Kategoriearchive: Text in der Frankfurter Rundschau

Salvatore A. Sanna

Im deutschen Wetter
Salvatore Sanna und seine Begeisterung für das Projekt, deutsche und italienische Kultur zusammen zu bringen

"Was willst du deutsch lernen, sagte mein Vater zu mir." Das war 1954. In Sardinien musste man damals nicht wissen, dass "deutsch" eine Zukunft hat. Salvatore Sanna spricht das Deutsche ohne Akzent. 1958, als man Italiener bei uns noch nicht mochte, versuchte er, mit einem Jahresstipendium der sardischen Regierung in Köln zu studieren. "Es war so kalt," sagt er, "dass ich mit Mantel und Mütze geschlafen habe." Deutsches Wetter eben. Dann vertrat er einen Sizilianer an der Berlitz-School. So wurde er zufällig Lehrer.
Das Klischee verlangt, dass Italiener Restaurants, Delikatessenläden und Modegeschäfte betreiben, aber dass sie erfolgreiche Intellektuelle sind, und das im Ausland, erwartet man nicht. Erfolgreich ist Sanna, weil er es verstanden hat, seine vielseitigen Interessen zu bündeln und finanziell zu fundieren. Im Jahre 1966 hat er mit seiner (verstorbenen) Freundin Trude Müller die Deutsch-Italienische Vereinigung gegründet, mit 4000 Mark, die er für seinen Ford bekommen hat.
Der Verein, der heute über 5oo Mitglieder und 16 Mitarbeiter zählt, lässt sich durchaus mit einem Goethe-Institut vergleichen, nur dass Italien dafür keine Lira locker machen muss. Es ist eine reine Privatinitiative, denn Sanna schätzt seine Unabhängigkeit.
Das Programm bietet Sprachkurse, Vorträge und eine Galerie – die Westendgalerie –, die vornehmlich italienische Künstler zeigt, darunter Größen wie Fontana, Dorazzio, Morandi, Vedova, Melotti, deren Werke auch in Sannas winzigen, mit Büchern und Katalogen vollgestellten Büro zu sehen sind.
Die hübsche kleine Villa in der Arndtstraße hat der Verein 1974 von der italophilen Eigentümerin kaufen können, nachdem Bundesbankpräsident Blessings Vize, der Sozialdemokrat Heinrich Tröger, nach einem Galeriebesuch einen Kredit vermittelte. Auch Glück, gewiss. "Wenn man Begeisterung hat, hat man auch Glück," sagt Sanna. Und von nirgendwo Unterstützung? Doch, von der Stadt Frankfurt, 3 400 Mark im Jahr. Im Jahr!
Gleichwohl sagt Sanna Gutes über die Stadt: "Frankfurt ist, verglichen mit anderen Städten, Ausländern gegenüber großzügiger. Neulich bin ich noch um 18 Uhr wählen gegangen. Die haben sich gefreut: ein Ausländer!" Und: "Die Art, wie man hier lebt, sprach mich an."
Außer den Verein hat Sanna die Zeitschrift Italienisch mitgegründet, die seit 1979 erscheint, zuletzt mit der Nr. 44. Sie ist – mit Ausnahme von Zibaldone – hier die einzige wissenschaftliche Zeitschrift über italienische Literatur. Außerdem war Sanna, der über die politische Satire Heinrich Heines in Cagliari promoviert hat, von 1962 bis 1998 Lektor und dann Studienrat im Hochschuldienst für Italienische Sprache und Literatur an der Frankfurter Universität. Nachdem er auf die Verfassung geschworen hatte, wurde er deutscher Beamter.
Und die Studentenunruhen? Einmal fanden zwei Studentinnen seine Lyrikvorlesungen unpolitisch und elitär. Sanna trickste sie aus: "Wissen Sie, wer der größte Lyriker ist? Mao Tse Tung."
Und endlich ist er außerdem ein Poet, 1996 ausgezeichnet mit dem Premio Pannunzio – mit einer Laudatio von Luigi Malerba. Er hat fünf zweisprachige Gedichtbände veröffentlicht. Der gemeinsame Nenner all dieser Aktivitäten ist für ihn "das Bestreben, die italienische und deutsche Kultur zusammen zu bringen, die einander ergänzen".
Nachdem er vor dem drohenden Militärdienst 1961 den Carabinieri entwischt und nach Deutschland "emigriert" war, hat er sich zunächst als Sprachlehrer und Übersetzer von Werbetexten durchgeschlagen. Seine Distinguiertheit hielt ihn nicht ab, auch für die IG Metall zu arbeiten, an Notizie, der Zeitung für italienische Arbeitnehmer. Er hat auch die Gewerkschaftssatzung übersetzt. Alle Aktivitäten des zart, aber fest wirkenden Mannes basieren auf der Sprache, die er beherrscht, die er liebt und mit deren Ambiguitäten er spielt, als Dichter. Wenn man Brücken zwischen den Kulturen schlagen will, welches Medium eignet sich dazu besser?
Und die Message? Sanna zögert nicht: "Sich für etwas begeistern". Der Mann ist 67 und er hat Feuer! Aber er sorgt sich. Wie soll er für den Posten eines – ehrenamtlichen – Geschäftsführers ("Ich kriege nichts") einen Nachfolger finden, bei einem Acht-Stunden-Tag? Wenn Salvatore Sanna einmal aufhört, wird dann alles zusammenfallen, was er aufgebaut hat?

Frankfurter Rundschau vom 25.04.2001, S. 28, Ausgabe: R Region

Brigitte von Trotha

Erbin, Sammlerin, Händlerin
Die Frankfurter Galeristin Brigitte von Trotha über Kunstvermittlung in den neunziger Jahren – Jetzt lockt Berlin

