Do not separate the wind from the tree
Jean Dubuffet on his 100th birthday: an exhibition at the Centre Pompidou in Paris
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Published in: Frankfurter Rundschau
Den Wind nicht vom Baum trennen
Jean Dubuffet zum 100. Geburtstag: Eine Ausstellung im Pariser Centre Pompidou
„Den Wind nicht vom Baum trennen.“ Jean Dubuffets poetische Forderung charakterisiert eine Grundhaltung: „Wenn ich eine Sache genau sehen will, neige ich dazu, sie gleichzeitig mit allem, was sie umgibt, zu betrachten.“ Man wird in der riesigen Ausstellung von nahezu 400 Werken, mit der das Pariser Centre Pompidou den Künstler (1901–1985) zu seinem hundertsten Geburtstag ehrt, diese Dimension des Zusammenhangs immer wieder antreffen. Seine Malerei wollte Dubuffet als „Versuch einer Sprache“ verstanden wissen, die näher am Leben ist, das uns durch die analytischen Begriffssysteme nur zerrissen in den Kopf kommt. „Eine Sache definieren – also auch isolieren – heißt viel daran verderben. Heißt sie fast töten“, schreibt er. Seine Techniken der Verbindung waren Collage, Assemblage und die abenteuerlichsten Mischungen. Die Materialien verstand er als Mitspieler, denen er zur Artikulation verhalf.
Mit Hourloupe (1962–1974) hat er ein puzzleartiges Sprachsystem geschaffen, Bilder, Objekte, Environments und Architekturen, aus Polyester geschnitten und zellenartig bemalt – ein Kosmos, in dem Welt und Menschen aus den gleichen Elementen bestehen. Die oft zunächst kaum erkennbaren Figuren entwickeln sich aus dem Dickicht erst, wenn man auf ihren Blick trifft. In einem abgedunkelten Raum ist Coucou Bazar (1973) aufgebaut, übermannshohe, verschiebbare Hourloupe-Kulissen und Figuren sowie an altchinesische Krieger erinnernde Kostüme für die Tänzer des grandiosen Balletts. In einem Eckraum mit weiter Sicht über die Stadt hat man den Banc Salon (1970), eine krakenartig gewundene Sitzbank platziert, über der drei hourloupeske Flugdrachen schweben. Aus einem Lautsprecher hört man Dubuffet eine kakophone Geräuschmusik machen. Die Ausstellung schließt eindrucksvoll mit dem drei mal acht Meter langen trikoloren Riesengemälde Le cours des Choses aus der späten Werkgruppe der Mires.
Man könnte die in 20 Räumen nach Werkphasen chronologisch geordnete, wahrhaft umfassende Retrospektive kaum durchstehen, würde man nicht immer wieder überrascht: von Dubuffets derbem und kindlichem Humor (exemplarisch die Conjugaison Labonfam abeber, anmutig-komische Kopulationsszenen reinster Lebenslust nebst einem Kommentar in erfundener Sprache), von seiner Experimentierfreude (an Arcimboldo erinnernde Assemblagen aus Schmetterlingsflügeln, aus Laub, aus Rinden, Plastiken aus Schwämmen) sowie von noch nie in natura gesehenen Werken, die aus Museen der USA, Australiens und Europas entliehen wurden.
Die ersten Bilder, die Dubuffet nach dem Kriege ausstellte, bestanden programmatisch aus Ölfarbe und Dreck. „Kakaismus“ heulte die Kritik. Als später Rebell hatte der ehemalige Weinhändler nach mehreren Anläufen (am Eingang: Frühwerke von 1925 und mehrere kleine Bilder mit Lili, seiner Frau) endlich die Kunstszene betreten. 1946 war Jean Dubuffet schon 45 Jahre alt, und er machte sofort Skandal. Klar formulierte er 1951 seine Position gegen die herrschende spätbürgerliche Kultur. „Unsere Kultur ist wie eine tote Sprache, die nichts mehr mit dem Sprechen auf der Straße gemein hat … Ich strebe nach einer Kunst, die direkt mit unserem täglichen Leben verbunden ist und aus ihm hervorgeht, die die unmittelbare Ausstrahlung unseres wirklichen Lebens und unserer wahren Empfindungen ist.“
Was er anstrebte, war ein Art Brut, eine Kunst im Rohzustand, wie er sie bei Kindern, Naiven, geistig Behinderten und „primitiven“ Kulturen kennen gelernt hatte. Dubuffet verstand seine Kunst als subversiv, ohne sich allerdings über Subversion Illusionen zu machen. André Malraux, General de Gaulles Kultusminister, war der Erste, der ein Bild von ihm kaufte. 1959 werden seine Werke auf der II. Kasseler documenta gezeigt, 1962 im New Yorker MoMa, 1964 auf der Biennale in Venedig und so fort. „Dieselben Zeichen, dieselben Ausdrucksmittel, die heute subversiv sind, werden morgen, in dem Moment, da sie von der Kultur anerkannt sind, kulturell sein“, schrieb er. Wie wahr! Der von Dubuffet so scharfzüngig attackierte „Kulturapparat“, der, wie er meinte, das Denken fixiere und ihm Blei an die Flügel hänge, würdigt ihn nun nach den vielen vorangegangenen Ehrungen als einen der europäischen Kunstgiganten. Ein 20 Quadratmeter großes Selbstporträt des Künstlers prangt in den Metrostationen und auf den Titelseiten der Zeitschriften: Ein „Mega-Event“.
Den Höhepunkt der Schau bietet das Spätwerk, das in dieser Fülle bisher noch nicht zu sehen war. Das ist die Werkgruppe der Mires von 1983, „Sehenswürdigkeiten“ ohne Figuren, die in den riesigen Bildern des Erinnerungstheaters (1976, 1977) noch eine Rolle spielten und von einem Allgemeinheitsgrad sind, der die Mires dem Zuschnappen definitorischer Begriffe endgültig entzieht. Die Bilder zeigen Ausschnitte aus einem bewegten Chaos, Primärfarben, zuletzt nur noch Rot und Blau auf Weiß. Die Mires waren Frankreichs Beitrag auf der venezianischen Biennale von 1984. Die Bilder der letzten Werkgruppe der Non-lieux (1984), explosive, vordringlich weiße Pinselschwünge auf schwarzem Grund, haben alle das gleiche Format, um sie als Ausschnitte einer Totalität verstehbar zu machen, der ewigen, sich jeder Konkretion entziehenden Bewegung des Seins, die Dubuffet von Anfang an auch als eine geistige verstand. Das entfremdete Verhältnis des klassifizierenden Bewusstseins und seiner Objekte, Basis aller Herrschaft, lehnte er ab.
Bis zum 31. Dezember 2001.