Kategoriearchive: Text in der Frankfurter Rundschau

Großstadtsafari

Unterwegs

Das Zeichen des "Gehörnten": Das erstemal sah ich die gegen den bösen Blick ausgestreckten beiden Finger der rechten Hand (den Zeigefinger und den kleinen Finger) auf einem Foto, das ich in Sizilien gemacht hatte. Es war eine ältere Frau auf einer Treppe, die mich zum Teufel wünschte. Auf anderen Fotos aus Süditalien fand ich bei der Vergrößerung auch manchmal irgendwo zwei Augen, die intensiv in die meinen (die "bösen") stachen. Da erinnerte ich mich auch des Fleischers, der mir an einem vergessenen Ort der Türkei in blutiger Schürze mit dem Hackmesser nachlief, nachdem ich ihn ungefragt bei der Arbeit aufgenommen hatte.
Inzwischen bin ich selber zum Objekt von Fotografen und Videofilmern geworden. Einmal erwischten mich mehrere Touristen aus einem vorbeifahrenden Vaporetto auf der Loggia der Ca d'Oro am Canal Grande. Auf diesen Fotos war ich bloß Accessoire des schönen Palastes. Angezielt wurde ich endlich von englischsprechenden Personen, als ich mein Fahrrad auf dem Frankfurter Römerplatz an den Gerechtigkeitsbrunnen lehnte. Seitdem weiß ich, daß fotografiert zu werden das Schicksal aller Einheimischen wird, die in einer einigermaßen fotografierbaren Stadt wohnen.
Fotografiert zu werden ist inzwischen eine gewöhnliche großstädtische Situation. Ist man nicht selber Ziel des Fotos, so wird man doch oft durch einen Streifschuss erlegt. Wie auch immer, ich bin auf einem Bild, das der Fremde sich gemacht hat und zu Hause zum Beispiel auch solchen Personen zeigen kann, mit denen ich selber auf keinen Fall zu tun haben wollte. Das Abbild meines Gesichts und meines Körpers befindet sich dann ganz in der Hand von anderen, die mit "mir" machen können, was sie wollen. Diese Verfügungsmacht über mein Abbild erregt meinen Widerwillen.
So bin ich heute mit der Sizilianerin oder dem türkischen Fleischer solidarisch, die vielleicht sogar fürchteten, ihnen würde durch das Foto ihre Seele genommen. Ungefragt das Abbild eines Menschen zu nehmen, war vor dem Aufkommen der Massenfotografie und der mit ihr verbundenen Unverschämtheit, alles sich visuell handfest aneignen zu wollen und nach Hause zu tragen, nicht möglich. Kein wirkliches Gesicht, keine wirkliche Gestalt konnte ein Maler früherer Zeit zum bloßen Bestandteil einer Atmosphäre machen, sieht man von Boshaftigkeiten ab, wie Michelangelo sie sich leistete, als er einen Kirchenmann, der ihn beim Papst anzuschwärzen suchte, in die Hölle malte (Sixtina, Rom). Zwar weiß ich als Großstädter, daß ich den Bilderschützen, die daheim belegen müssen, daß sie die richtigen Sehenswürdigkeiten persönlich besucht haben, mehr oder weniger nur als Beigabe diene, aber man kann mich vergrößern: blow up. Und das will ich nicht.
Den Touristen, die mich am Fenster der Ca d'Oro nebenher geschossen haben, wird, wenn sie ihre Fotos betrachten, ein nicht mehr ganz junger Mann auffallen, der ihnen würdevoll die Zunge herausstreckt. So habe ich es eine Zeitlang gemacht wie die Sizilianerin. Nun gehe ich weiter. Da ich weiß, daß die Fotos der Touristen ausschließlich dazu dienen, ihre Anwesenheit vor berühmten Monumenten zu belegen, biete ich ihnen meine Hilfe bei der Umsetzung ihres Anliegens an. Sehe ich sie einander gegenseitig vor einem Denkmal fotografieren, wo sie doch nichts sehnlicher wünschen, als zusammen festgehalten zu sein, oder hampelt einer in unwürdiger Haltung um den selbstsauslösenden Apparat herum, trete ich freundlich hinzu und gebe zu verstehen, daß ich sie - gemeinsam - mit dem Objekt ihrer Begierde verbinden kann. Da ich stets eine teure Kamera mit mir führe, haben sie Vertrauen. Dann knalle ich sie vor dem Denkmal ab.
Ich könnte sie knipsen, bevor das Cheese-Lächeln gefroren ist. Oder danach. Ich könnte das Bild verwackeln. Ich könnte nur ihre Füße aufnehmen oder die Ehefrau fortlassen. Doch das ist mir zu primitiv. Ich nehme ihnen nichts fort von dem, was sie erwarten. Ich setze etwas hinzu, das sie nicht erwarten. Ich lasse von links etwa einen Hund ins Bild. Oder zwei vögelnde Tauben. Oder von rechts den davon eilenden Schuh eines Kellners. Oder eine Bananenschale im Vordergrund oder andere subversive Gegenstände. Mir liegt wenig am nachträglichen Ärger der Touristen. Vermutlich werden sie den Eingriff nicht einmal bemerken. Sie denken, es sei ihr Bild. Aber es ist meins. Ich habe ein Bild komponiert, das mir gefällt. Ich.