"Das ist alles von der Tante." An der Wand die ganze klassische Moderne bis zu Richter. Bei der reichen Tante Schniewind, eine geborene (Sekt)-Henkel in Newiges bei Wuppertal, gingen die Künstler ein und aus, unter anderen Yves Klein und sogar der finstere Otto Dix. Die kunstsinnige Erbtante sammelte nicht nur deutsche Expressionisten, sondern alle Amerikaner der sechziger Jahre, offensichtlich gut beraten von dem legendären Galeristen Alfred Schmela.
Trotzdem ist Brigitte von Trotha nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren. Ihre Familie musste aus Trotha bei Halle fliehen. Übrigens: Ihre Familie – aber das gibt sie nur auf Anfrage zum Besten – ist mit Karl dem Großen verwandt. Mit Karl dem Großen!? Ja. Sie setzt ein kleines Grinsen auf. Und nach der Motivation für ihren Beruf – "ein Traumjob" – gefragt, sagt sie: "Wenn ich so eine tolle Sammlung geerbt habe, möchte ich auch darüber genauer Bescheid wissen."
So folgte Brigitte von Trotha ihrem Mann 1975 nach New York, der dort für die Deutsche Bank das Investment-Geschäft aufbaute. Ihr Mann ist ein von Ribbentrop, jüngster Sohn des nationalsozialistischen Außenministers. Probleme mit dem belasteten Namen hatten sie aber nicht, auch nicht bei ihren jüdischen Freunden. Sie waren ja ein junges Paar. "Die Leute waren neugierig".
Die Frankfurter Galeristin machte in New York ihren Bachelor of Art über die Italienische Renaissance und begann nach ihrer Rückkehr 1987/88 beim renommierten Auktionshaus Sotheby’s. Bloß Auktions-Ausstellungen zu organisieren, gefiel ihr auf Dauer aber nicht, denn mit Künstlern kam sie dabei nicht in Kontakt. Und genau das ist, was sie auch heute interessiert. So ging sie als Geschäftspartnerin und "Consultant" zu Achenbach, dem von allen Galeristen gefürchteten Düsseldorfer Kunstausstatter, der in Düsseldorf, Bonn, Hamburg, München, Berlin Filialen hat. Sie managte mit Frau von Oynhausen die Frankfurter Filiale, die zum Beispiel Cindy Sherman zeigte.
Achenbachs umstrittenes Konzept, die corporate identity großer Konzerne – etwa der Victoria-Versicherungen oder der Telekom – über Kunst "richtig zu fundieren", findet sie auch heute in Ordnung (die Beton-Firma Hebel etwa wird mit Kiecol ausgestattet, der in Beton arbeitet).
Heute, ist es in Folge der Fusionswelle mit corporate identity allerdings eher vorbei. Ihr gefiel, dass man die Kunst in großem Stil von vornherein einplanen konnte, keine Versatzstücke, keine drop sculptures, sondern eine konzeptuelle Einheit. "Mit den Künstlern zusammenzuarbeiten, hat eben Spaß gemacht."
Als es Mitte der neunziger Jahre mit der Kunstberatung schwieriger wurde, weil die Konzerne in der Krise ihr Image eher durch Sozialsponsoring aufrecht zu erhalten suchten, machte Brigitte von Trotha im April 97 ihre eigene Galerie in der Frankfurter Feldbergstraße auf. Sie vertritt vorzugsweise internationale Künstler der Neunziger, junge Leute, "die mit ihren Arbeiten auch was aussagen wollen." Aha, Botschaften. Nein, nein, nicht didaktisch, aber eben keine Künstler, die "rein dekorativ" arbeiten.
Auf die brutale Frage, was an Kunst eigentlich so wichtig sei, sagt sie: "Weil sie Freude bringt." Moderne Kunst bringt Freude? Doch, zum Beispiel der kanadische Landschaftsmaler Pieter Doig. "Seine Landschaften sind einfach schön." Und dann die anderen, die "was zu sagen haben, schockieren und zur Besinnung bringen wollen".
Sie mag es durchaus, wenn Künstler ihre Arbeiten kommentieren. "Man braucht Erklärungen." Die Presse sei wichtig: "Es muss immer über einen gesprochen werden, über den Künstler und auch über die Galerie. Wenn ich es riskiere, einen jungen Künstler auszustellen, dann kommt die Presse meist nicht. Stelle ich jemanden aus wie etwa Alex Katz, kriege ich einen Artikel. Die Käufer kaufen lieber Namen, weil sie wissen, da gibt es kein Risiko."
Sie riskiert. Es sind die jungen Künstler, für die Brigitte von Trotha sich einsetzt, etwa Markus Ambach, Maria Friberg, Detlef Beer, auch die Frankfurter Künstler Ulrich Becker, Steffi Hartel und Andreas Exner. In Frankfurt, so glaubt sie, werde wenig über junge Künstler geschrieben. Hier werde mehr "das Etablierte noch mal gefördert". Die großen Kunstzeitungen wie Frieze oder Art Forum berichteten eher aus Köln und Berlin.
Geht jetzt auch sie weg? Von Trotha setzt wieder ihr kleines Grinsen auf. Sie suche eine Loft-Galerie wie in New York, keine Zimmergalerie, keine Ladengalerie. Der "reine Handel" interessiere sie nicht. "Berlin lockt mich sehr. Das ist eine neugierige, aufgeschlossene Stadt." Also nach Berlin. Und Frankfurt? "Ist so schön überschaubar." Übrigens auch von ihrer Dachterrasse.

Frankfurter Rundschau vom 21.02.2001, S. 30, Ausgabe: R Region

Peter Roehr in Köln

Strudel über Abflussrohr
Arbeiten des früh verstorbenen Peter Roehr in Köln

Das junge Publikum in der kleinen Kölner Galerie rechnet sich aus, in welchem Alter Peter Roehr die Filmmontagen gemacht hat, die es aufmerksam auf dem Monitor verfolgt.
Mit 21 Jahren. Wow! „Das Beste, was ich in den letzten zehn Jahren gesehen habe,“ urteilte damals der Düsseldorfer Avantgarde-Galerist Alfred Schmela, als Roehr ihm seine Mappe zeigte. Doch stellte er den Frankfurter Künstler nicht aus, weil er ihm noch zu jung war. Bald darauf starb Peter Roehr, mit 24 Jahren, 1968, als Flower Power, die Beatles und Pop Art die Welt auf den Kopf stellten und die Studenten auf die Straße gingen. Ihm waren für seine Arbeit gerade fünf Jahre geblieben. Zu Lebzeiten hatte er fünf Einzelausstellungen und verkauft hat er kaum etwas. Heute hängen seine Arbeiten im Museum und er gilt als einer der bedeutendsten deutschen Künstler jener Zeit und darüber hinaus.
Sein ebenso einfaches wie strenges Konzept besteht in der fugenlosen Reihung identischer industriell hergestellter Gegenstände. Zur seriellen Montage hatte der Künstler nur noch zwei Entscheidungen zu treffen, die Auswahl der anzuordnenden Objekte und die Festlegung ihrer Anzahl. Hinzu kommt die Grundsatzentscheidung, die Gegenstände möglichst quadratisch anzuordnen, das ideale Format, da es weder horizontal noch vertikal ausgerichtet ist. Die Gleichförmigkeit der Elemente, die Monotonie der Reihung und die Richtungslosigkeit des Formats garantieren größtmögliche Ruhe, die weitgehende Abwesenheit jeder Dramatik. Das Konzept war gegen das Subjektivistische der damals noch vorherrschend gestischen Malerei und der Komposition gerichtet. Der Künstler als Ausnahmemensch und Weltenschöpfer war nicht nur Roehr verdächtig.
Nach der umfassenden Retrospektive im Neuen Museum Weimar vom vergangenen Jahr zeigt die junge Kölner Galerie BQ ein Konzentrat des schmalen Oevres aus dem von Paul Maenz verwalteten Nachlass des Künstlers. Interessant sind die frühen (1963) hektografierten Blätter mit Serien jeweils eines einzigen mit Schreibmaschine getippten Zeichens (Typografien) auch darum, weil Roehr das Prinzip der Serie – als Hektografie – aus der Kunst in die Warenwelt fortsetzt, der es ja ursprünglich entstammt. Roehr hatte ein quasi-mechanisches Verfahren gefunden: drückte er bei den Typografien nur die selbe Taste, so montierte er etwas später die selben Kaufhausartikel – Büchsen, Knöpfe, Schachteln – oder identische Fotos aus Werbebroschüren in Reihen hinter- und untereinander. Ausgestellt sind weiter fünf gleiche Arbeiten aus 7 mal 7 zu einem Quadrat angeordneten runden Lochverstärkern. Auch hier nicht nur identische Elemente, sondern darüber hinaus schon die Tendenz zur Identität der Arbeiten selber, wie die berühmten Tafeln schwarzer Etiketten, mit denen er sein Werk 1967 abschloss.
Mit der Identität der Elemente und ihrer fugenlosen Reihung entfällt alle Information, die aus Differenzen zu ziehen wäre – wie etwa bei Warhol und später bei Allan McCollum („perfect vehicle“). Interessant an den Filmen (wie bei den nicht ausgestellten Fotoarbeiten) ist der Kampf der suggestiven Inhaltlichkeit der Bilder gegen den Effekt ihrer Wiederholung. Bei welcher Anzahl von Wiederholungen verliert sich der Bildinhalt? Es kam Roehr darauf an, den Punkt herauszufinden, an dem sich eine durch die Wiederholung erzeugte Struktur vom Inhalt ablöst, verselbstständigt und die Bildsemantik dominiert.
Es ist spannend zu verfolgen, wann der oft hochdramatische Inhalt der Sequenzen – etwa ein herabstürzendes und explodierendes Auto, ein ins Wasser stürzender Lastwagen oder ein gefährlich anmutender Strudel über einem Abflussrohr – seine Kraft erschöpft und die reine Bewegungsstruktur hervortritt. Roehr schrieb: „Ich verändere Material, indem ich es unverändert wiederhole.“ Die Tonmontagen – meist aus Werbesendungen im Radio – sind in der Galerie per Kopfhörer erfahrbar.
Mit der Minimierung der Entscheidungen nahm Roehr sich als Künstler soweit zurück wie es irgend ging. Die Objektivierung ist derart, dass die Montage – hier der Vorgang des Tippens oder Schneidens – auch anderswo von irgendwem hätte vorgenommen werden können. Radikaler als alle vergleichbaren Künstler hat Roehr den Paradigmenwechsel von originärer Kreativität zu standardisierter Kunstproduktion vollzogen. Zuletzt wollte er Kunst zum Selbermachen vertreiben. Dann gab er die Kunst ganz auf.

