchaus legal große Summen verdient, die ihm sein aufwendiges Leben erlaubten. Das Gros der gewöhnlichen Abenteurer überragte er durch seine umfassende Bildung, seine Belesenheit, seinen sprühenden Geist und darin, daß er weder kriminell noch gewalttätig war. Er war ein Literat und „Intellektueller“ (Hermann Kesten), auch wenn sein Degen, so es denn sein mußte, ebenso sicher traf wie die scharfe Zunge.
Auch der postindustrielle Abenteurer-Typus ist wie Casanova jederzeit auf seinen Vorteil bedacht und gewiß eine Spielernatur mit der typischen Risikofreude und Gewissenlosigkeit, doch nicht betrügerisch, nicht brutal. Als sozialer Abenteurer großen Stils ist er eher breit gebildet als gründlich ausgebildet wie der Fachmann. Er wird ein Dilettant sein wie der Weltmann Casanova, der alle möglichen Berufe bloß spielte, solange es ihm Spaß machte und es in seiner Geringschätzung der stets mit Beschränkungen verbundenen bürgerlichen Existenz dem Adel nachtat, der wie selbst Luis XV. dann und wann zum Vergnügen handwerkerte. Doch als professioneller Dilettant wird er wie Casanova von allem genug verstehen, um bei Fachleuten als ernstzunehmender Gesprächspartner zu gelten.

„Es kommt auf das äußere Auftreten an“
Auch der postindustrielle soziale Typus hat mit einer Statusunsicherheit zu schaffen, denn als Abenteurer kann er sich nicht zugehörig fühlen und auch als Aufsteiger nicht, falls er einer ist. Darum neigt er zur Übertreibung der Statussymbolik, die ihn - kontraproduktiv - als Außenseiter kenntlich macht. Casanova war stets „overdressed". Wirksames Imponieren erfordert jene autosuggestive Einbildungskraft, die den guten Schauspieler befähigt, augenblicks jedermann zu überzeugen.
Casanova, der Schauspielersohn, war in der Theaterstadt Venedig aufgewachsen, wo man das halbe Jahr über maskiert ging, zu einer Zeit, da das Theatralische die Umgangsformen bestimmte. In jeder Stadt suchte er sogleich das Theater auf, wo italienische Künstler/innen immer die ersten Rollen spielten. Das italienische Schauspielermilieu war - mit den Worten der Bergsteiger - sein „Basislager", das Zuhause in der Fremde, sein Rückhalt, von wo aus er operierte. Den Abenteurer zeichnet es generell aus, daß er neue Situationen aus dem Stegreif meistert und nicht mit angelernten Techniken. Der Stolz und die Lust des selbstbewußten Abenteurers vom Niveau Casanovas, dem, obwohl ein Müßiggänger, seine geistigen und körperlichen Kräfte im Nu zu Gebote standen, ist das Risiko, sich in unbekannte Situationen einzulassen, der Drang, sein Ich bei immer anderen Gelegenheiten kaltblütig aufs Spiel zu setzen und zu bewähren.
Im Unterschied zum Bürger, der sein Leben zu gestalten sucht, überläßt sich der Abenteurer dem Zufall. So erscheint Casanovas Leben formlos, als bloße Kette von Ereignissen. Zur Improvisation gehört Geistes- und Gefühlsgegenwärtigkeit, Lebenserfahrung, Bildung, Einfallsreichtum, Findigkeit und Respektlosigkeit, die auch dem spätmodernen Abenteurer den beeindruckenden Auftritt sichern. Die gewöhnlichen Abenteurer sind Solipsisten, denen es an der kommunikativen und sozialen Kompetenz eher mangelt, die den Abenteurer großen Stils befähigt, sich der Gesellschaft angenehm zu machen.

„Wenn man in dieser Welt glücklich sein will, muß man beliebt sein“
Der Casanova ähnliche soziale Typus ist an Öffentlichkeit gebunden. Casanova produzierte sich vor dem Publikum der verschiedenartigen Öffentlichkeit der Buchläden (dem Treffpunkt der Intellektuellen), der Salons, Theaterfoyers und Spieltische, wo er auf den Adel traf, der Ballhäuser, der Wandelgänge des Palais Royal, der Promenaden. Diese noch im 19. Jahrhundert bestehende unmittelbare urbane Öffentlichkeit haben Automobilismus und das Fernsehen zerstört. Öffentlichkeit ist heute mittelbar, d. h. medienvermittelt. Der mehr oder weniger intellektuelle Typus des sozialen Abenteurers großen Stils wird wohl sein „Basislager“ eher in den Milieus der Kulturindustrie aufschlagen.