Ein bequemes Schmähwort

Die populäre Bezeichnung "Gutmensch" – und was alles damit gesagt wird

Da steht er, der "Gutmensch"! Eine tückische Wortschöpfung und immer häufiger anzutreffen. Zweifellos ist das Wort diskriminierend, denn es unterscheidet - wie es scheint - gute Menschen von den übrigen, es macht sie so kenntlich, daß man mit Fingern auf sie deuten kann. Raffiniert ist die anscheinend positive Diskriminierung, denn wer hätte etwas dagegen, als "guter Mensch" zu gelten?
Doch "Gutmensch" sitzt dem so Gekennzeichneten stramm über dem Kopf wie eine Mütze, die er nicht mehr abstreifen kann. Unter den europäischen Sprachen besitzt die deutsche die merkwürdige Fähigkeit, aus mehreren Wörtern neue zusammenzubacken. Der Wortbatzen hat den Charakter einer nur temporären Zusammensetzung verloren. Das Gefährliche des Ausdrucks liegt insofern in seiner Endgültigkeit. Wie mit "Verbrecher" der endgültig Schlechte aus dem Bereich der Normalen ausgeschieden wird, so mit "Gutmensch" der Gute. Im Vergleich zum Verbrecher erscheinen alle übrigen als gut und im Vergleich zum "Gutmenschen" alle anderen als schlecht. Wenn der Papst einen superguten Menschen heilig spricht, so ist gewiß, daß man zwar nicht so wie der Heilige, aber doch immerhin gut sein kann. Diese Chance ist mit dem Ausdruck "Gutmensch" genommen: alle sind wir mies. Und gern.
Die relative Schlechtigkeit der Menschen (und der von ihnen zu verantwortenden Verhältnisse) wird mit der Bezeichnung "Gutmensch" als normal unterstellt – affirmativ, wie man früher sagte –, als selbstverständlich, als mehr oder weniger unveränderbar, als menschlich eben. Auf den "Gutmenschen" zu zeigen, heißt immer zugleich: "Wir Ärmsten können so gut wie jener nicht sein, haha, weil wir ja im täglichen Leben stehen, im harten Lebenskampf." Jemanden als "Gutmenschen" zu bezeichnen, bedeutet, es sich im Jammertal bequem zu machen.
Die Diskriminierung hat etwas vom Charakter des athenischen Scherbengerichts, das bekanntlich anonym die besten – wie einst den Feldherrn Themistokles - aus der Gemeinschaft verbannte, aus Furcht, von ihnen dominiert zu werden: ein häßlicher Zug der Demokratie. Der als "Gutmensch" Bezeichnete ist als abnorm gebrandmarkt, er ist so etwas wie ein Verrückter oder ein Monster, jedenfalls einer, wie man selber nicht glaubt sein zu können und darum auch nicht sein will. Es steckt darin die anti-elitäre Haltung der Bequemen, den Anspruch zu senken, weil sie mal wieder nicht mitkommen (wollen), aber doch die Mehrheit sind. Eine Variante ist übrigens das Fortloben, das Gegenteil des Mobbing: auch hier wird der anscheinend Gute ausgegrenzt.
Doch eher handelt es sich nicht um eine positive, sondern um eine anscheinend positive Diskriminierung. Das Vergnügen nämlich, das die Wortschöpfung begleitet, belegt, daß man sie als ironische Wendung versteht. Sie legt in dieser zweiten Bedeutungskomponente nahe, daß der "Gutmensch" Genannte in Wirklichkeit gar nicht gut ist, sondern nur so tut: ein Heuchler, ein Schlechter also oder wenigstens ein Aufschneider. Die Verhöhnung des vorgeblich Unerreichbaren verbindet sich mit der Vermutung, daß es sich dabei um Betrug handelt. Beide Wortbedeutungen oszillieren böse schillernd.
Wie jedes Schimpfwort entfaltet "Gutmensch" seinen Schmäh erst mit Bezug auf erkennbare Personen. Der Satz: "Im Management sitzen nur Nieten in Nadelstreifen" ist gewiß eine haltlose Behauptung, die erst zutrifft, wenn sie konkretisiert wird. ("Nennen Sie Roß und Reiter!") "Gutmensch" ist genau besehen ein potentielles Schmähwort wie "Niete" auch, das im Giftschrank auf seine Anwendung wartet. Dadurch unterscheidet es sich etwa von "Rentnerschwemme", jenem preisgekrönten Unwort, das eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe verhöhnt.
Es macht einen Unterschied, ob die Bezeichnung "Gutmensch" als süffisante, Heiterkeit erzeugende Bemerkung angesichts eines berufsmäßigen Moralisten fällt oder mittlerweile wie selbstverständlich im Nachrichtenteil seriöser Zeitungen auftritt. Einen vorderen Rang auf der Anwärterliste für das Unwort des Jahres 1997, sollte der hinterhältige Ausdruck wohl abbekommen. Denn die Gefahr besteht, daß Zyniker schon jene als "Gutmenschen" diffamieren, die einem Bettler zu Weihnachten einen dicken Fünfer in den Hut tun. So würde das moralische Niveau nach unten getreten. "Gutmensch" wäre dann nicht mehr der Heilige oder der so tut, sondern schon einer, der nur versucht, ein bißchen anständig zu sein.

Schlangen

Schlangen

Zu städtischen Situationen zählt das Schlangestehen. Wenn viele Menschen zur gleichen Zeit das gleiche Ziel am selben Ort verfolgen, bildet sich eine Schlange. Migrationen werden nach aller Voraussicht im nächsten Jahrhundert die Großstädte anwachsen lassen, zugleich werden die städtischen Dienstleistungen wegen Geldmangels zurückgehen. Man wird also mehr Warteschlangen erleben. Sie widersprechen den Prinzipien der geltenden Zeitökonomie, doch handelt es sich oft um Verausgabung privater Zeit. Dem Stand der Organisationsmöglichkeiten sprechen sie Hohn, sowieso.
Ist die Warteschlange objektiv Ausdruck von Zeitvergeudung, so ist sie doch subjektiv ein Indiz sozialer Reife. Denn es ist schon wunderbar, daß Menschen, die sich rücksichtslos durchzusetzen gewohnt sind, freiwillig eine Reihenfolge bilden, in der auch physisch oder sozial Stärkere sich integrieren. Vergleicht man die urbane Warteschlange mit dem anarchischen Gedränge an einer Bushaltestelle in einem der sogenannten unterentwickelten Länder, wird bewußt, worin die soziale Reife besteht: die diskussionslose Anerkennung der Prämisse, daß alle Wartenden hier und jetzt den gleichen sozialen Status haben. Es handelt sich um eine stillschweigende Vereinbarung, welche die Wartenden treffen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Priorität schafft allein der Zeitpunkt der Ankunft. Daher wird das Freihalten eines Warteplatzes für andere nur ungern akzeptiert. Etabliert wird Gerechtigkeit.
Wer aus gutmütiger Willkür einen Außenseiter vorläßt, einen Arbeiter zum Beispiel, der sich nur sein Frühstück besorgt hat und darum beim Bezahlen das Vorrücken der Schlange kaum aufhalten würde, wird von hinten mit dem unabweisbar logischen Argument sanktioniert: "Für mich haben Sie wohl gleich mitentschieden!" Die relative Gleichheit der Ziele erleichtert das Einhalten der Ordnung. Unterschwellig entsteht eine Art Solidarität. Menschen, die tagtäglich um jede Kleinigkeit miteinander konkurrieren, handeln in der Einsicht, daß sie nicht unmittelbar direkt ans Ziel gelangen können, sondern nur mittelbar, eben indem sie eine rationale und gerechte Ordnung bilden und auf deren Einhaltung achten.
Noch deutlicher wird dieser Sachverhalt in einer vergleichbaren Situation: beim Einfädeln in eine Autoschlange vor einem Engpass. Um selber möglichst schnell das Ziel zu erreichen, wird es notwendig, anderen den Vortritt zu lassen. So wird der andere, das eigentliche Hindernis, zum Mittel des eigenen Fortkommens. Mit diesem Widerspruch praktisch umzugehen, wäre deutschen Autofahrern noch in den 60er Jahren schwergefallen.
Die Spannung ist groß in einer Schlange, wenn einer Anstalten trifft, sich vorzudrängen. Der Regelverstoß wird mit Worten geahndet, doch Handgreiflichkeiten sind in einer Menschenschlange wohl auch darum selten, weil der Unzivilisierte die Mehrheit und den gänzlichen Ausschluss aus der Ordnung befürchten muß. Wem Warteschlangen nicht fremd sind, weiß, daß dort der Typus des Ipsissimus selten zu finden ist, zu dessen Selbstverständnis es gehört, sich jederzeit und überall durchzusetzen. Hier kann nicht überholt werden. Durchsetzungsvermögen, Geschicklichkeit und alle nur denkbaren männlichen Tugenden, die dem Vorwärtskommen dienen, gelten nichts. Es gilt Geduld.
Männer mit der Obsession, in jeder Situation dominant auftreten zu müssen, meiden die Schlange nicht nur, weil sie tatsächlich keine Zeit zu verlieren haben, sondern auch weil die Vereinbarung über die Gleichheit und das Warten ihrem Status widerspricht. Denn Warten gilt als Zeichen von Abhängigkeit. Gleichheit und Abhängigkeit zu erdulden, und sei es auch nur vorübergehend in besonderer Situation, ist dem Ipsissimo schwer erträglich. Daher, sollte er wirklich einmal in einer so zivilisierten Warteschlange zu stehen kommen, greift er zum Handy. Was so viel bedeutet wie: ich bin zwar leider körperlich hier, aber sonst gar nicht da. Im Grunde stehe ich in keiner Schlange.