Galerie BQ, Wormser Straße 23, Köln, bis 24. Februar 2001.

Angelika Nollert

Rechte Hand mit Silberschmuck
Immer höflich, aber beharrlich: Angelika Nollert wechselt vom Frankfurter Portikus zur Kasseler Documenta

"Auch die rechte Hand geht," sagte einer. Das klingt der Sprache nach heikel, der Sache nach stimmt’s. Angelika Nollert, Kasper Königs Assistentin und Kuratorin von 18 Portikus-Ausstellungen, hat Frankfurt verlassen. Mit Markus Müller – freigestellter Pressesprecher des Westfälischen Landesmuseums in Münster – bildet sie nun den Kern von Okwui Enwezors Documenta-Team. Eine Riesenchance.
Kasper König wird immer wieder nachgesagt, er habe überall seine Hände im Spiel. Hat er Nollert nach Kassel gehievt? "Nein", sagt Angelika Nollert. Es war Markus Müller, jetzt Leiter der Kommunikation, der sie vorgeschlagen hat. "Sind Sie ehrgeizig?" "Ich glaube, eher nicht." Dabei stellt sie die Füße nach innen, wie manche Mädchen es tun. "Mich interessieren die Themen und die Leute, mit denen man zusammenkommt." Für diese Stelle hat die Kunsthistorikerin (Jahrgang 1966), die über Landschaftsmalerei promoviert hat und noch immer so eifrig spricht wie eine sehr gute Schülern, die sie wahrscheinlich einmal war, einen in Aussicht stehenden Museumsposten ausgeschlagen. "Das kann ich später immer noch machen."
Bei der Betreuung der Documenta-Künstler, die ihr obliegt, wird es um die Umsetzbarkeit der Projekte gehen. Dabei wird sie viele internationale Kontakte knüpfen und neue Erfahrungen machen können – wie schon bei dem berühmten Skulpturen-Projekt in Münster, an dem sie 1997 beteiligt war. Anschließend kam sie nach Frankfurt. "Ich habe mich hier immer pudelwohl gefühlt. Ich finde Frankfurt sehr schön." Frankfurt schön? "Doch, ich komme aus Duisburg."
Man stellt sich vor, mit dem machtbewussten Kasper König sei nicht immer gut Kirschen essen gewesen. Findet sie gar nicht. Wie sieht sie ihren Anteil an der Zusammenarbeit? "Kasper König hatte eine stringente Linie", sagt sie, "unabhängig vom Zeitgeist". Sie habe beim brain storming eine "Färbung" hineingebracht. So hats ie den Schriftsteller Christian Jankowski, der im Portikus öffentlich ein Buch geschrieben hat,  und die Performance-Künstlerin Elke Krystufek vorgeschlagen, die ihren nackten Körper malträtiert. Die Kataloge des Portikus’, das war ganz ihre Sache. Natürlich musste König sein Okay geben. Eine Situation, dass sie etwas hätte durchdrücken wollen, gab es nicht, sagt sie. "Das ist nicht meine Art. Ich versuche es immer höflich. Ich streite mich nicht. Aber ich wiederhole mich oft, wenn ich etwas durchsetzen möchte. Steter Tropfen..." Sie lacht. An ihren beredten Händen blitzt ausgefallener Silberschmuck. Aber gibt es nicht doch eine typische Situation, die das Verhältnis von König und seiner rechten Hand illustriert? Bei der Ausstellung von Krystufek lief eine dichte Reihe von Selbstportraits um alle vier Wände. König wollte beide Fenster offen halten. Nollert war dagegen: Das unterbreche die Reihe. König: "Ich bin hier der Chef." Es war dann aber nur ein Fenster, das offen blieb.
Keine Frage, Angelika Nollert hat ein kooperatives Naturell. Doch die Art, wie sie spricht, verrät Insistenz. Die Kooperation mit dem nigerianischen Documenta-Chef  sei anders als die mit König. Enwezor sei sehr offen und mitteilsam. Als Philosoph will er möglichst alles sprachlich expliziert haben. Das sei eine intellektuelle  Herausforderung. Kasper König habe ja nie viel geredet. "Aber ich verstehe Kasper König auch, wenn er etwas nicht sagt – nach so vielen Jahren."
Auf Angelika Nollerts Anregung hat sich ein Freundeskreis zur Unterstützung des Portikus gebildet, Banker, Juristen, Galeristen, Künstler. Denn die improvisierte Ausstellungshalle der Städelschule – ein nackter Container hinter dem Säulenportal des zerbombten Stadtarchivs – von König zu einem der renommiertesten Kunstorte der Republik gemacht, stand finanziell stets vor dem Aus. Der "Zirkel" sollte mit Ideen und Einfluss Wege finden, der avancierten Kunst diesen Ort zu erhalten. Angelika Nollert hat das organisiert. Man wird sehen, was ohne sie daraus wird.
Hat sie nicht doch Lust, einmal selber zu bestimmen, wo es lang geht? Später. Erst die Kasseler Riesenchance. "Aber ich traue mir das zu", sagt sie und setzt hinzu, als habe sie zuviel gesagt: "Oder erscheine ich Ihnen zu selbstbewusst?"

Frankfurter Rundschau vom 16.01.2001, S. 33, Ausgabe: R Region

Meeresküsse mit behender Zunge von rosenroten Lippen geklaubt

Über Austern. Am Kamin. Bei Chablis.
Ein Gespräch zwischen Freunden. Eine Freundin