Doch entstehen heute in den Metropolen, die Casanovas Revier und Bühne waren, auch öffentliche Orte neu, die auf das Sehen und Gesehenwerden und Kommunikation jeder Art angelegt sind, kommerziell, gewiß. Wenn der Kapitalismus auch alle Beziehungen und Institutionen durchwächst, so werden doch auch selbstgewählte Rollen gespielt: Es ist das Theatralische, das sich heute gegenüber der von Richard Sennett beklagten „Tyrannei der Intimität", jener seit den 60er Jahren grassierenden plebejischen Formlosigkeit, wieder herauszubilden beginnt. (Denken wir nur etwa an die opulenten und öffentlichen Inszenierungen von Familienfeiern.)

„Ich wurde Günstling“
Muß der Abenteurer in den schwankenden Verhältnissen des Spätkapitalismus Protektion haben? Gönner? Ich denke schon. Leistung ohne alles verkauft sich nicht mehr, wie jeder erfährt, der es ohne Beziehungen und „image“ versucht. Der abergläubische Nobile, Signore Bragadin, die steinreiche Hochadlige Mme d'Urfe und der mächtige Kardinal de Bernis unterstützen Casanova vorbehaltlos. Die Unzahl von Namen in seinen Memoiren belegen ein klassenübergreifendes Beziehungsnetz, in dem der große Abenteurer sich bewegte, ohne sich abhängig zu machen. Der Zerfall der traditionellen Arbeitsgesellschaft reinstalliert anstelle rechtlich sanktionierter Marktbeziehungen Geflechte persönlicher Deal-Beziehungen, die sicher z.T. mafios sind. Macht es Sinn, in unserer pluralistischen Gesellschaft, in der eine Fülle unterschiedlicher Milieus das Klassenverhältnis verundeutlichen, noch von Aufsteigern zu sprechen? Solange ein soziales Unten und Oben erkennbar ist, gibt es immer das starke Motiv, nach oben zu kommen.

„Ich fühlte mich zu allem fähig“
Nach der von Ulrich Beck u. a. vorgetragenen „Individualisierungsthese“ sind in den unsicheren Verhältnissen der sich auflösenden Arbeitsgesellschaft immer mehr Menschen gezwungen, Entscheidungen, die zuvor durch Klasse, Geschlecht, Familie, Kirche usw. traditionell vorgegeben waren, eigenständig zu fällen. Sie sind genötigt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, um so mehr, als der Staat durch die Globalisierung Einfluß- und Schutzmöglichkeiten verliert. Casanova war ein entfaltetes Individuum, und das zu einer Zeit, als Individualität nur eine Idee war.
Die von ihm stolz behauptete Selbstverantwortlichkeit wird die große Anforderung an die freigesetzten Individuen unserer Tage. Sie müssen lernen, in jeder Situation auf ihren Vorteil bedacht zu sein, mit stets wechselnden Jobs zu leben und ihr mitunter „müßiges“ Leben hinzubringen. Im Unterschied zum arbeitsteilig beschränkten Professionalisten erwirbt das freigesetzte Individuum in vielen verschiedenen, oft an verschiedensten Orten spielerisch verrichteten Jobs breite Lebenserfahrung. „Zu allem fähig“ zu sein, ist der Stolz des wendigen, von Qualitätsskrupeln wenig belasteten Dilettanten.
Nach Gerhard Schulzes These von der „Ästhetisierung des Alltagslebens“ treffen die Individuen in der Konsumgesellschaft, die anders als die Armutsgesellschaft Wahlmöglichkeiten anbietet, ihre Entscheidungen (bis hin zum Geschlecht) nach ästhetischen Kriterien. Es geht nicht mehr um das „Was“, sondern um das „Wie“. „Erleben wird vom Nebeneffekt zur Lebensaufgabe“ (Schulze).
Die Tendenz zur Ästhetisierung, anschaulich in der Designbewegung, fußt auf dem durch Jugendideologien genährten Hedonismus. In dem von Individualisierung, Hedonismus, Ästhetisierung, Theatralisierung, Jugendideologie, Urbanität, Internationalität, Mobilität, Zeitflexibilität und neuer Öffentlichkeit gebildeten Raster wächst der postindustrielle Typus des sozialen Abenteurers heran. Da mit der Auflösung der Arbeitsgesellschaft und den Entscheidungsrisiken das Leben bald für alle abenteuerlicher wird, wird man den Typus, wenn auch nur ansatzweise, auf verschiedenem Niveau wohl überall antreffen.
Mobilität, Urbanität, Flexibilität, Hauptmerkmale, werden weiter differenziert oder ergänzt: jung, breit gebildet, ortsungebunden, familienunabhängig (Singles), entschlossen, risikofreudig, kommunikativ muß einer jedenfalls sein, um dem Typ zu entsprechen. Er muß selbständig denken, in immer neuen Situationen aus dem Stand improvisieren und andere überzeugen (und blenden), um seinen Vorteil zu nutzen, der ihm Lebenslust verspricht. Selbstinszenierung wird zur notwendigen Kunst, um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erringen. Der selbstbewußte Einzelgänger ist nur vorübergehend teamfähig und ohne Führungsinteresse.