Artikel in der Rubrik der Frankfurter Rundschau "Times mager"

Zivilitätsreste

Auch der Steuerhinterzieher schiebt den Vorhang am Fenster seines Büros beiseite, auch der Abzocker von "Staatsknete" reckt den Kopf, wenn sie unter furchterregendem Geheul heranbraust: die Feuerwehr.
Eine typische Situation in der Großstadt. Drei schwere Wagen pflügen durch den Verkehr, die übrigen Verkehrsteilnehmer spritzen zur Seite. Passanten bleiben stehen. Paare fassen sich am Arm. Man erspäht die blitzenden Helme über festen Gesichtern. Ist die Erscheinung in der Ferne verschwunden, breitet sich Zufriedenheit aus. Ja, unsere Feuerwehr. Und was für prächtige Wagen sie hat, mit allen Schikanen, wieviel PS? Alle Schrauben glänzen. Wer sonst darf so fahren? Nur noch die Polizei und die Ambulanz.
Jemand hat die Feuerwehr in Venedig gesehen: mit einem schweren Boot, das, wenn es startet, die Wassermassen derart über das Kanalufer schleudert, daß die Touristen laut aufschreien. Jedoch obwohl durchnäßt, sind auch sie zufrieden.
Diese Dienste verkörpern das "gute Allgemeine", für das wir gern unsere Steuern zahlen. Feuerwehr muß sein, kein Zweifel. Mobilität, die im Automobil inkarnierte Bewegungsfreiheit, gilt als Freiheit der Freiheiten, viel mehr jedenfalls gilt sie vermutlich bei uns als die Meinungsfreiheit, für welche die Speakers Corner am Londoner Hyde Park steht. Die Feuerwehr darf dieses Gut verletzen, indem sie sich Vorfahrt erzwingt. Die Gleichheit aller Verkehrsteilnehmer vor der Ampel wird ausgesetzt. Freiheit und Gleichheit, die obersten Rechte des Bürgers, werden um der allgemeinen Sicherheit willen oder um ein Menschenleben zu retten vorübergehend beschränkt. Doch toleriert man es gern.
Dies um so mehr, als die machtvolle Durchsetzung des "guten Allgemeinen" als Feier der Mobilität genossen werden kann. Der exzessive Individualismus der Städter, so unbezähmbar und zunehmend anarchisch er heute mitunter erscheint, ist doch keineswegs so borniert, daß nicht die Vorstellung möglich wäre, man könne irgendwann auch selber betroffen sein. Vorstellungen über die unmittelbaren Bedürfnisse und Interessen hinaus zu entwickeln und zu unterhalten, ist ein Zeichen von Zivilität, doch heute nicht mehr ganz selbstverständlich.
Feuer, Krankheit, Überfall: dies sind Gefahren, die man aus eigener Erfahrung kennt, traditionelle Gefahren. So staatsverdrossen die Bürger sein mögen, so sehr sie dazu neigen, nach amerikanischem Vorbild die Angelegenheiten in die eigenen Hand nehmen zu wollen, so sehr sie sich in ihrer Besonderheit oft überheben, so stolz begrüßen sie andererseits das "gute Allgemeine": die geballte Kraft, die alle Individualitäten übersteigende Potenz des Staates und der Kommunen.
Verwandt ist diese Haltung der Bewunderung, welche die meisten Menschen Projekten entgegenbringen, die allein schon durch ihre Größe erkennen lassen, daß sie das Tätigkeitsvermögen des einzelnen weit übersteigen: das Verkehrssystem einer Stadt, die Autobahn, der Flughafen, der Bahnhof. In diesen Systemen drückt sich das Überindividuelle oder Gesellschaftliche aus, welches der Bürger offenbar um so leichter respektiert, je anschaulicher es ist. Doch weisen die Tendenzen in die entgegengesetzte Richtung. Im Zeitalter der Globalisierung und informativen Vernetzung nehmen Anschaulichkeit und Überschaubarkeit ab. Viele machtvolle Systeme sind unsichtbar.