Armin: "Austern im Freien? Ohne Chablis, Schwarzbrot und gesalzene Butter? Einfach so aus der Faust? Ich weiß nicht. Scheint mir irgendwie stillos, nicht?"
Doro: "Stil!"
Armin: "Sei kein böses Mädchen, Doro! Schließlich genießt man ja auch, dass der Verzehr der schlüpfrigen Muscheltiere mit Kerzenlicht und Damastservietten plus Kellner im Frack ordentlich was kostet."
Doro: "Das ist Mackerstil von vorgestern. Wenn schon Stil, dann mein eigener!"
Armin: "Und dein Stil, wie ist der?"
Doro: "Dass ich so was nicht esse."
Botho: "Da kosten sie auf dem Markt nur 21 Franc das Dutzend."
Armin: "In Cancale? Das ist doch oben bei St. Malo. In der Bretagne. Das Dutzend für sieben Mark. Mein Gott! Da bekommt man ja einen Eiweißschock."
Botho: "Die Rentner schlürfen die Austern auf der Kaimauer."
Armin: "Rentner?!"
Botho: "Dazu haben sie eine Zitrone, die doppelt soviel kostet wie eine Auster. Man hat von dort oben die merkwürdigen Austernkähne im Blick. Sie sind flach, weil das Meer dort flach ist. Bei Ebbe sieht man die Austernbänke im Schlick liegen. Das sieht so romantisch aus wie ein Gemälde von Anselm Kiefer."
Armin: "Anselm wer?"
Botho: "Kiefer. Mit einsetzender Flut kommen sie mit den Austernkähnen über die weite Bucht des Mont St. Michel und setzen im Hafen auf den Strand, wo schon die Lastwagen warten. Während die See die Austernbänke vor der Kaimauer überflutet, schleppen die letzten wassertriefenden Bulldozer kahnähnliche Hänger mit platten Säcken voller Austern die Rampe hoch."
Armin: "Ja, Massenproduktion. Wissen Sie, es waren einmal Forellen, Hähnchen und Salm erlesene Delikatessen, die sich leistete, wer zu genießen verstand. Und heute bekommt man das alles beim ALDI. Zwei Stück Lachs für fünf Mark, habe ich gehört. Ich erinnere mich noch an die Primeurs: Wie genoss man die ersten Kirschen oder den ersten Spargel. Oder die ersten Trüffel – die weißen. Man kannte gewisse verschwiegene Lokale und fuhr mit mehreren Wagen dorthin, wo man sich einen großen Tisch vorbestellt hatte. Und dann! Einfach und gut – aber exklusiv. Denn diese Dinge hatten natürlich ihren Preis."
Doro: "Find ich saublöd, Primeurs. Warum können die nicht warten?!"
Botho: "Frischgeborene Kleinigkeiten, kaum eben aus der Erde."
Armin: "Das ist aber nicht von Ihnen, wie? Klingt lyrisch."
Botho: "Von Truman Capote, speziell über Primeurs."
Armin: "Oh ja, Truman. Der verstand etwas davon. Aber er hatte eine unerträglich quäkende Stimme und konnte sehr ordinär werden. Habe ich gelesen. Wie gesagt: Massenproduktion. Billigware für jedermann und rund um die Uhr. Erdbeeren zu Weihnachten! Übrigens: Womit knacken die Rentner denn die Austern? Die Schalen sind doch rasiermesserscharf!"
Botho: "Das macht Dominique. Er hat einen eisernen Netzhandschuh an. Übrigens gibt es eine Art Austern-Guillotine, "Cancalien", die horizontal schneidet."
Armin: "Witzig. Und die Schalen, was machen sie mit denen?"
Botho: "Die lässt man von der Kaimauer fallen. Unten liegen Millionen von weißen Schalen. In einigen Buchten findet man auch noch wilde Austern. Ich habe sie zuerst mit den Hinterlassenschaften der Kormorane verwechselt, die da immer rumsitzen."
Doro: "Austern sind einfach eklig! Da muss ich an die Lewinsky denken, die arme Wutz."
Armin: "Geschmackssache. Männer mögen Austern umso mehr. Spätestens seit Casanova der Emilia und der Armellina die glitschigen Meeresküsse mit behender Zunge vom Mäulchen klaubte, weiß man, dass es sich bei Austern um ein Aphrodisiacum handelt."
Doro: "Wozu brauchen die denn so was?!"
Armin: "Doro, Schätzchen! Also bitte! Es sind Franzosen!"
Botho: "Die Rentner ziehen am Hafen nasse zerzauste Hündchen hinter sich her und haben müllsackblaue Plastikbeutel in der Hand."
Armin: "Müllsackblau! Voller Austern vermutlich."
Botho: "Ja, einige tragen die Austern in die Reisebusse."
Armin: "In die Reisebusse!"
Botho: "Ja. Übrigens gibt’s in Cancale auch Engländer, die mal kurz von ihrer Insel herübergekommen sind. Sie sitzen in den diversen Tea-Rooms und essen Austern und schauen auf die Palmen."
Armin: "Anstatt ihrer ewigen fish-and-chips. Eine kultivierte Abwechslung. Wieso Palmen?"
Doro: "Ich liebe fish-and-chips, Cury-Wurst, Pommes und sowas!"
Armin: "Weil du so einen guten Geschmack hast, Schätzchen."
Botho: "Wegen dem Golf-Strom. Es gibt auch Feigenbäume, Pinien, Agaven und Mimosen. Ich habe übrigens mal im Meyers über Austern nachgesehen. Da steht: "In Amerika ist die Auster ein National- und Volksgericht."
Armin: "Austern ein Volksgericht und das in den USA! Aber von wann ist Ihr Lexikon?"
Botho: "Von 1890."
Doro: "Die essen jetzt alle lieber Hamburger. Eine Delikatesse sind die schleimigen Viecher ja nur, weil sie ein normaler Mensch nicht bezahlen kann."
Armin: "Nach deiner Logik, Doro, würden Austern in Cancale niemandem schmecken."
Botho: "Doch, den Rentnern."
Armin: "Ob die das wirklich genießen können, Botho?"
Doro: "Franzosen essen alles. Weiß man doch. Auch Schnecken, Froschschenkel, Nachtigallenzungen."
Armin: "Nachtigallenzungen? Du flunkerst, Doro. Im Ernst? Wo kriegt man die?"
Doro: "Beim Aldi."

Schnecken-Sex

Mach mir die Schnecke
Zeit für neue Vorbilder: Bei der Weinbergschnecke geht es drunter und drüber, drauf – und das mit Muße

Kürzlich brach Medientheoretiker Peter Weibel eine Lanze für den Cybersex. Masturbierende Monaden, das hält er nicht nur für unausweichlich, sondern für wünschenswert. "Pornofilme gucken oder sich vorm Internet einen runterholen", ist für Kultautor Michel Houellebecq der Normalfall des neuen Jahrhunderts. "Wir möchten einander von ferne nahe sein, darin sehen Avantgardisten die Beziehungsform der Zukunft", schreibt Anette Meyhöfer im SpiegeL Lust? Hat man dabei Lust? Meyhöfer spricht von "prothetischem Sex, bei dem sich Erektionen und Orgasmen künstlich herstellen lassen."
Alles cool und clean. Hat das feuchte Modell Casanova also ausgedient? Keineswegs. Es lebt fort und fort und wird uns für bessere Zeiten Vorbild sein. Allerdings: Es ist die Schnecke, welche die Utopie wach hält.
Die Weinbergschnecke (helix pomatia) hatte Tiervater Brehm 1878 noch zu den "niederen Thieren" gerechnet: "Ein Thier, mehr Bauch als Kopf, mühsam auf platter Sohle kriechend." Damit stand sie in der Hierarchie der Lebewesen mit Muschelwächter, Schamkrabbe, Bärenkrebs, Küstenhüpfer, Wunderauge, Walfischlaus, Kiemenfuß, Rüsselrädchen, Spritzwurm, Pfriemenschwanz, Wasserkalb, Doppelloch, Dreimund Grubenkopf und anderen auf einer Stufe.
Heute nun, in der Postpostmoderne, haben wir eine Sprachregelung gefunden, welche die Diskriminierung vermeidet. Wir sagen: Die Weinbergschnecke ist nicht ein "niederes Tier", sondern ein "anderes Wesen". Brehm hatte sich gegenüber der Weinbergschnecke bis zur politischen Diskriminierung verstiegen, wenn er von Schnecken mit linksgewundenem Gehäuse behauptete, dass diese "von Geburt an alle verkehrt gewunden waren, alle links, Revolutionisten vom Eie an". "Ein böses Spiel mit Vorurteilen" nannten die französischen Biologen Claude Nuridsany und Marie Perennou, deren sensationeller Film Mikrokosmos 1996 mit Starrding Ovations gefeiert wurde, solch herablassende, homo-zentrische Eingruppierung. Und dies nicht nur aus prinzipiellen Gründen, denn die Schnecken bewahren uns die Utopie einer sexJ eilen Vereinigung, bei der man so nah beieinander ist wie irgend möglich.