Der soziale Abenteurer, von dem ich spreche, entwickelt sich dort, wo die Welt am komplexesten ist und Macht, Reichtum, Vergnügen und Gelegenheiten des Fortkommens sich konzentrieren: in den Metropolen. Er schätzt den Luxus und übernimmt als Groupie der Reichen und Mächtigen hin und wieder heikle Aufgaben: diskrete Missionen, Transaktionen und Projekte. Der Casanova ähnliche Typus sucht zwar die Nähe von Macht und Reichtum und findet Spaß am Mitmischen. Von den Mächtigen wird er geduldet, denn er konkurriert nicht mit ihnen, weil er an der Machtausübung selber keinen Gefallen hat: zum einen, weil er aus Führung, Herrschaft und Unterdrückung keine Lust bezieht, zum andern, weil sie ihn die Unabhängigkeit, seine Freiheit kosten würden, die er über alles stellt.
"Ich war vollkommen mein eigener Herr", schreibt Casanova stolz in einer Zeit, da der Chevalier de Rohan den berühmtesten aller Literaten, Monsieur de Voltaire, der ihn wegen einer Beleidigung gefordert hatte, von seinen Domestiken verprügeln ließ.

Marx-Mütterchen

Von massenhaften Endzeitphänomenen

Als Dr. Breitinger - jener, der sich dereinst in den wollüstigen Todesengel auf dem Genueser Friedhof Staglieno verliebt hatte (die FR berichtete) - mit dem Pflanzen der Stiefmütterchen zu Rande gekommen war, zog er seine rosa Gummihandschuhe aus und blickte den Blümchen ins Gesicht. Hübsch. Doch sie erinnerten ihn an etwas, was war das? Er besann sich, aber es wollte ihm nicht einfallen. So verließ er seinen Balkon, vergaß die Blümchen für eine Weile und machte sich an die Arbeit.
Breitinger schreibt für das Feuilleton in- und ausländischer Zeitungen über Endzeitphänomene, über den Dandyismus zum Beispiel: Beau Brummel, Oskar Wilde, Baudelaire, Barbey d'Aurevilly usw. Als sein Blick über die Bücherrücken seiner wohlsortierten Bibliothek schweift, durchzuckt ihn eine Ahnung. Er erhebt sich von seinem Arbeitsstuhl und greift in die Blauen Bände, die dort immer noch stehen, denn der Doktor kann sich das leisten. Griffsicher zieht er den berüchtigten Band 23 heraus und blickt dem Mann ins Gesicht, der die Bourgeoisie aller Nationen in Schrecken gehalten hatte: Die breite Denkerstirn von gewelltem Haar umrahmt, das die Wangen hinabwandernd sich zu einem gewaltigen, doch zivilisiert gerundeten schwarzen Bart auswächst, gleicht der Kopf des großen Revolutionärs ohne Zweifel einem Stiefmütterchen. Natürlich lächelt Dr. Breitinger über diese Entdeckung.
Wenn er nun, um einen Zigarillo zu rauchen, auf seinen Balkon hinaustritt, sieht er in seinem Blumenkasten aus toskanischer Terracotta nicht einmal, sondern mehrfach, nein, genau dreißigmal in das herrische Gesicht von Karl Marx. Damals hatte er nicht nur den Band 23, sondern auch den viel vertrackteren Band 24 durchgearbeitet, den mit den Waren- und Geldkreisläufen. Doch nun befaßt er sich mit dem Phänomen des Dandyismus. Und diese Blümchen, so scheint es, lenken ihn ab, indem sie ihn an eine Zeit erinnern, die er zwar nicht missen will, weil sie fruchtbar gewesen ist, intellektuell gesehen, die ihm aber heute reichlich vergangen vorkommt.
Einmal hatte er sogar in einer K-Gruppe theoretische Basisarbeit abgeleistet, grauenhaft, denn keiner vermochte Marxens wunderbare Kreisläufe, welche die Gesellschaft als System erst verständlich machten, auch nur ansatzweise zu begreifen. Heute würde Dr. Breitinger das metaphorisch erklären: Alle Mitglieder der Gesellschaft sitzen an diesen Kreisläufen und angeln. Das versteht jeder. "Flüssigkeit des Kapitals" hatte der große Denker genannt, was inzwischen "Globalisierung" heißt, und das zu einer Zeit, als die Bürger und ihre Ökonomen noch von der Nation träumten. Dr. Breitinger geht nun nicht mehr so oft auf den Balkon. Das Wetter ist auch schlecht geworden.
Stiefmütterchen sind sehr langlebige und sehr zähe Pflanzen, es gibt sogar eine winterharte Sorte. Es sind keine einzeln stehenden bedeutungsvollen Blumen wie etwa die von den Präraffaeliten, Oskar Wilde und Beardsley so verehrte weiße Lilie, Blume der Verkündigung, mit welcher der flügelschlagende Engel Maria in fromme Scheu versetzte, sondern sie treten stets massenhaft auf.