Artikel in der Rubrik der Frankfurter Rundschau "Times mager"

Das (un)erwartete Warten

Über Muße, Verschwendung und Ökonomie der Zeit

Zeit als solche, wer will die? Das Bedürfnis nach Zeit erscheint sekundär, verglichen mit anderen sozialen Grundbedürfnissen, etwa dem Bedürfnis nach Bewegungsfreiheit oder nach sozialer Anerkennung. Zeit zu haben, wünscht man, um andere Bedürfnisse befriedigen zu können. Zeit als solche sich zu wünschen, wird erst möglich, wenn sie nicht mehr als bloßes Mittel gilt, als verplanbares Material. Lebenszeit ist begrenzt und darum ein knappes Gut, Arbeitszeit ist Geld. In jedem Fall ist Zeit kostbar. Darum wird sie von statusbewußten Müßiggängern demonstrativ verschwendet. Sie tun mit ihr, was sie wollen, und werfen zum Fenster hinaus, was jeder, der etwas produzieren will, anderen abkaufen muß.
Die jüngste Eröffnung eines großzügigen Wartesaals im Frankfurter Hauptbahnhof ist ein Indiz: Es wird mit Wartezeiten gerechnet. Denn unvorhergesehene Wartezeiten sind der Preis strammer Organisation, da die Anfälligkeit von Systemen mit zunehmender Komplexität wächst. Die Wiedereinrichtung von Wartesälen (DB-Longes) entspricht der Unvermeidbarkeit von Betriebsstörungen, die das ehrgeizige Bemühen der Deutschen Bahn begleiten, durch einen engmaschigen Fahrplan Flugzeug und Auto den Rang abzulaufen. Die Umsteigezeiten sind bekanntlich oft so knapp bemessen, daß die geringste Verspätung den Anschluß gefährdet. Je kleiner die Zeitpuffer, desto größer das Risiko, warten zu müssen.
Das Stück Zeit, das auf diese Weise abfällt, hat den Charakter einer Zwangspause. Oder aber: den Charakter einer unverhofften Freistunde, wie man sie aus der Schule kennt. Die Wartezeit, die durch Zugverspätungen anfällt, unterscheidet sich von den alltäglichen, nicht verwendbaren Zeitresten grundsätzlich durch ihre pure Unausweichlichkeit. Sie ist eindeutig fremdbestimmt. Dem Autofahrer dagegen, der im Stau steckt, wird eine Verspätung letztlich als individuelles Versagen angerechnet. Denn Autofahren lebt von dem Anspruch, eine autonome Unternehmung zu sein, orientiert an Leistung, Geschick und Durchsetzungskraft.
Anders bei der Bahn (und beim Fliegen): Die Verspätung ist für den einzelnen ein unabänderliches Faktum, für das er keine Verantwortung trägt. Und im Unterschied zu sonstigen Wartezeiten kann der Wartende sich entfernen, weil das Eintreffen des erwarteten Ereignisses zeitlich genau vorhersagbar ist. (Früher als angegeben wird der Zug nicht ankommen.) Er muß nicht wie in einer unberechenbar vorrückenden Warteschlange seinen Platz behaupten. (Auch im Stau wird er sein Auto kaum verlassen.) Zudem zeichnen sich Wartezeiten auf dem Bahnhof dadurch aus, daß sie unerwartet auftreten. Dadurch bleiben sie jeder Planung entzogen. Man steht ihnen absichtslos gegenüber. Was fängt man mit solch einem Zeitsplitter an? Denn um Zeitsplitter handelt es sich üblicherweise bei Wartezeiten bis zu einer halben Stunde. Unerwartete und kurze Wartezeiten sind nützlich kaum zu verwenden. Sie lassen sich nicht instrumentalisieren.
Es liegt auf der Hand, daß das Warten durch die Art des Erwarteten strukturiert wird. Das Ergebnis eines Examens wird anders erwartet als ein Rendezvous, als der Arzt oder als der Zug nach Basel. Man wartet auf dem Bahnhof nicht gelähmt, nicht euphorisch, nicht besorgt unter dem Eindruck des Erwarteten. Dazu macht es einen Unterschied, ob ich weiß, daß das Erwartete überhaupt eintrifft, und ob ich weiß, wann. Bekanntlich ist es eines der ältesten Mittel der Machtausübung, Menschen warten und darüber im unklaren zu lassen, wann sie empfangen werden. Wer warten muß, ist abhängig von dem, was kommt. Wartenmüssen ist ein Zeichen von Abhängigkeit und wird als Einschränkung der persönlichen Freiheit stets negativ empfunden. Je anspruchsvoller die Vorstellung von Individualität, desto verhaßter ist erzwungenes Warten.
In einer Arbeitsgesellschaft, in der wir trotz aller Auflösungserscheinungen immer noch leben, gilt Wartezeit selbstverständlich als vergeudete Arbeitszeit, als verlorenes Geld. Da wir nach dem Vorbild kapitalistischer Arbeitsintensivierung gelernt haben, in der "Freizeit" auf eigene Faust aus 8 Stunden 24 Stunden herauszupressen, und den Rest an Lebenszeit mit möglichst vielen Erlebnissen (" events") vollpacken, wollen wir auch in unserer arbeitsfreien Zeit nicht warten. Das Bewußtsein ist zeitökonomisch durchtrainiert. So unangenehm das Warten also ist, weil uns Zeitvergeudung und das Gefühl der Abhängigkeit zuwider sind, so vergleichsweise unproblematisch ist es doch im Falle einer Zugverspätung: Wir tragen keine Verantwortung, ängstigen uns nicht vor Ungewissem und sind nicht an den Ort genagelt. Sofern wir nicht zu jenen gehören, die in einer Unpünktlichkeit den Zerfall jeder Ordnung sehen, und wenn wir uns nicht trotz oder wegen der Unabänderlichkeit blau ärgern, warten wir recht gelassen.
Gelingt es, die erzwungene Wartezeit so unbefangen zu nehmen wie die unverhoffte Freistunde in der Schule, sind die unausweichlichen Pausen eine Gelegenheit zur Muße. Eine verstiegene Behauptung? Ich glaube nicht. Ist denn "aus der Not eine Tugend zu machen" nicht eine Kunst?
In einer 1989 erschienenen Textsammlung über Muße und Müßiggang schreibt der Herausgeber Jospeh Tewes, Muße habe "gleichviel, ob man sie als Tätigkeit oder als Nichtstun versteht, ihren Sinn nur in sich selbst, während arbeitende Tätigkeiten im allgemeinen eines zu erreichenden Zieles wegen, also gerade nicht um ihrer selbst willen, durchgeführt werden … Muße scheint wie jedes sinnliche Erleben an die Bereitschaft gebunden, sich der Situation zu überlassen, ja mehr noch, sich ihr hinzugeben". Muße: Sie ist vielleicht ein vergessenes, ein wegtrainiertes Grundbedürfnis, das wir als Folge der Quantifizierung der Zeit und der widernatürlichen Kontinuisierung der Arbeit verlernt haben.
