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Published in: Neue Züricher Zeitung
Zum 200. Geburtstag von Grandville
Es wurde beschuldigt und beleidigt, bis die Fetzen flogen. Mit der Sache zauste man auch die Person («ad hominem»), und danach duellierte man sich wegen Ehrabschneiderei. Mit Polemik und Satire trat die bürgerliche Öffentlichkeit auf den Plan, die sich im 18.Jahrhundert in den Buchhandlungen, Theatern, Klubs und Kaffeehäusern vorbereitet hatte. Es war die Zeit, in der die Zeitungen entstanden. Journalist, das war der aufregendste Beruf. Um à jour arbeiten zu können, benutzte die Zeitung die Lithographie, die rasch vervielfältigt werden konnte. Die saftigen Karikaturen zogen auch das breite Publikum an, und die spottlustigen Pariser hatten ihren Spass. Die Zeiten, da man bei Nacht Pamphlete an die Hausmauern klebte, waren vorbei. Rede- und Versammlungsfreiheit waren durchgesetzt. Aber es blieb die Zensur.
Kurz nachdem der Bürgerkönig Louis Philippe 1830 durch Revolution an die Macht gekommen war, gründete der umtriebige Republikaner Charles Philipon die satirische Zeitung «La caricature» und gewann Grandville neben Daumier und Paul Gavarni als Karikaturisten. Grandville – vor 200 Jahren am 15.September 1803 als Jean Ignace Isidore Gérard in Nancy geboren – war ausgebildeter Miniaturenmaler und arbeitete auch an der 1832 gegründeten Zeitschrift «Charivari» (Katzenmusik) mit. Er war es, der den Bürgerkönig als Birne («Roipoire») karikierte, die man dann später zur Verspottung von Bundeskanzler Helmut Kohl wiederentdeckte. Man fragte nicht: «Haben Sie schon die neueste ‹Charivari› gelesen? », sondern: «Haben Sie schon die neueste Birne gesehen?» Immer wieder wurden die Blätter verboten. Schliesslich knebelten die Septembergesetze von 1835 die freche Presse so sehr, dass Grandville sich zurückzog.
Grandville illustrierte Swifts «Gulliver», La Fontaines Fabeln und Defoes «Robinson Crusoe». Er gilt neben Doré als Erneuerer der französischen Buchillustration. Dann kehrte er zur «Hommes-bêtes»-Karikatur zurück, in der er unübertroffen blieb. 1842 erschien das «Staats- und Familienleben der Tiere» – ein verkapptes Sittenbild des neubürgerlichen Lebens, welches die «Metamorphoses du Jour» von 1829 fortsetzte. Er verspottete darin das «juste milieu», indem er den Vertretern des bürgerlichen Lebens Tierköpfe aufsetzte: die Offiziere mit Heuschreckenköpfen, die Gendarmen als Mistkäfer, die neureichen Schlemmer als Krokodile, die Damen als Vögel, Windhunde, Giraffen und Katzen, die Kavaliere als Gockel und die Ärzte als Blutegel sind so meisterlich gezeichnet, dass auch Typen, die man heute nicht mehr kennt, sicher getroffen scheinen. Soetwa der Volkstribun, ein herrlicher Stier, der an Gérard Depardieu in der Rolle des Danton erinnert. Zu den Tieren als Menschen lieferten berühmte Autoren wie A. und P.Musset, Balzac und George Sand die Texte – anonym. Aber Grandville entwarf auch in seinem unglaublich detailreichen Stil die dämonischsten Mischwesen. Seine phantastischen Metamorphosen bezeichnete Baudelaire als «illegitime Kreuzungen» und den Zeichner selber als «ein krankhaftes literarisches Gehirn» – durchaus nicht ohne Bewunderung. Die aberwitzigen Erfindungen in «Autre Monde» sind denen von Hieronymus Bosch, Breughel, Max Ernst und Dali verwandt. Nach dem Tod seiner Frau und seiner drei Kinder starb der Künstler 1847 im Wahnsinn. Neben Daumier war er der berühmteste Karikaturist jener Zeit. Seine Heimatstadt Nancy ehrt ihn mit einer Ausstellung im Museé des Beaux-Arts (bis 29.September), wo sich der Grossteil seines Œuvres befindet.