Dr. Breitinger konnte seine dreißig Stiefmütterchen nach einem Monat nicht mehr sehen und ersetzte sie durch mauvefarbene Petunien, deren bezaubernde Einfachheit er mochte (ein zart gefaltetes Stück Farbe!). In einem üppigen Schwall fielen sie über die Brüstung seines Balkons.
Da bisher außer Dr. Breitinger niemand weiß, daß besonders die weißen und gelben Stiefmütterchen wie Karl Marx aussehen, werden diese Blumen weiterhin bedenkenlos in großen Mengen gepflanzt. Die Leute finden nichts dabei. Aber wenn sie es wüßten, dann sähe es auf unseren Friedhöfen anders aus. Der Doktor läßt die Sache auf sich beruhen. Sie tangiert ihn nicht mehr.

Ewerdt Hilgemann in Frankfurt am Main

Würfels Ende. Sichtbar gemachter Druck

Das knackende, knisterne Geräusch wird man so leicht nicht vergessen, das sich durch Donnergrollen ankündigt: um 14.10 Uhr beginnt der große Stahlkubus an einigen Stellen zu erbleichen, dann zieht er die Seiten ein, die Kanten knicken, und langsam, langsam haucht er seine Seele aus: Wirklich ist sie ihm entrissen worden. Die Luft wurde ihm abgesaugt und ein Vakuum hergestellt.
Etwa 400 Personen sahen vor der Messe zu, wie sich die Würfelkanten einfalteten und einen scharfen Glanz bekamen. Die mähliche Zerknautschung des Würfels, Sinnbild abendländischer Rationalität, ist durchaus schockierend. Zu ahnen ist die ungeheure Gewalt, die ihn zusammenzuziehen scheint und ihn faltet wie eine steife Tüte. Verformungen, so dramatisch wie diese, sind uns von sichtbarer Einwirkung bekannt. Daß der Stahlkörper zusammengezogen wird, ist ein Schein, denn der furchtbar pressende Druck kommt unsichtbar von außen.
Ewerdt Hilgemann, 1938 geboren, seit 1970 in Niederlanden zuhause, ist durch systematische und konstruktive Arbeiten bekannt gworden. 1984 hat er mit Implosionen meist stereometrischer Körper zu arbeiten begonnen. Er interessierte sich nun auch für die destruktive Seite in der Kunst, die Verletzung. Michelangelos Behauptung, eine gute Skulptur verliere, auch wenn man sie einen Berg hinuterrollen lasse, nichts vor ihrer Qualität, verifizierte Hilgemann, indem er in Carrara einen großen, polierten Marmorwürfel den Steilhang hinabschickte. Unten war er ramponiert, aber schön.
Im Unterschied zu anderen, die ihre Arbeiten mit eigener Hand verletzten, überläßt Hilgemann den gewaltsamen Eingriff den Naturkräften. Mit der Natur kooperieren heute viele Künstler. Sie übergeben der selbstätigen Natur einen Teil der Arbeit. Doch Hilgemann gibt nichts aus der Hand, läßt nichts unkontrolliert: die Herstellung des Vakuums ist die Veranstaltung eines meßbaren physikalischen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung.
Mit der Reduktion aufs Physikalische steht Hilgemanns dem Objektivismus der 60er Jahre nahe, als die Künstler, welche nach den großen Gesten des Informel und des action painting aller Subjektivität mißtrauten, sich soweit als möglich aus der Produktion zurückzogen und sie Experten, Maschinen und der Natur überließen. Die Implosion ist kein Happening, sondern veröffentlichter Teil des Werkprozesses, dessen Ergebnis ein zerknautschter Stahlwürfel ist. Die Arbeit ist von der schönen Einfachheit, wie sie aus entschiedener Beschränkung entsteht.

Strass

Es ist morgens, ein heller Tag. Ich sitze neben einem schlafenden Rentner im Bundesbus auf dem Wege nach Wattens. Dort will ich die Firma Swarovski besuchen, den weltgrößten Hersteller von Schmucksteinen. Die Firma mit einer Belegschaft von 3500 Menschen allein in Wattens (weltweit 9500) ist der größte Arbeitgeber in Tirol. Das Werk liegt im Inntal, einen Katzensprung von Innsbruck entfernt, an der alten Landstraße nach Salzburg. Auf den Bergen links und rechts liegt Schnee, im Tal riecht es nach Frühling. Ich habe ein Faible für blitzende Glassteine, seit meine Großmutter mich als Kind mit funkelnden Klunkern behängte. Nun interessiert mich, wie hinter den schönen Kristallsteinen, die doch Luxus für jeden darstellen, wohl die Arbeitsbedingungen aussehen mögen. Wie ist das gleich bei den wundervollen Teppichen aus Indien? Da die Multis rücksichtslos gegen die Standorte und ohne Verantwortung gegenüber den "Hinterbliebenen" um den Globus vagabundieren, wollte ich einmal wissen, wie es das hundert Jahre alte österreichische Traditionsunternehmen damit hält.