Halali mit Blaufuchspelz

Vom Jagen auf freier Flur

Dr. Breitinger war vor Zeiten in so genannten gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Doch kein Gemälde, sondern der Kopf einer Wildsau hing über dem Eichentisch, an dem seine Eltern sich in Jägersprache unterhielten, in welcher der Schwanz eines Hirsches "Wedel", der einer Sau "Pürzel", der eines Hasen "Blume" und der eines Fuchses "Lunte" heißt. Sein Vater pflegte den Trophäen persönlich Ort und Datum des Abschusses mit schwarzer Tinte auf den Schädel zu schreiben, denn er was das, was man einen passionierten Jäger nennt.
Wenn er kam oder ging, meist im grünen Lodenmantel, umtobte ihn eine Horde aufgeregt kläffender, streng riechender Dackel. Im Damenzimmer, in welchem nicht geraucht werden durfte, hingen Gehörne, und sogar ein "Zwölfender". Auf Fotos, die Breitinger aufbewahrt, schaut seine Mutter als schöne Dame aus einem Blaufuchspelz, sodass man nichts ahnt. Oder sie lächelt mit Brille und Baskenmütze frech aus dem eigenen Cabriolet. Aber dann gibt es ein Bild, das sie auf einem toten Hirsch thronend zeigt – das Gesicht vom Geweih wie von einer Gloriole eingerahmt, die "Waffe" quer über dem Knie.
Breitinger hat ungefähr am 3. November Geburtstag, dem Geburtstag des Heiligen Hubertus, des Schutzpatrons der Jäger. Daher ist verständlich, dass Dr. Hubertus Breitinger die Jagd aus sehr subjektiver Perspektive betrachtet und seine Urteile hart sind.
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Dem Jäger Hubertus, der von 658–737 lebte, soll in den Wäldern der Ardennen ein kapitaler Hirsch erschienen sein, der im Geweih ein leuchtendes Kruzifix trug – wie auf der bekannten Kräuterschnapsflasche. Der Hirsch sprach: "Hubertus, warum jagst du mich?" Der wilde Jäger beantwortete diese Frage, indem er den höfischen Jagddienst verließ und ins Kloster ging, das, nachdem er heiliggesprochen worden war, zum Wallfahrtsort St. Hubertus wurde, wo die Jäger – und Metzger – den geläuterten Jagdwüstling in Umzügen feiern. Hubertus war zum Ideal des honorigen Jägers geworden – obwohl er doch die Jagd aufgegeben hat.
Der Hubertustag ist für die Jäger der Tag der Besinnung. Überall werden Hubertusreden gehalten, Hubertusmessen gelesen und Hubertusbälle gegeben. Die Hubertuslegende, heißt es etwa in einer Rede (1982), diene den Jägern als Mahnung, "das Wesen der waidgerechten Jagd zu erkennen und durch entsprechendes Handeln den Schöpfer im Geschöpfe zu ehren".
Die Waidgerechtigkeit ist die oberste Norm des waidmännischen Ehrenkodex, nach welcher die Tiere kunstgerecht, d.h. nach Regeln gejagt werden müssen. "Blattschuss" und "Fang", der Schuss bzw. Dolchstich ins Herz, gelten als Bestform des Tötens. Das regellose Jagen charakterisiert dagegen den verachteten Wilderer, der das Wild erlegt, wann, wie, wo und sooft er kann. Als Gottes Geschöpfe sind Mensch und Tier, Jäger und Wild, "Brüder". Doch gibt es eine im 1. Buch Mose begründete Hierarchie, nach welcher der Mensch über alles Getier herrschen soll. In den Hubertusreden fehlt der Bezug auf diese Bibelstelle ebenso wenig wie die Distanzierung von den grausamen und theatralischen Praktiken der feudalen Jagd.
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Wenn auch in Barock und Rokoko nach Regeln gejagt wurde, die wenigstens beim Töten und Zerteilen des erlegten Wildes jeden Handgriff vorschrieben und unvorschriftsmäßiges Töten vor der ganzen Jagdgesellschaft mit Schlägen der flachen Klinge bestraften, so gelten doch die im feudalen Frankreich üblich gewesene Parforcejagd und die so genannte "Eingestellte Jagd", wie sie an deutschen Fürstenhöfen praktiziert wurde, heute als nicht waidgerecht. In beiden Fällen handelte es sich um Veranstaltungen mit dem Charakter eines Gesellschaftsspiels. Es waren Feste.
Die französischen Louis pflegten in hierarchischer Formation und manchmal bei Fackellicht ein einziges ausgesuchtes kapitales Wild kilometerweit über die reifenden Felder ihrer Untertanen zu jagen. Das endlich erschöpfte Tier mit dem Hirschfänger zu töten, war Vorrecht des Königs, nachdem, um den Herrscher nicht zu gefährden, dem Tier die Sprunggelenke durchschnitten worden waren. Das Dahinjagen zu Pferde war die Freude des rittfesten Adels, geschossen wurde dabei nicht. Man spielte Kavallerie. Das kapitale Wild war Stellvertreter des Gegners.
Umgekehrt und eher infanteriemäßig ging es in Deutschland zu: Hier trieb man bis zu tausend Tiere auf einem mit Lappen eingehegten Terrain zusammen, wo die Herrschaften hinter Schutzschirmen stehend schossen, bis die Büchsen glühten. Konnte ein Tier ausbrechen, "ging es durch die Lappen".
Im Rokoko, in allem maßlos und theatralisch, liebte man es auch, das Wild durchs Wasser zu jagen, das seine Fluchten beschaulich verlangsamte. Man jagte auch maskiert, die Damen als Dianen und Nymphen verkleidet, mit Jagdwagen, die von Hirschen gezogen wurden, und von Musik begleitet. Ja, man ging beim so genannten figurierten Jagen so weit, sogar die Hunde zu kostümieren. Bei "Lustkampfjagden", die auf den Schlosshöfen der Residenzstädte veranstaltet wurden, hetzte man ganz wie in den Arenen des kaiserlichen Roms Tiere verschiedenster Art aufeinander, Bären, Stiere, Hunde und Eber, zwischen die man zur Anregung Knallkörper warf.
Während die Bauern verhungerten, verfütterten die Jäger das Korn an das Wild, das sich unmäßig vermehrte und die Felder kahl fraß. Es bildeten sich Banden von Wilddieben, die sich mit den fürstlichen Jagdaufsehern erbitterte Scharmützel lieferten. Die unerträglichen Jagdfronen führten zum Aufruhr und waren in Frankreich mit ein Grund für die Revolution. Denn kaum etwas charakterisierte feudale Willkür und Rechtlosigkeit des Volkes so anschaulich wie die rücksichtslosen Jagden.
Die Jagd war ein Politikum. Die Wildschütze wurden zu Volkshelden. Und die Strafen für Wilddieberei überstiegen jedes Maß. "Man schnitt Wilddieben die Ohren ab, haute ihnen eine Hand ab, stach ihnen die Augen aus, nagelte ihnen ein Hirschgeweih auf den Kopf und hängte sie damit an den Galgen", heißt es in einer Geschichte der Jagd. Die Strafen waren darum so schwer, weil das Jagdprivileg wie der Landbesitz ein Attribut der adligen Herrschaft war. Jagdfrevel galt als Aufruhr.
Bei der Großen Französischen Revolution schenkte das siegreiche Volk in seiner Großmut auch den in der Ménagerie Royale de Versailles gefangenen Tieren die Freiheit. Nur ein Löwe, ein Büffel und ein Nashorn mussten bleiben, weil sie zu gefährlich schienen. Als die Revolutionen von 1848 dem Adel das alleinige Jagdrecht genommen hatten, kauften sich bald die wohlhabenden Bürger in die von den Gemeinden pachtbaren Reviere ein. Das Bürgertum suchte das Jagen als natürliches Recht zu legitimieren, das im Römischen Reich wie in Germanien jeder freie Mann besessen hatte.