Fraglos ist Zeitsouveränität das oberste Kriterium der Muße: Es handelt sich um Zeit, mit der ich tun kann, was ich will. Wartezeit dagegen ist beschränkte Zeit. Doch ist es nicht so, daß die besten Hervorbringungen menschlichen Geistes und die stärksten Erlebnisse gerade aus der Beschränkung entstehen, aus der notwendigen Beachtung vorgegebener Bedingungen und Grenzen? Aus der Not eine Tugend zu machen: ist das etwa gar der Normalfall für Kreativität?
Die Wartezeit auf dem Bahnhof ist trotz fremdgesetzter Grenzen durch das weitgehende Fehlen einer oktroyierten Zeitstruktur (das Fehlen störender Erwartungsspannung) in dem Sinne frei, daß sie für alles offen ist. Diese überschüssige Zeit ist, relativ zu dem Zeitkorsett, in dem zu bewegen wir uns angewöhnt haben. Ein echtes Stück Luxus. Zeitabfall läßt sich in Luxus verwandeln, aus instrumenteller Perspektive gesehen: in den Luxus der "Zeitverschwendung".
Es ist hier nicht die Rede von dem durch Arbeitslosigkeit erzwungenen und darum in einer Arbeitsgesellschaft verachteten Müßiggang. Zum Luxus kann Zeitabfall nur in Abhängigkeit von der subjektiven Möglichkeit werden, ihn als solchen zu interpretieren. Es muß eine Vorstellung davon existieren, daß die in den Schoß gefallene Zeit wie ein Geschenk handhabbar ist. Zumal sie ja im Gegenteil auch als Zeit erscheinen kann, die mir gestohlen wird. Es muß ein Bewußtstein davon vorhanden sein, daß die unerwartete, kurze Wartezeit sich von Arbeitszeit und Freizeit qualitativ unterscheidet.
Sich einer "Situation zu überlassen, ja mehr noch: sie hinzugeben", ist eine befremdliche Anforderung an Menschen, die gerade umgekehrt in der Gestaltung von Situationen die Möglichkeit der Selbstbestimmung sehen. Es nimmt nicht wunder, daß in einer Arbeitgesellschaft das Ideal der sogenannten "Selbstverwirklichung" im Machen besteht. Die Folge ist in der Regel ein durch Experten und Animateure programmierter Aktionismus. In einer mit zweifelhaften Produkten vollgestellten Welt gibt es inzwischen Grund, über eine "Kultur des Lassens" nachzudenken. Der junge Goethe machte auf seiner Italienreise die Erfahrung, daß er nur dann fähig war, Neues: Unerhörtes, Nicht-Gesehenes, Unvorstellbares, Nicht-Gedachtes sich zugänglich zu machen, wenn er sich der vorgefaßten Begriffe entledigte. Mutig schüttelte er den Schutzpanzer der Vorbegriffe und Vorurteile ab, welche gewöhnlich die Enge oder Weite des Blickwinkels bestimmen. Er haben sich "ganz hingegeben", schreibt er.
Absichtslosigkeit, Arglosigkeit und Offenheit charakterisieren den, der ein gefundenes Stück Zeit in Muße verwandeln kann. Er ist offen gegenüber der Welt. Muße, dieser ehrwürdige europäische Begriff, ist nicht zu verwechseln mit den meditativen Praktiken weltabgewandter Selbstversenkung. Der Müßige kann das Glück haben, sich des Augenblicks bewußt zu werden. Wer die in Rede stehende Situation nicht dazu nutzt, in die Vergangenheit fortzutauchen, noch dazu, Zukünftiges zu planen, kann die reine Gegenwart erfahren. Dann ist er präsent, dann ist er ganz da. Er fühlt das Hier und Jetzt der Situation, in der er sich befindet. Mit allen Sinnen fühlt er, daß er lebt. (Normalerweise setzen wir lediglich voraus, daß wir leben.)
Der Müßige vergißt sich. "Je mehr ich mich selbst verleugnen muß, desto mehr freut es mich", schrieb Goethe im zitierten Zusammenhang. Der Müßige verschanzt sich nicht in einer wie auch immer verstandenen Identität oder Rolle. Er nimmt wahr, was die anderen tun. Er ist gelassen. Er wartet, was kommt. Es ist die Situation der Einfälle. Sein Kopf ist ein offenes Nest. Vogelgleich fliegen ihn neue Gedanken an. (Gebrütet wird später.) Wenn er sich in Gespräche einläßt, will er nichts. Er hört zu. So hört er und sieht er Dinge, die er sonst nicht erfährt. Muße ist eine Art, in einer durch und durch vermittelten Welt mit den eigenen Augen zu sehen und mit den eigenen Ohren zu hören.
Es handelt sich insofern um den Versuch, sich wenigstens für Augenblicke von dem, was die Medien uns vorgeben, zu lösen. Es handelt sich um den Versuch, Unmittelbarkeit herzustellen, die selbstverständlichen Dinge neu zu sehen. Absichtsvoll ist Neus zu erfahren schwer. Das selbstverständlich Gewordene zu durchbrechen ist die Art, wie Künstler die Welt zu erfahren suchen. Muße ist ähnlich der Klimax in der Liebe ein Stück tief erlebter Zeit, deren Quantum keine Rolle spielt. Es handelt sich um erfüllte, nicht um verdichtete Augenblicke, erlebt ohne Anstrengung. Die Erfahrung einer qualitativ anderen Zeit, die Erfahrung, daß Zeitabfall als Luxus erlebt werden kann, ist möglicherweise subversiv. Denn sie steht in krassem Gegensatz zu der fremdbestimmten Zeitstruktur des gewöhnlichen Arbeitslebens in einer zeitökonomisch durchorganisierten Gesellschaft.
Der Hauptbahnhof einer großen Stadt ist der urbane Ort par excellence. Nirgends sonst treffen so viele unterschiedliche Menschen zusammen. Als urbaner Ort bietet er die Chance vielfältiger, aktueller und eigener Lebenserfahrung, Erfahrung aus erster Hand. Für solch vorsätzliche Menschen, wie wir es sind, ist Muße nicht lange erlebbar. Kurze, unerwartete, sich jeder Instrumentalisierung entziehende Wartezeiten bieten jedoch die Gelegenheit dazu.