Strass ist die Grundlage allen glitzernden Modeschmucks. Modeschmuck, das wäre der Sieg des Entwurfs über den Geldwert, der Sieg der Idee über das Material. Der Möglichkeit nach. Er unterläuft die mit echtem Schmuck auferlegten Verpflichtungen. Im Prinzip. Die Frauen kaufen sich Modeschmuck selbst und gestalten damit ihre Erscheinung, anstatt Aushängeschild ihrer Partner zu sein. Im besten Fall. Es sind die von Swarovski entwickelten technischen Möglichkeiten, Kristallsteine massenhaft zu verarbeiten, die entscheidend zu einer Demokratisierung des Schmucks beigetragen haben.
Die 70er Jahre waren nach Vivienne Becker, die wenigstens drei interessante Bücher über Modeschmuck veröffentlicht hat und auch in dem von Swarovski gesponserten Prachtband "Glanzstücke" über dieses Thema schreibt, "eine nie dagewesene Periode der Schmucklosigkeit". Schmuck galt in diesen Jahren als bürgerlich und war darum bei den einen out und bei den anderen nicht en vogue. Den einen ging es noch darum, die Klassengesellschaft umzustürzen, die anderen zogen es vor, sich bedeckt zu halten. Dann 1986: Tschernobyl änderte alles. Zum ersten Mal hatte der ideologische Spruch: "Wir sitzen alle in einem Boot" seine Richtigkeit. Die 80er Jahre, die 1989 im Zusammenbruch des Realsozialismus gipfelten, ließen auf dem Boden der Endzeitstimmung einen quirligen Hedonismus ins Kraut schießen. Es war die hohe Zeit der pluralistischen Postmoderne. Der von Lifestyle-Magazinen programmierte Yuppie, clever, quick, smart und abgebrüht, markiert den Trend eines knallharten Individualismus, dessen zeitliche Dimension die pure Gegenwart ist: ich, hier, jetzt, ehe es zu spät ist. Und die Modeschmuckindustrie boomte wie nie zuvor. Was glänzte, war in.
Straß ("Kompositglas"), brillantenähnlich geschliffene Glassteine, war eine Erfindung des 18. Jahrhunderts, des Zeitalters sowohl der Aufklärung wie des Rokoko, das in der großen Französischen Revolution ein blutiges Ende fand. Georges Frederic Stras (1701-1733), welcher diesem Schmuck für alle Zeiten den Namen gab, importierte Glasfluss aus England und Böhmen, dessen Glasmacherkunst die des venezianischen Murano zu überflügeln begann, in die französische Hauptstadt. 1730 hatten die neuen, funkelnden Steine Paris erobert und auch bei Hofe die echten Juwelen bald ausgestochen. Denn nun war es möglich, sich von oben bis unten - an Hüten, Frisuren, Decolletes, Strümpfen, Schuhen - verschwenderisch mit blitzenden Steinen zu schmücken, was unter den Kerzenlüstern in den Spiegelsälen einen zauberhaften Effekt machte. Es war das durch die Verbesserung der Kerzen vervielfältigte Licht, welches festliche Abendgesellschaften großen Stils ermöglichte und das Bedürfnis nach schimmernder und glitzender Garderobe machtvoll bestärkte. Monsieur Stras wurde über Frankreichs Grenzen hinaus berühmt und 1734 zum Hofjuwelier des Königs ernannt.
Die Kultur des Scheins, des Theatralischen und des demonstrativen Konsums, welche die Postmoderne in den 80er Jahren unseres Jahrhunderts für sich wiederentdeckte, war im sogenannten galanten Zeitalter zu höchster Blüte entfaltet. Bei Hofe war im 18. Jahrhundert alles öffentlich, selbst die intimsten körperlichen Verrichtungen. Alles Tun war daher Pose, kalkulierte Form, die vor dem Spiegel geprobt wurde, der zum Wahrzeichen der Epoche wurde. Die Menschen der vornehmen Welt stilisierten sich zu Kunstwerken. Nicht der nackte, sondern der bekleidete Körper galt als schön. Nun sind auch in unseren Tagen wieder Tendenzen theatralischer Selbststilisierung auszumachen, die sich vom Anspruch der "Selbstverwirklichung" stark unterscheidet. Nirgends so deutlich wie in der heutigen Mode steht "Differenz", ein Schlüsselbegriff postmodernen Denkens, so anschaulich gegen die Einheitlichkeit, die zu den Leitprinzipien der Moderne gehörte.