Mit der Romantik entwickelte sich, was wir heute "Naturverbundenheit" nennen. Der Natur durfte sich jeder verbunden fühlen. Das Recht zu Jagen stand im Prinzip nun jedermann frei, sofern er in Deutschland den mit einer Prüfung verbundenen Jagdschein erwarb und das Geld besaß, um eine Jagd zu erwerben oder zu pachten, sich einen Abschuss zu kaufen oder doch wenigstens als wichtige Persönlichkeit zur Jagd eingeladen wurde. Die Bürger, die zuvor an Stelle des dem Adel vorbehaltenen Degens nur einen Spazierstock tragen durften, genossen das Waffentragen in Wald und Flur als Erhöhung ihres gesellschaftlichen Status.
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War die Jagd früher unverkennbar im partikularen Interesse gewesen und jede Legitimation mehr oder weniger durchsichtig, so können die Jäger heute, da die Zerstörung der Natur jedermann vor Augen steht, mit einiger Plausibilität behaupten, ihre Tätigkeit diene dem Naturschutz. "Der Feudaljäger einer vergangenen Zeit ist nicht mehr existent. Jagd ist heute angewandter Naturschutz", heißt es in einer Hubertusrede. Gleichwohl sägen militante Naturschützer Hochsitze an und verbreiten im Internet Slogans wie diesen: "Tränkt den Waldboden mit Jägerblut, nicht mit Bambiblut!"
In den meisten Reden wird die Jagd als Hege beschworen. In volkswirtschaftlichem Jargon wird die " Hege" als "Bewirtschaftung des Wildes" bezeichnet, worunter die Bestandserhaltung in der gewünschten Altersstruktur zu verstehen ist. Hegende Maßnahmen sind der Hauptsache nach die Wildfütterung, die Einrichtung von Ruhezonen für das durch Autoverkehr, Landwirtschaft und Freizeitaktivitäten gestresste Wild und schließlich die Jagd selber. Sie wird "Hege mit der Büchse" genannt. Tatsächlich ist es das Verdienst der Jäger und ihrer starken Lobby, dass ganze Landstriche vor dem Zugriff der Landwirtschaft und Industrie bewahrt wurden. Es scheint so, als sei aus dem Herrenvergnügen gemeinnützige Arbeit geworden.
Bemerkenswert ist allerdings, dass sich die Jäger als Naturschützer vornehmlich für das jagdbare Wild interessieren. "Wer ist nicht daran interessiert, ein Hauptschwein zu erlegen. Aber man kann den Lohn der Hege nur ernten, wenn man zielstrebig die Hegeziele verfolgt hat", heißt es im "Hessenjäger", einem Verbandsorgan. In eingezäunten Ruhezonen, einer Art Zoo, füttern die Jäger, wie ihre Kritiker behaupten, das jagdbare Wild durch den Winter und züchten so trophäenstarke Tiere für den Abschuss heran. Das Wild verliert dann gerade die Eigenschaft, welche das "edle Waidwerk" überhaupt begründet: seine Freiheit. Es wird zum Vieh.
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Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset hat zur Zeit Francos und Adenauers "Meditationen über die Jagd" (1953) veröffentlicht, auf welche sich Hubertusredner noch heute gern beziehen. Obwohl die Jagd, anthropologisch gesehen, von Anfang an als Treibjagd eine gemeinschaftliche, d.h., soziale Veranstaltung war, weil die frühen Menschen ohne wirksame Distanzwaffen große Tiere nur gemeinsam erlegen konnten, stilisiert Ortega die Pirsch, die Jagd des einsam dahinschleichenden Jägers, zur typischen Jagd. Diese Argumentation feiert den einsamen Jäger als einen Mann, der noch über die natürlichen Triebe verfüge, welche bei anderen degeneriert seien. "Die Jagd ist die Nachahmung des Tieres. Wer sie als ein menschliches Faktum auffasst und nicht als ein zoologisches Faktum, das der Mensch wieder zum Vorschein bringen will, versteht nicht, was Jagd ist."
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Es gilt als selbstverständlich, dass das Jagen Männersache ist, auch wenn ein paar Frauen dabei mittun. Durch das staatlich verliehene Recht zu töten besitzt die Jagd einen hohen sozialen Status und ist daher bei allen beliebt, die sich zur Oberschicht zählen möchten. Das Recht, zu töten aktualisiert Gefühle einer obsoleten Souveränität, die in einer europäischen Demokratie niemand mehr hat und die stellvertretend am Wild exekutiert wird. Bekanntlich war die Jagd auch ein bevorzugter Sport des realsozialistischen "Arbeiteradels". Das Ethos der Waidgerechtigkeit, Ehrenkodex (bei Verfehlungen gibt es Ehrengerichte), Prüfungen, Fachsprache, Uniformierung in grünem Tuch, schließen die Jäger zunftartig zu einem Männerbund zusammen.
Bemerkenswert sind die vielen Umschreibungen des Tötens: Der Jäger "schöpft den Überschuss ab", "entnimmt die Tiere dem Besatz", "entnimmt ein Stück Wild aus der Wildbahn", greift "in die Altersklasse ein", "macht Strecke". "Warum jagen und töten wir?" fragt ein Hubertusredner. Und: "Darf der Mensch am Töten eines Mitgeschöpfes Freude empfinden?" Zur Antwort zieht er einen kühnen Vergleich. Für die mühevolle Sättigung aller Triebe habe der Schöpfer "die Lust als Prämie" gesetzt. Wohlgemerkt: Nicht das Töten, sondern das Jagen sei eine Lust, dessen notwendiger Bestandteil freilich das Töten ist.
Auf dem Hintergrund der Macht über Leben und Tod verliert der Vergleich der Jagdlust mit der Liebeslust jede Harmlosigkeit. Denn die Schusswaffe wird allgemein als Symbol des männlichen Genitals verstanden. In den Romanen des 18. Jahrhunderts stirbt die Frau im sexuellen Akt den "Liebestod". Dabei erhöht der Widerstand des Wildes die Lust des jagdlüsternen Mannes. Die Schwierigkeit der Jagd macht für den Liebhaber wie den Jäger den "Abschuss" um so kostbarer.
Das Töten wird auch heute noch ästhetisch erlebt: Inhaltlich gesehen, besteht der Genuss nach vielen Zeugnissen darin, das zu töten, was man liebt. Dass die Jäger die Tiere mehr lieben (Naturverbundenheit) als andere, behaupten sie immer wieder. Es wird dann von Tragik gesprochen, geradeso, als handle es sich um die von Gott befohlene Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham. Lustgefühle durch Schmerz zu steigern, ist notorische sexuelle Praktik. Ist das Mitleiden jedoch vorgeblich, handelt es sich um eine sentimental gewürzte Brutalität, die eher dem Machismo entspricht.
Der Form nach ästhetisch gilt der perfekte Schuss nach kunstgerechter Jagd mit hohem Schwierigkeitsgrad. Die Schönheit des künstlichen Todes wird oft der Hässlichkeit des natürlichen Todes gegenübergestellt. "Antipoden der Zivilisation" (aus einer Hubertusrede) zu sein, leugnen die Jäger keineswegs. Im Gegenteil beziehen sie gerade daraus, dass sie Triebe ausleben, die andere Menschen sublimieren – Kultur entwickelt sich Freud zufolge aus der Sublimation der Triebe –, ihr elitäres Bewusstsein einer gesteigerten Vitalität. Doch auch Frauen gefällt es, "Herr zu sein über Leben und Tod", bekennt eine Dame im "Hessenjäger". Und eine andere Jägerin eröffnet, nur als sie schwanger gewesen sei, habe sie nicht schießen mögen.