Tadashi Kawamata in Münster

Verbindungen über Abgründen
„Boat Traveling“: Tadashi Kawamatas Bretter-Kunstwerk

MÜNSTER. Wer auf der dokumenta 9 Tadashi Kawamatas people's garden gesehen hat - das an eine Favela erinnernde Hüttendorf -, stellte sich leicht Migranten vor, welche die Bretterverschläge verlassen hatten und weitergezogen waren, vielleicht nach Kassel oder Frankfurt oder Berlin. Man wurde an das Wiederaufleben der Völkerwanderungen erinnert, an ihre Ursachen: Arbeitslosigkeit, Armut und Vertreibung und ihre Folgen: Obdachlosigkeit, Fremdheit und den Haß der Eingesessenen. Migrationen werden nach soziologischer Voraussicht das nächste Jahrhundert bestimmen, die Wanderungen der Armen in die großen Städte. Mobilität, der zur Ikone gewordene Inbegriff individueller Freiheit und Selbststeuerung, zeigt sich umgekehrt als Folge von Zwang. Denn nicht aus Reise- und Abenteuerlust verlassen die meisten ihre angestammten Orte. Und die Globalisierung: sie zwingt auch die Ehrgeizigen, Qualifizierten und "Besserverdienenden" dorthin, wo die großen Kapitale vorübergehend ihren Standort aufschlagen.
Wer die elenden Verschläge in Kassel genauer betrachtet hat, wird in einer der Hütten nicht nur den Spiegel entdeckt haben (sieh dich hier!), sondern auch die Stege, welche die Behausungen längs des Flüßchens verbanden, und den schwankenden Balken, der eine Brücke war. Armselige Verbindungen, aber immerhin: ein Zeichen der Zivilisation.
In der von Klaus Bußmann, Kasper König und Florian Matzner ausgerichteten Skulpturenausstellung in Münster fährt ein merkwürdiges Gefährt über den Aasee, eine buglose Fähre, ein schwimmender Bretterverschlag, der an ein Hausboot oder Boot-Haus erinnert. Wer in dem Käfig übersetzt, erkennt beim Ab- und Anlegen in den beiden Stegen, die ebenso flüchtig zusammengenagelt sind, die anderen Teile des Kunstwerks.
Boat Traveling, das Kawamata nach dem Vorbild einer zuvor im holländischen Alkmaar projektierten Arbeit für Münster nachbauen ließ, schließt an Arbeiten an, in denen er aus Latten roh gebaute Passagen durch den städtischen Raum gelegt hatte (Passagio, Prato 1993, Sidewalk, Lyon 1993, Transfert, Sache 1994, Catwalk, Tokio 1995, Tram Passage, Wien 1995). Die Idee eines schwimmenden Gebäudes verwirklichte er anders schon einmal auf der Limmat in Zürich. Die Verbindungen, die Kawamata schafft, sind ostentativ provisorisch. Schon im Aufbau thematisiert er den Abriß - wie erstmals Guilio Romano (1499-1546) im Mantuaner Palazzo del Te und heute - eher modisch - die amerikanischen Architekten von SITE, die in den späten 70er und 80er Jahren Kaufhausfassaden so errichteten, daß sie aussahen, als stürzten sie bereits zusammen (Ziegelkaskaden).
Kawamata baut den Besuchern eine Brücke. Wenn sie diese benutzen, können sie sehen und erfahren, was der Künstler vorschlägt. Vom Boot aus sieht man - im Bewußtsein, daß dies von schwankendem Boden aus geschieht, darunter das Wasser - auf die durch die Bretter abgeteilte und zerstückte Landschaft. Die Wege, die Kawamata das Publikum gehen läßt, sind nicht stabil. Stets in Bewegung richtet sich unser Blick auf die Welt, gehend, fahrend, unsicher und durch ein Gitter aus Latten. Doch positiv gewendet, sind Stege, Brücken, Passagen, Fähren: Übergänge, die Verbindungen über Abgründen ermöglichen. Dies ist der Kern der Metapher. Brücken und Fähren erinnern an das andere Ufer, an das rettende Ufer, das meist die Fremde ist.
In genauem Gegensatz zu diesen zwischenmenschlichen Konstruktionen (zu denen auch die Sprache gehört) steht der Turm: er gründet in festem Boden und drückt Herrschaft aus. Man denke an die noch erhaltenen Geschlechtertürme von San Gimignano, von denen aus die Adligen einander bekämpften, oder an den Widerspruch von Bankenturm und "Bürgersteig". Die Metaphern, mit denen Kawamata arbeitet, sind dagegen Ausdruck von Zivilität, einer, wenn auch sichtbar prekären Balance. Nichts von Dauer.
Den Besucher läßt der Künstler nicht nur etwas betrachten, sondern bezieht ihn durch die Benutzung seiner Objekte umfänglich ein. In Alkmaar, der Stadt, für die Kawamata das Projekt zuerst konzipiert hat, plant er eine Verbindung zwischen einer Klinik am Rande der Stadt und dem Stadtzentrum, Bereichen, die entfernt und gegeneinander abgegrenzt sind. Der Vorstellung Wege zwischen praktisch und begrifflich getrennten oder entlegenen Gebieten zu schaffen, gehört zu den Aufgaben der Kunst, die zusammenbringt, was im normalen Verstand nicht zusammengehört.
Die Patienten betrachten nicht nur, benutzen nicht nur Steg und Boot, sie haben sie nach Plänen selbst gebaut. So sind sie in das Kunstprojekt von vornherein einbezogen. Auch in Münster haben die Kranken mitgearbeitet. "Die Zusammenarbeit mit anderen hilft mir, mein Werk offen zu halten," sagte Kawamata 1991 in einem Interview. Warum aber die Fähre auf dem Aasee gerade von hier nach dort fährt, die Relevanz der Orte: sie bleibt unklar. Skulptur. Projekte in Münster 97. Bis 28. September, mit Fahrradverleih!