Andreas Braun von der Marketing-Abteilung erwartet mich in den "Kristallwelten", jenen von Andre Heller aus Anlass des 100jährigen Firmenbestehens entworfenen unterirdischen Wunderkammern und glitzernden Höhlen, die von den Medien als "Weltwunder", "Reich der Feen und Zwerge" und "Wallfahrtsort" gefeiert worden sind. Der Konzern kann sich die aufwendige Publicity leisten: Der Umsatz belief sich auf 1,40 Milliarden Schweizer Franken. Den Kaffee nehmen wir unter einem Foto der strahlenden M. M., deren Hände von Geschmeide überquellen. Steine von Swarovski.
Kristallsteine hörten im 18. Jahrhundert bald auf, echte Steine vortäuschen zu wollen, und emanzipierten sich, da es nun möglich war, Steine in jeder Form und Größe zu produzieren und größere Mengen zu immer neuen und immer gewagteren Schmuckgebilden zusammenzufügen. Ihre Falschheit setzte die Steine keineswegs herab. Was zählte, war die entzückende Idee. Simili-Steine wurden neben echtem Schmuck verkauft und das oft ebenso teuer. Der Wert der brillanten Idee galt bald mehr als der Geldwert von Brillanten.
Etwa 150 Jahre später, als die Zeit der Königin Victoria zu Ende gegangen war, die in der Trauer um ihren 1861 verstorbenen Albert ganz England dunklen Schmuck vorgeschrieben hatte, kommt die Firma Swarovski ins Geschäft. Durch die Erfindung einer Schleifmaschine, die das Handschleifen ablöste, konnte sie erstmals sehr große Mengen präzis geschliffener Schmucksteine liefern. Es war die Zeit vor dem 1. Weltkrieg, in welcher auf dem Kontinent die Art-nouveau-Bewegung aufkam, während England es mit dem edwardianischen Stil hielt, dessen spitzenartige Zartheit sich an Stilelementen des 18. Jahrhunderts orientierte (Girlanden, Schleifen, Fruchtkörbe). Die vornehme Welt trug wieder helle Diamanten. Die Folge war eine große Nachfrage nach Glassteinen. Denn in den Großstädten eiferten alle modischen Damen den "ersten Kreisen" nach. Die Steine kamen meist aus Wattens bei Innsbruck und wurden darum bald "Tiroler Steine" genannt.
Schon früh, erklärt Andreas Braun, habe es bei der Firma ein "humanitäres Standortbewußtsein" gegeben, obwohl "die Verlockungen niedriger Kostenstruktur durchaus vorhanden" gewesen seien. Ein Motiv, in Wattens zu bleiben, sei auch das Risiko, die streng gehüteten Geheimnisse der Fertigungsverfahren an die Konkurrenz zu verlieren. Die Produktionsräume sind daher bis heute tabu.
Vom "Hundskopf", dem schneebedeckten Hausberg, auf dem sich die Villen der Gründerfamilie befinden, überblicken die Swarovskis ihr Werk, die Glashütte und die Herstellungsbetriebe für die Steine, die an halbautomatischen Maschinen facettiert werden. Das Zusammenfügen der Steine zu den von hauseigenen Designern entworfenen Broschen, Armbändern, Ohrclips und Colliers geschieht, seit die Firma auch selbst Schmuck herstellt, in Niedriglohn-Ländern, darunter Thailand und China. Die Produkte werden in aller Welt von rund 13 000 Partner-Boutiquen vertrieben.
Das in der vierten Generation geleitete Familienunternehmen wurde 1895 von Daniel Swarovski in Wattens gegründet. Der Sohn eines Glashandwerkers verließ Böhmen - damals mit dem Städtchen Gablonz die führende Region in der Herstellung von Glasschmuck -, sowohl um sein epochemachendes maschinelles Schleifverfahren vor Nachahmung zu schützen als auch um seine Maschinen mit Wasserkraft anzutreiben. Traditionell wurden Gablonzer Schmucksteine in Heimarbeit per Hand mit Facetten versehen: durch Andrücken der Steine an die mit einer Kurbel oder einem Tretrad angetriebene Schleifscheibe. Dann wurden sie an der Rückseite mit einer Silberschicht überzogen, "similisiert", brillantenähnlich, gemacht.
Swarovskis Erfindung revolutionierte die Herstellung von Mode-Schmuck: Die Simili-Steine, die zu Zeiten von Monsieur Stras den echten Steinen Konkurrenz machten und durchaus noch mit der Aura von Echtheit kokettierten, haben durch die von Swarovski eingeleitete Massenproduktion endgültig einen eigenständigen Status erlangt. Nicht nur die reiche Welt kann sich heute mit glitzernden Steinen schmücken. Der Schmuck war von der vieltausendjährigen Funktion befreit, einen materiellen Wert und damit die soziale Wichtigkeit einer Person darzustellen. Die billigen, aber in größter Präzision vielfach facettierten Kristalle, deren Glanz dem echter Brillanten kaum nachsteht, markieren - der Möglichkeit nach - einen Sieg des Geschmacks über den Reichtum. Was hier zählt, ist die Idee des Designers.