Dr. Hubertus Breitinger erinnert sich, wie stolz er als Junge gewesen war, als seine Mutter einmal auf dem Rummel in der Schießbude alle Blumen abgeräumt hatte. Noch mit achtzig hat sie den Bürgermeister des Dorfes, in dem sie nun wohnt, im freihändigen Wettschießen besiegt. Als er seine Mutter einmal fragte, was sie denn gefühlt habe, wenn ein Hirsch sich, von ihrer Kugel getroffen, im Todeskampf aufgebäumt und blutend ins Gebüsch geschleppt habe, antwortete sie nach kurzer Überlegung: "Dass es ein Blattschuss war, mein Junge."

Konstantin Adamopoulos

Der Doppelagent
Zwischen Künstler, Museen und Kunstkritik: Konstantin Adamopoulos ist freier Kurator

Er wohnt zwischen piepsenden, schnarrenden und tackernden Kommunikationsapparaten in einem pittoresken Hinterhaus mit Blick auf seine Ausstellungshalle, einen 40 Quadratmeter kleinen Fachwerkschuppen. Dort treffen sich zu den Vernissagen Künstler, Kuratoren und Kunstjournalisten: Konstantin Adamopoulos, geboren 1960, ist ein Vertreter der relativ neuen Profession des freien Kurators. Neben jungen Kunsthochschulabsolventen stellt er in der Schulstraße 48 oft schon früh Künstler vor, die später oft stark diskutiert werden, wie etwa Thomas Hirschhorn. Liebenswürdig, aufmerksam und bis zum Umfallen geduldig, ist er einer von etwa 20 Ausstellungsmachern in Frankfurt, die ohne festes Anstellungsverhältnis arbeiten und das freie Kuratieren vorziehen. Er hat Philosophie und Kunstgeschichte studiert, doch "die adäquate Qualifikation ist Praxisnähe".
Seit der damals blutjunge Hans-Ulrich Obrist Anfang der neunziger Jahre eine Ausstellung mit Fischli/Weiss in einer Küche veranstaltet hat, schiebt sich der Typus des freien Kurators zwischen das herkömmliche Auswahlsystem – Museen, Galerien, Kunstvereine und -kritik – und die Künstler. Anders als für den kunden-orientiert arbeitenden "Art-Consulter", der in Konkurrenz zu Galerien Geschäftshäuser mit Kunst bestückt, ist der Verkauf für ihn kein primäres Anliegen.
Der "Innovationsdruck", sagt Adamopoulos, mache es notwendig, an die Künstler näher heranzukommen. Das Whitney-Museum zum Beispiel beschäftige bei Ausstellungen außer festen auch freie Kuratoren, von denen man erwarte, dass sie das Neueste aus Praxis und Diskurs als Zusatzinformation liefern. Die Qualifikation des freien Kurators sei weniger eine wissenschaftliche – die festen Kuratoren seien "promovierter" – als eine praktische: Vertrautheit. Die Künstler, so Adamopoulos, verhielten sich gegenüber dem freien Kurator, der "nicht in den Funktionen klemmt", unbefangener als gegenüber den Institutionen: "Die Künstler wollen nicht immer Endprodukte zeigen. Der institutionelle Kurator bekommt von ihnen nur institution-sadäquate Informationen. Bei frei kuratierten Ausstellungen hingegen trauen sich die Künstler, Dinge zu zeigen, die sie sonst nicht zeigen würden, weil sie befürchten müssten, zu schnell in eine K.-o.-Rezeption zu geraten." Auch bereits etablierte Künstler, die alle Karrierestationen bis zum New Yorker Museum of Modern Art durchlaufen hätten, seien daran interessiert, ihre Arbeiten außerhalb der Institutionen in neuen Konzepten, an neuen Orten und zusammen mit den aktuell diskutierten Kollegen auszustellen. Dadurch gewännen die Arbeiten an Frische.
Modellhaft, so Adamopoulos, der zwischen März 1998 und Frühjahr 2000 auch als künstlerischer Leiter der ak Galerie fungierte, ließen sich zwei Kuratoren-Typen unterscheiden: Der eine "erschnuppere" ein interessantes Thema und wähle Künstler oder deren Werke aus, die dieses Thema als tatsächlich zeitrelevant belegen könnten. Er habe ein Konzept mit quasi-künstlerischem Anspruch. Das Interesse dieses Kuratortyps richte sich vornehmlich auf Ausstellung und Öffentlichkeit. Inzwischen wisse man, dass eine Ausstellung außer den Werken auch sich selber zeige. Hans-Ulrich Obrist zum Beispiel "stellt eigentlich Ausstellungen aus". Ausstellungskonzepte als Werk? Genau.
Für den zweiten Typus, dem sich Adamopoulos zurechnet und der in Frankfurt überwiege, sei die Ausstellung "ein Nebenprodukt". Er habe, sagt er, sozusagen die Funktion eines Doppelagenten. Einerseits spiele er die Rolle des "Vorkosters" und andererseits die der "Amme". Für die Institutionen sei er der "Kundschafter", der Stunden in Ateliers verbringe. Für die Künstler, zu denen er ein besonderes Vertrauensverhältnis habe, sei er der Zuredner, der Tutor, aber auch der advocatus diaboli, der die jungen Künstler kritisch herausfordere. Er versuche zu ihrer Entwicklung beizutragen, ihre Arbeit zu begleiten und ihnen auf die Sprünge zu helfen.
Sein Interesse sei langfristig, entwicklungs- und weniger ausstellungsbezogen. Bei aller persönlichen Involviertheit halte er eine gewisse Distanz, einen Vorbehalt, der es ihm ermögliche, auch den anderen Part des Doppelagenten zu übernehmen. Die ökonomische Dimension werde bei der inhaltlichen Arbeit ausgeblendet, komme aber herein, wenn sich eine Ausstellung als innovativ erweise und rufbildend wirke, etwa Preise, Stipendien, Berufungen zur Folge habe. Und natürlich auch durch den Verkauf, der jedoch "nicht der Zweck einer Ausstellung" sei.
Wovon leben Sie? "Ich bekomme Prozente." Adamopoulos schreibt, macht Kataloge, ist in Beratergremien. Er arbeite nicht alternativ, sondern parallel zu den Institutionen. Er versteht sich als notorisch neugieriger, kritischer Hermeneut, der sich persönlich einlässt. Prämisse der Zusammenarbeit mit den Künstlern, aber auch mit anderen Kuratoren sei ein Konsens darüber, dass Kunst in der Gesellschaft eine innovative Funktion habe. Ein Ferment? Ja, und "ein Landeplatz für Engel".
Vom 3. bis 22. Oktober 2000 zeigt Adamopoulos in der Galerie ak, Gartenstr. 47, Arbeiten von Frankfurter und Dresdner Kunststudenten unter dem Titel "dynamo.eintracht".

Frankfurter Rundschau v. 30.08.2000, S. 36, Ausgabe: R Region

Claus Becker

Ein nimmermüder Maulwurf aus Passion
Diplom-Ingenieur Claus Becker hat in seinem Berufsleben als Tunnelbauer die halbe Erde gesehen, bevorzugt von innen

Einmal angenommen, so einer wie er geriet in den Knast: Er wüsste, wie man da rauskommt. Und angenommen, so einer legt Wert auf ein Familienwappen: dann wäre darin der Maulwurf. Denn Claus Becker ist Tunnelbauer, ein Beruf, für den es merkwürdigerweise erst seit Mitte der 90er Jahre einen Lehrstuhl gibt (München). Experten seines Kalibers gibt es auf der Welt nur eine Hand voll.
Wenn für den Tunnelbau auch erst mit dem Aufkommen der Eisenbahn – und Ende des 19. Jahrhunderts mit dem der U-Bahnen in London, Paris, New York – eigene Techniken entwickelt wurden, die sich von denen des Bergbaus unterscheiden. So ist doch die Idee des Tunnels uralt und wurde schon in der Antike mit Skalvenarbeit realisiert (so auf der Insel Samos). Der erste Tunnel, der unter Wasser hindurch führte, wurde 1825 von Isambert Brunel unter der Themse gebaut. Er verband die Londoner Stadtteile Rotherhithe und Wapping – für Fußgänger. Die Arbeit dauerte 16 Jahre, elfmal brach Wasser ein. Alsbald ging es auch jenseits des Atlantiks unters Wasser. Unter dem Hudson wurde eine Eisenbahnunterführung von New York nach Jersey City verlegt. Brücken und Tunnels überwinden Hindernisse auf kürzestem Weg. Was das Meer betrifft, so hat sich der Tunnel der Brücke gegenüber als überlegen erwiesen. Beide Prinzipien konkurrieren noch heute. In jedem Fall braucht der Tunnel weniger Platz als die Brücke mit ihren langen Rampen.
Die "Studiengesellschaft für unterirdische Verkehrsanlagen" (Stuva) hat Claus Becker für sein "Lebenswerk für den Tunnelbau" im vorigen Jahr mit einem Preis in den Messehallen vor mehr als tausend Fachleuten geehrt. Groß gefeiert wurde im Anschluss daran im Römer. Der Diplomingenieur, der in Darmstadt studiert hat, kann sich schhließlich zu Recht einen Frankfurter nennen. Denn er lebt, obwohl 1934 in Cottbus geboren, seit 66 Jahren in der Stadt – mit den Unterbrechungen, die solch ein Beruf mit sich bringt.
Für den Vater zweier Kinder war es nicht immer leicht, von Baustelle zu Baustelle zu ziehen. Manchmal hat er die Familie für ein paar Jahre mitgenommen. Das muss er nicht mehr. 1999 trommelte Becker als Chef der Hauptniederlassung Tunnelbau der Firma Wayss & Freytag zum letzten Mal seine Spezialisten zusammen, die in Rom, Zürich, Rotterdam, Buenos Aires, Singapur, Moskau und neuerdings auch in den USA die begehbare Schildmaschine bedienen. So heißt die gewaltige Bohrmaschine. Die Bezeichnung – nach dem Schild, der im Kampf als Schutz diente – hält die Erinnerung daran wach, dass die Natur eine Macht ist.
Das Schneiderad mit Schälmessern für lehmige Böden und rotierenden Scheiben für harten Stein hatte schon beim Bau des Hamburger Elbtunnels, den Becker Anfang der 70er Jahre als Oberbauleiter durchführte, einen riesigen Durchmesser (Willy Brandt war der erste, der den Tunnel durchschritt). Inzwischen hat die von der Firma Herrenknecht gebaute, zwölf Meter lange Schildmaschine einen Durchmesser von mehr als 14 Metern. Sie wird von 14 Leuten untertage und 14 Leuten übertage bedient – ihre Arbeit heißt "Schildvortrieb" – und ist die größte ihrer Art. Sie kostet 45 Millionen. Es gibt augenblicklich rund zwei Dutzend davon. Die Wiederverwendung der teuren Maschine ist nahezu unmöglich, da etwa die Durchmesser der U-Bahn-Röhren in allen Städten verschieden sind.
Becker hatte als junger Bauführer das "Los 1" der Frankfurter U-Bahn, das erste Stück zwischen Miquelallee und Adickesallee, zu verantworten. Die Kunst des Tunnelbaus, sagt Becker, der in aller Welt Vorträge über Tunnelbau hält, besteht nicht im Durchbohren von Hartgestein, wo es kaum einen Ausbau braucht, sondern im Lockergestein unter Wasser.
Der Tunnelbau hat mit Bergwerksstollen nichts zu tun. Die Probleme sind völlig andere. Denn die Tunnel sind nahe an der Erdoberfläche, bei U-Bahn-Bau zwischen 15 und 25 Meter. Beckers schwierigstes Projekt? Ein Tunnel unter dem St. Clair-River, einem Grenzfluss zwischen den USA und Kanada, für eine kanadische Eisenbahnlinie. Der Bauvertrag musste von Präsident Clinton unterzeichnet werden, weil die Rechtsverhältnisse beiderseits des Grenzflusses so verschieden sind.
Übrigens spottet Becker, die Amerikaner seien, was Tunnel betrifft, zurückgeblieben. Sie verschöben lieber die Berge, als sie zu durchbohren. Den Platz hätten sie ja. Erst jetzt, wo es auch dort enger wird, ist der Tunnelbau aktuell geworden.
Ist die Arbeit gefährlich? Früher, sagt Becker, gab es eine grausame Faustregel: ein Toter pro Kilometer. Unfälle an der Schildmaschine gibt es heute selten.
Claus Becker ist ein drahtiger, bescheiden auftretender Mann. Auf den Baustellenfotos steht er immer in der Mitte, aber hinten. Auch nach der Pensionierung hat der Spezialist genug zu tun, denn die Firma hat sich seiner Fähigkeiten per Beratervertrag versichert. Zeit für Hobbys bleibt da wenig. Claus Becker liest im Fortgeschrittenenkurs der Deutsch-Italienischen Vereinigung mit seiner Frau. Bücher von Luciano de Crescenzo ("Also sprach Bellavista") etwa. Auf Italienisch natürlich. In Ligurien, wo’s viele Tunnel gibt, besitzen Beckers ein Ferienhaus.