Über Paladios Baustil

Musik am Bau

Randvoll war es bei der deutsch-italienischen Vereinigung beim Vortrag von Christian Lenz über Palladio. Der stellvertretende Direktor von Bayerns Staatlichen Gemäldesammlungen sprach als Bewunderer über den großen Renaissance-Architekten. Anhand von Dias, besonders von Stichen aus Palladios "Vier Büchern über die Architektur", machte Lenz auf Merkmale aufmerksam, die als "palladianisch" berühmt sind: den Portikus bei Wohnbauten, die Engführung von Säulen, verdichtete Ecklösungen, Thermenfenster, Rhythmisierung von Fensterfronten, Leerflächen als Bauelement (vergleichbar der Pause in der Musik).
Palladio, der das antike, an der Musik orientierte Regelwerk harmonischer Proportionen weiterentwickelte, nannte in seinen Traktat "Anleitung zum Bauen" als oberste Kriterien Zweckmäßigkeit, Dauerhaftigkeit und Schönheit. Lenz zeigte, wie unterschiedlich dasselbe Motiv (das sogenannte Serlio-Motiv, ein von zwei schmalen Öffnungen flankiertes Bogenfenster), von Serlio, Sansovino und Palladio verwendet wurde. Es umgibt als zweigeschossige Arkadenreihe den alten Palazzo della Ragione von Vicenza.
Heitere Eleganz ist auch den strengsten Bauten Palladios eigen. Den antiken Portikus verwendet er nicht nur bei seinen venezianischen Kirchen, sondern auch bei den berühmten Villen. Die Betonung des Eingangs bei Privathäusern durch ein ehemals sakrales Stilelement war neu und wurde zu einem oft imitierten Zeichen von Repräsentation und Anmaßung.
Was man von den vier Portici der Villa Rotonda zu halten hat, aus denen jeweils breite Treppen in das Gelände fließen: über die so komplexe Thematisierung des Verhältnisses von Innen und Außen hätte man doch gern etwas erfahren. Palladio war schließlich der erste Architekt, der Haus und Landschaft programmatisch in Zusammenhang sah: der Blick von oben, das Hinaustreten des Herrn, der durch Treppen vermittelte, sukzessive Übergang aufs befriedete Land.

Himmelsschlüssel

Wer in diesen Tagen einen Gang durch den Botanischen Garten macht, findet anstelle der Blumen bloß Schilder mit den Bezeichnungen der Blumen, altmodisch ovale Blechschildchen mit lateinischen und merkwürdigen Aufschriften. Anstelle der Realität: Zeichen. Das kennen wir ja gut, über Dinge zu sprechen, die nicht da sind. Die Sprache schafft uns die Möglichkeit, über Dinge auch in deren Abwesenheit zu sprechen, eine Emanzipation aus der Umklammerung der Sachen, zu denen man fast selber noch gehört, solange man sie nicht mit Namen nennen kann.
Die mißtrauischen Sprachgelehrten der verrückten Akademie von Lagado in Swifts berühmter Satire mochten an diese Emanzipation nicht glauben und empfahlen, in der Annahme, daß Wörter Dinge seien, immer einen großen Sack der mit ihren Namen fest verwachsenen Gegenstände auf dem Rücken mit sich herumzutragen und bei Gelegenheit eines Gesprächs die Säcke zu öffnen, die Wörter hervorzuziehen und einander zu zeigen. Mißverständnisse glaubten sie auf diese Weise vermeiden zu können.
Man muß nicht die komplizierten Überlegungen kennen, die Philosophen, Linguisten und Kunsttheoretiker sich um das so einfach erscheinende Verhältnis zwischen Designat (Bezeichnung) und Denotat (Bezeichnetem) machen, um festzustellen, daß im Botanischen Garten die Denotate noch nicht blühen. Die Schildchen bezeichnen hier nicht das sichtbare, sondern das nur gedachte, das vorgestellte, das erwartete oder erhoffte Blümchen. Die Erde ist noch winterlich hart. Die Pflanzennamen sollten vielleicht mit einem Ausrufungszeichen versehen werden: "Primula veris! Kommst du wohl heraus! Los, raus aus der Erde, ,Echter Himmelsschlüssel'!"
Doch vielleicht wächst ja anstelle des angekündigten "Himmelsschlüssels" eine "Stinkende Nieswurz" heran. In diesem Fall muß man entweder die Denotate korrigieren, indem man die falsche Pflanze umbettet oder ausreißt, oder die Designate, indem man die Schildchen austauscht. Oder der Fall, daß anstatt eines bekannten Krauts ein unbekanntes Unkraut sich unter dem ovalen Namen versteckt. Das Unkraut wächst dann unter falschem Namen ins Blaue. Solch Undercover-Existenz wird von den Botanikern bald entdeckt. Sie identifizieren die unordentliche Pflanze und liquidieren sie dann. Es ist wieder Platz für die ersehnte Ankunft des "Echten Himmelsschlüssels". Denn bald ist Ostern.

Caravaggios Blumenkörbe

Er holte sich die Modelle für die Heiligen von der Straße und malte Christus mit schmutzigen Fingernägeln. Der Naturalismus Caravaggios (1570–1610) revolutionierte die im Manierismus erstarrte Malerei. Ein Vortrag von Sybille Ebert-Schifferer, der Direktorin des Hessischen Landesmuseums Darmstadt, in den überfüllten Räumen der Deutsch-Italienischen Vereinigung behandelte, was meist nur Fachleuten bekannt ist: Obzwar Caravaggio vielleicht nicht der erste war, der ein Stilleben malte, so doch derjenige, welcher ihm als neuer Bildgattung zu Durchbruch verhalf. Dazu bedurfte es der Kenntnis von Leonardos Naturstudien und günstiger Umstände: Im Mailand der Gegenreformation fand sich ein Kreis humanistisch gebildeter Kirchenmänner und Auftraggeber, welche die Größe Gottes auch in den niederen Geschöpfen zu feiern empfahl und im Rückgriff auf die Kunstliteratur der Antike die Lebensechtheit der Malerei befürwortete.
Schon die Natürlichkeit von Myrons Kuh war einst mit der Behauptung gepriesen worden, ein Bulle habe sie bespringen wollen. Oder man schrieb von Weintrauben, die derart echt gemalt waren, daß die Vögel in die Leinwand pickten. Garavaggio arbeitete nicht nach dem Vorbild alter Meister, sondern nach der Natur. Er malte, was er sah. Sein bahnbrechender Naturalismus hat eine lange Wurzel. Ein Blumenbild, bekannte er, koste ihn nicht weniger Arbeit als eines mit Figuren: ein Postulat der Gleichwertigkeit des Stillebens mit dem Historienbild. Das faktengespickte Referat gab einen Eindruck von der detektivischen Präzisionsarbeit des Kunsthistorikers. Notabene: Bei den erbittert geführten Diskussionen um Datierung und Zuschreibung von Kunstwerken geht es um Millionen.