Die Entwicklung geht in zwei einander beeinflussende Richtungen: einerseits zur Herstellung preiswerten Modeschmucks für alle, andererseits zur künstlerischen Gestaltung ausgefallener Stücke in limitierter Auflage. Teuer ist nun nicht mehr das Material, sondern die Idee des berühmten Entwerfers und der Vorzug, dem exklusiven Kreis der wenigen Besitzer anzugehören.
"80 Jahre", sagt Andreas Braun, "war die Firma ein geschickter Zulieferer, aber seit 20 Jahren hat sie sich eine Markenartikeltradition aufgebaut. Mit dem im Hause entworfenen Schmuck haben wir uns langsam von der Rolle des Zulieferers emanzipiert." Für rund 150 Millionen Mark werde jährlich Schmuck verkauft, dessen Design "ethnisch abgestimmt" sei, je nachdem, ob man zum Beispiel nach Asien oder Amerika liefere. Ein weiteres Standbein schuf sich die Firma in den 70er Jahren mit der neuen Produktlinie "Swarovski Silver Crystal": Es handelt sich um die allseits beliebten Kristalltierchen, deren erstes eine Maus war. Und mit der "Hot-Fix-Technik", die es ermöglicht, mit Schmelzkleber beschichtete Kristalle auf Textilien aufzubügeln, festigte Swarovski seine Verbindung zur Modebranche.
In den 50er Jahren hat die Haute Couture den Modeschmuck entdeckt. Sie läßt eigene Kreationen unter dem Namen des Modeschöpfers entwerfen und bringt so die Zyklen der Mode auch in die Schmuckherstellung. Durch seine auffällige Aktualität, die zeigt, daß man sich in Übereinstimmung mit der Zeit befindet, unterscheidet sich Modeschmuck nun grundsätzlich von echtem Schmuck, der mit Ausnahme künstlerischer Unikate eher zeitlos und konventionell ist. Christian Dior taufte einen von Swarovski erfundenen Stein, der alle Farben des Regenbogens in sich konzentrierte, "Aurore Boreale" und verwendete ihn 1956 mit einem Erfolg ohnegleichen. Die Nachfrage nach Steinen mit dem durch ein Metallvakuum-Aufdampfverfahren erzielten Farbeffekt war so groß, daß Swarovski die Lieferungen kontingentieren mußte.
Unter den Verkäuferinnen in der Produktgalerie gibt es auch zwei Chinesinnen sowie zwei Thailänderinnen. Die meisten sind mehrsprachig, denn ein zahlreiches internationales Publikum umdrängt sogar außerhalb der Saison und schon vormittags die Schauvitrinen, in denen leider keines der anspruchsvollen Schmuckstücke ausgestellt ist. Die Schlange an der Kasse ist lang. Die meisten Touristen erstehen eines der Kristalltierchen, deren schönstes ein chinesischer Drache ist, der mit einer Liebesperle spielt. Als Jahresgabe 1997 für die 300 000 Mitglieder des Sammler-Clubs kostet er etwa 500 Mark. Aber auch ein Geschäft anläßlich der Eingliederung Hongkongs nach Rotchina hat Swarovski eingeplant.
Silvia Göttel, die junge Managerin von der PR-Abteilung, trägt einen schicken Armreif mit eingelegten Kristall-Steinen. Sie lädt mich zum Mittagessen in die Werkskantine ein, ins "Haus Marie", so benannt nach der Frau des Firmengründers. Auf das gute, mit 30 Prozent bezuschußte Essen ist man stolz bei Swarovski: Heute kann man zwischen Scampi, Lachs und Muscheln wählen. Ich frage, was der Schwan, das Firmenlogo, zu bedeuten habe. Der Schwan (der das Edelweiß als Emblem abgelöst hat) symbolisiere in allen Kulturen Reinheit, erklärt mir die Managerin, während sie ein paar Tische weiter einen Weißhaarigen entdeckt, der noch Daniel den Ersten gekannt haben soll.
Peter Angerer erzählt mir von dem Firmengründer nur das Beste. Als Lehrjungen hätten sie "Chefschauen" dürfen, wenn der imposante alte Herr durchs Werk geführt worden sei. Denn er war erblindet. Immer habe er mit den Leuten gesprochen. "Bist du zufrieden?" habe er gefragt, oder "Habt ihr Durst?". Dann gab es eine Kiste "Chapeso", eine in Wattens hergestellte Limonade. Der Chef habe auch im Werksorchester Geige gespielt. "Für mich war der Mann ein Genie. Er hat alles aus dem Nichts aufgebaut", schwärmt der Fahrer, der jetzt die Herren Swarovski chauffiert, denen, sagt er, man im Betrieb oft begegnen könne. Etwa 1000 Leute, schätzt er, seien 20 Jahre im Betrieb. Auch Peter Angerer hat mit einem billigen Firmen-Darlehen ein Eigenheim bauen können.