Frankfurter Rundschau vom 18.08.2000, S. 29, Ausgabe: R Region

Fausto Melotti in Darmstadt

Geo-Engel
Fausto Melotti in Darmstadt

Wen der Gedanke bezaubert, dass zwei parallele Linien sich in der Unendlichkeit schneiden, dass eine Tangente den Kreis mit unermesslicher Zartheit berührt und gewisse Kreissegmente „Möndchen des Hippokrates“ heißen, wer sich erinnert, dass naturwissenschaftliche Probleme einst auch philosophische waren, versteht Fausto Melottis Forderung nach einer Verbindung von Mathematik und Poesie sofort. „Die Kunst“, sagte Melotti einmal, „ist ein engelhafter geometrischer Gemütszustand.“
Der promovierte Ingenieur hatte zeitlebens eine Liebe zur Musik und Poesie, spielte Klavier und veröffentlichte Gedichte. Am Tag nach seinem Tod, am 22. Juni 1986, wurde die Biennale von Venedig mit einer großen Einzelschau seiner Werke eröffnet. Allein vier Mal war der 1901 geborene Künstler auf der Biennale vertreten. Melotti war mit Lucio Fontana befreundet, Italo Calvino hat über ihn geschrieben und auch Germano Celant, ein Star der italienischen Kunstkritik. In Italien ist Melotti als ein Pionier der Abstraktion bekannt, doch bei uns kennen ihn wenige.
Nun ist auf der Darmstädter Mathildenhöhe die erste, alle Werkphasen umgreifende Retrospektive in Deutschland zu sehen. Chronologisch geordnet sind im ersten Raum die großen, meist weißen Objekte aus den 30er Jahren ausgestellt, heute wohl eher von kunsthistorischer Bedeutung. Im Katalog werden sie Vorwegnahme der „primary structures“ der Minimal Art betrachtet; doch das greift etwas zu weit. Denn obwohl der in seiner Jugend vom Futurismus beeinflusste Künstler sich dann der Reinheit der Geometrie verschrieb, hat er nie darauf verzichtet, figürlich zu arbeiten. Auch in seinen „abstrakten“ Arbeiten ist er Poet, nicht Systematiker wie etwa Don Judd oder Sol Lewitt. Die gesichtslose, gliederlose Figurenstele mit dem Abdruck einer Schwurhand gehört zu einer Kolonne von 12 gleichen Stelen aus dem Jahre 1936, der hohen Zeit des Faschismus, der in Italien – anders als in Deutschland – zwar pathetisch, aber in der Kunst nicht völkisch und rückwärtsgewandt war.
Melotti arbeitete auch in Ton und Terracotta. Es sind weniger die großen Vasen aus den 50er Jahren, z.T. mit Gesichtern, und die großen Stahlgebilde mit Kugeln und Pendeln, die heute bezaubern, als die schon 1944 begonnene Werkreihe der „teatrini“, der Theaterchen: kleine, rechteckige, nach vorn offene, nach Art von Setzkästen unterteilte Schachteln aus Ton, in denen flüchtig geknetete Figürchen mit deutlich – wie bei Giacometti – erkennbaren Gesichtern und Fundstücke aus verschiedenen Materialien zu traumartigen Szenen arrangiert sind. Ebenso wie die „teatrini“ führt der Künstler die konzeptuell ähnliche Werkreihe der Reliefplatten aus Gips, Ton und Holz bis ins hohe Alter fort. Die Platten, auf die Figürchen, Drähte, Stoffreste, Streichholzschachteln szenisch appliziert sind, spielen mit dem Verhältnis von Fläche und Raum, wobei zarte Schatten ihre Rolle spielen. Melottis schwebend leichte, filigrane Skulpturen aus dünnen, aneinander gelöteten Stäben, Drähten, Blechen, Gaze (und Glöckchen) aus Messing schließlich sind hauchzarte Gebilde, die in ihrer entmaterialisierten Fragilität die Anmut von Skizzzen haben – so als hätten sie die Idee an deren Ursprung eingefangen. Sie haben den Charakter transparenter Bühnen mit mehreren Etagen, Leiterchen und magischen Zeichen, Bühnen, die wie Pfahlbauten aussehen oder Jahrmarktspodeste. Schiffe mit Segeln sind erkennbar. Die wie musikalischen Konstruktionen – alles andere als systematisch abstraktiv – erinnern an die russischen Konstruktivisten, aber auch an Kandinsky, Miro und besonders Klee (gewisse Tintenzeichnungen und Lithos aus den frühen 20er Jahren). Auch bei Saul Steinberg findet man vergleichbare Grazilität.
Verwandt sind diese so unterschiedlichen Künstler durch ihre oft heitere geistige Verspieltheit, das Improvisierte, das Essayistische – eben das Humane, Offene, Freie des menschlichen Geistes. Streng ist Melotti nicht, wie im Katalog behauptet. Und es fehlt die dogmatische Schwere der Endgültigkeit. Das macht ihn aktuell.

Fausto Melotti, Retrospektive 1928–1986, Mathildenhöhe Darmstadt bis 27. August 2000,
Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg 17. September bis 12. November 2000.