Rodin-Ausstellung auf Mallorca

Etwas tun für den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Die Aktivitäten der Banktochter „la Caixa“ / Rodin-Ausstellung auf Mallorca

PALMA. An einem windigen Abend drängen die Besucher zu Hunderten ins ehemalige Gran Hotel von Palma de Mallorca. Eröffnet wird die Ausstellung Auguste Rodin und seine Beziehung zu Spanien. Links vom Portal sieht man hinter den breiten, säulenflankierten Fenstern die Kellner an der kreisrunden Bar hantieren, wo sich später die Ausstellungsbesucher erfrischen werden, rechts vom Portal befindet sich die beste Kunstbuchhandlung Palmas. Dort kauft man den – leider nur katalanisch und mallorquinisch verfaßten – Katalog.
Das im Jahre 1903 errichtete Gebäude an der Placa del Mercat, das erste moderne, architektonisch anspruchsvolle Hotel Mallorcas, wurde 1991 Sitz der Fundacio la Caixa, einer Stiftung der Caixa d'Estalvis i Pensions de Barcelona, einer der größten Banken Spaniens. Sie ließ das Gebäude 1992 bis ins Detail der stuckverzierten Fassade wiederherstellen. Das mit großen Oberlichtern versehene Foyer, durch die man die Wolken ziehen sieht, ist ein Innenhof, um den vier mit einem Geländer gesäumte Stockwerke liegen: die Büro-, Bibliotheks- und oberen Ausstellungsräume der Fundacio.
Im Foyer trifft der Besucher auf den Großen Schatten, jene unter dem Eindruck von Michelangelos Sklaven geschaffene Bronze eines erschlaffenden, im Niedersinken begriffenen Mannes, der – verdreifacht – das Höllentor im Pariser Musee Rodin krönt. "Laßt jede Hoffnung, die ihr mich durchschreitet", lautet die Torinschrift in Dantes Göttlicher Komödie. Die Gestalt eines wie schlaftrunken stolpernden, aus dem Naturzustand langsam erwachenden und zu Bewußtsein kommenden Jünglings, das sogenannte Eherne Zeitalter – in Rodins OEuvre ein Schlüsselwerk -, steht im Zentrum des ersten Ausstellungsraumes. Die labilen Haltungen des Erwachens und des Dahinsinkens deuten beide auf die Schwelle hin, die es zu überschreiten gilt.
Die unsichere Haltung kennzeichnet auch die dritte Großplastik: Eva, die Arme schamvoll und abwehrend vor der Brust verschränkt. Die Skulptur erinnert an Michelangelos Vertreibung aus dem Paradies (Sixtina). Die vierte große Skulptur ist die des nackten Jean de Fiennes, einer der sechs edlen Bürger von Calais, die, barfuß, barhäuptig und Stricke um den Hals, dem englischen König die Schlüssel auslieferten und, damit er die Stadt und ihre Einwohner verschone, auch ihr Leben. Daß der Belagerer ihnen das Leben ließ, erklärt die Chronique de France so: "Er hörte auf seine Gemahlin, weil sie sehr schwanger war."
Die Ausstellung zeigt – noch bis 19. Januar – Jean de Fiennes, der fassungslos die Arme ausbreitet, noch einmal bekleidet zwischen den anderen bürgerlichen Helden, alle als kaum 50 cm hohe Einzelfiguren. Trotz kleiner Formate: ihre Wirkung ist stark. Erinnert sei daran, daß Rodin die Gruppe ohne Sockel aufzustellen gedachte, im 19. Jahrhundert, das zu seinen Heroen aufschauen wollte, eine skandalöse Erfindung (von der heute noch etwa Duane Hanson zehrt, wenn er seine lebensechten Nachbildungen mitten unter die Leute stellt).
Zu sehen sind in Palma viele Kleinplastiken, die psychische Zustände dramatisieren sowie das Verhältnis der Geschlechter, das dem 19. Jahrhundert unüberbrückbar schien. Das Pathos befremdet heute. Die Zeichnungen von Tänzerinnen, die in "gewagten" Stellungen posieren, schockierten einst die Bürger; Harry Graf Kessler mußte als Weimarer Museumschef demissionieren, als er sie auszustellen wagte. Unglaublich lebendig sind die Köpfe von Mahler, Baudelaire, Madame Morla-Vecuna und das leidzerfurchte Gesicht eines Arbeiters, des berühmten Mannes mit der gebrochenen Nase. Die meisten Leihgaben entstammen dem Musee Rodin, Paris. Rodins Verhältnis zu Spanien – der Untertitel der Ausstellung – wird dokumentiert anhand seiner Spanienreise im Jahre 1905. Sein Malerfreund Zuloaga konnte ihn dort allerdings nur mühsam für Velasquez und El Greco interessieren.
Wer kann eine solch aufwendige Ausstellung finanzieren? Das Erstaunliche, Besondere, Vorbildliche an der 1991 aus der Fusion zweier Banken hervorgegangenen Fundacio la Caixa ist ihr breites Engagement für das Gemeinwohl. Aus Profiten der Bank richtet sie, als Stiftung eine eigenständige Institution, nicht nur Ausstellungen wie diese aus, sondern engagiert sich in umfassender Weise auch sozial: 1995 mit einer Aufklärungskampagne gegen Aids an 5000 Schulen, also 70 % der Schulen Spaniens. Dazu finanziert sie Forschungs- und Hilfsprogramme. Außerdem Aktivitäten, die das Herausfallen der alten Menschen aus der Gesellschaft verhindern sollen. La Caixa hat in Barcelona, Madrid und Palma Zentren und arbeitet in vielen anderen Städten und Dörfern des Landes: nicht hier und da und hin und wieder, sondern flächendeckend und kontinuierlich.
Wie sehr die Leute von la Caixa in Zusammenhängen denken, zeigt etwa das Projekt Das Salz des Lebens (1995). Salz, eine so fraglos gewordene alltägliche Substanz, wird unter wissenschaftlichen, gesundheitlichen, politischen, ökonomischen, kulturellen, künstlerischen, religiösen und geographischen Gesichtspunkten untersucht. Auf ähnliche Weise geht la Caixa das Thema "Wasser" an. Ein anderes Programm richtet sich auf die Erhaltung der historischen Städte und der Umwelt (das „Erbe“). Die Fundacio organisiert und finanziert des weiteren Konzerte, Fotoausstellungen, wissenschaftliche Seminare, Vorträge, Preise, Stipendien und unterhält Spezialbibliotheken. Stolz kann sie berichten, daß 1995 fast sieben Millionen Menschen ihre Dienste in Anspruch nahmen.
Schon lange denken Soziologen über die Agonie der Gesellschaft und die Diskrepanz zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut nach. Die Kassen der Kommunen sind leer, die der Banken sind voll. Selbstredend kauft la Caixa auch junge Kunst. Aber sie tut noch weit mehr für den gefährdeten Zusammenhalt der Gesellschaft.