Seit 1948 haben etwa 1500 Mitarbeiter von dem Siedlungsprogramm profitiert, mit dem die Firma Swarovski ihr Standortbekenntnis praktisch belegen kann. Der Enkel des Firmengründers, Daniel II., hat in einem "Wohnen im Grünen" betitelten Buch 1988 diese Siedlungspolitik nicht ohne Sendungsbewusstsein dargestellt: Die Grundidee ist, daß jeder Arbeiter ein 1000 Quadratmeter großes Grundstück besitzen solle, "weil nur dann der eigene Garten dem Siedler in Notzeiten durch Obst- und Gemüseanbau und Kleintierhaltung eine spürbare Hilfe bedeuten könne". Das altväterliche Programm, aus der Erfahrung wiederkehrender Notzeiten geboren, das allen Urbanisten die Haare zu Berge stehen ließe, ist ausdrücklich gegen das Konzept des Sozialen Wohnungsbaus in Wohnblöcken gerichtet, da der Firmenchef von der Verstädterung nur das Schlimmste erwartet. Das Häuschen, in dem der Firmengründer aufwuchs, hatte nur einen einzigen Raum.
Ich hatte um einen Kontakt auch mit dem Betriebsrat gebeten. Aber Andreas Braun hat mir nur einen Termin mit dem Personalchef vermittelt, der früher dem Betriebsrat angehörte. "Er kennt beide Seiten." Mag sein. Aber welche vertritt er? Entlassungen, erfahre ich von Personalchef Guido Mark, gab es nur in der Zeit der Ölkrise 1974/75, die zugleich für Swarovski eine Absatzkrise war. Denn in den 70er Jahren wurde kaum Schmuck getragen. Jedoch habe die Krise dazu geführt, die neue Produktlinie "Swarovski Silver Crystal" aufzubauen. Die Kollektion ist ein Renner. Wie steht es mit der Lehrlingsausbildung, die ja ein Indikator für die Langzeitperspektive einer Firma ist? "Wir bilden jährlich 100 Lehrlinge von etwa 400 Bewerbungen aus. Alle Lehrlinge werden übernommen. Wir haben die einzige staatlich anerkannte Werksberufsschule Österreichs im Hause. Gesundheit und Bildung sind uns ein Anliegen." Gesundheit? "Täglich wird bei uns Gymnastik gemacht", sagt der Personalchef, "mit einer Vorturnerin. Die Zeit wird bezahlt."
Ein Drittel der Belegschaft sind Frauen, tätig meist in der Qualitätskontrolle, einer gleichförmigen "Augenarbeit". Im 38-köpfigen Betriebsrat sind die Frauen mit zehn Prozent unterrepräsentiert. Das hänge mit der hohen Fluktuation von 15-18 Prozent zusammen (bei den Männern drei Prozent). Soll man daraus auf ein schlechtes Betriebsklima schließen? "Nein, nein", wehrt Guido Mark ab, "die Frauen heiraten." Akkord gebe es keinen, wohl aber ein Lohnanreizsystem mit einer Obergrenze, "damit die Leute nicht ihre Gesundheit ruinieren". Wie in Österreich gesetzlich geregelt, gebe es ein 13. und ein 14. Gehalt, mit denen Weihnachts- und Urlaubsgeld abgedeckt seien. Eine Besonderheit ist das 15. Gehalt in Form einer Erfolgsbeteiligung, die abhängig von der Ertragslage etwa zwischen 85 und 130 Prozent erreiche. Sogar 180 Prozent seien einmal ausgeschüttet worden. Es versteht sich, daß die Firma Swarovski als größter Steuerzahler am Standort Einfluß hat. Guido Mark saß zudem im Gemeinderat.
Die Gemeinde Wattens gilt als reich. Der bodenständige Großbetrieb muß sich um "corporate identity" keine Sorgen machen. Das Wir-Gefühl, das die wurzellosen, über den Planeten ziehenden Multis künstlich zu implantieren suchen, ist der hundertjährigen Erfolgs-Geschichte vor Ort von selbst gewachsen. Peter Angerer sagt: "Man kann schon stolz sein, wenn man von Swarovski kommt." Dem pflichtet die PR-Managerin bei. Es bringt auch zusätzliche Vorteile: Bei befreundeten Firmen bekommen die Mitarbeiter von Swarovski kräftige Nachlässe. Und das elementare Bedürfnis nach Glanz, den dank Swarovski sich nun jeder leisten kann, ist gewiß eine solide Geschäftsgrundlage, die, wie es aussieht, Kontinuität gewährleistet. Bisher 102 Jahre an ein und demselben Ort.