(Giacomo Casanova) Frei zu lieben und frei zu leben

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Published in: Süddeutsche Zeitung


 

Der Frauenheld, der aus den Ängsten seiner Zeit ausbrach:
Vor 240 Jahren entkam Giacomo Casanova aus den Bleikammern von Venedig

Der Mond war in dem Nebel, der aus der Lagune aufstieg, endlich nicht mehr zu sehen. Es war kurz vor Mitternacht. Bald würde die große Glocke von San Marco schlagen. Giacomo Casanova, der Liebling der Frauen und nachmalige Lotteriedirektor, Astrologe, Finanzberater, Zauberer, Alchimist, Impresario, Geheimagent, Bibliothekar und Literat, saß rittlings auf dem First des Dogenpalastes, hinter ihm Pater Balbi, dessen Hut gerade über das steile Dach gerollt und in den Kanal gefallen war.
Vor 240 Jahren, in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November war der Hochstapler mit Hilfe des wegen Verführung eingekerkerten Mönchs durch die Bleidächer ausgebrochen, aus den ‘Piombi’, wie die sieben, später entfernten Sonderzellen unter dem Dach des Palastes hießen. Fünfzehn Monate schmachtete der Frauenheld in einer dunklen Zelle, schwitzte und fror erbärmlich, ohne zu erfahren, wessen er angeklagt war. Es handelte sich wie üblich um eine Denunziation. Wie er sich aus einem Riegel einen Spieß gefeilt, mit dem er Wände, Decken und Türen durchbohrt, Schlösser durchstoßen, die Bleiplatten hochgebogen hatte und auch die Wächter erstochen hätte, falls es denn nötig gewesen wäre; mit welcher Unverfrorenheit er dann im Hause ausgerechnet jenes Polizeioffiziers nächtigte, der mit den Sbirren unterwegs war, um ihn zu fassen: Die detaillierte Beschreibung seiner tollen Flucht machte den Abenteurer bald in ganz Europa berühmt und setzte die venezianische Staatsinquisition dem Gespött aus. Sogar Papst Rezzonico lachte, den Casanova später um Fürsprache bat, weil er es im Exil vor Heimweh nicht mehr aushielt.
Die Serenissima, die sich als Republik ausgab, hatte sich als eine mittelalterliche Tyrannei erwiesen. Die Pompadour und der ganze Hof von Versailles amüsierten sich, als der sprachgewandte Parvenu mit rachsüchtigem Witz beschrieb, wie er, zerschürft und blutend, seinen eleganten Anzug angelegt, dazu den schönen Hut mit der spanischen Goldspitze und der weißen Feder aufgesetzt hatte, um sich am offenen Fenster des Dogenpalastes zu zeigen: Als die Wächer zu dieser ungewöhnlichen Stunde dort einen so vornehm gekleideten Herrn erblickten, hasteten sie mit den Schlüsseln hinauf, in der bangen Annahme, oben sei versehentlich ein Patrizier eingeschlossen, denn der mächtige ‘Rat der Zehn’ beriet sich bei Nacht. Sie öffneten beflissen die schwere Tür, welche dem Spieß widerstanden hatte, und wurden herrisch beiseite gestoßen. Der fast 1,90 Meter große Athlet lief schnell, ‘aber nicht wie ein Fliehender’ die prachtvolle Gigantentreppe hinab, passierte kaltblütig das Prachttor des Palastes, durch das heute die Touristen drängen, und schritt über die Piazetta zum Ufer. Dort bestieg er die erstbeste Gondel und ließ sich mit dem angstschlotternden Pater nach Mestre übersetzen. ‘Der Morgen war herrlich, die Luft rein, die Sonne sandte uns ihre ersten wunderschönen Strahlen, und meine beiden jungen Gondolieri ruderten kräftig und gewandt.’ Dann brach Casanova in Tränen aus. Er dankte Gott. Er war völlig erschöpft. Es gibt manche Gründe, um sich an Casanova zu erinnern, der im Gegensatz zu Don Juan, dem niederträchtigen Frauenjäger, seinen Degen nur ausnahmsweise benutzte, denn er verstand sich mit Worten zu wehren. Casanova besaß ‘die Grazie eines frechen Geistes (Hermann Kesten), er war ein Meister der schönen und unverschämten Rede, ein schlagfertiger Charmeur, dessen Witz viele Tafelrunden unterhalten hat. Erst heutzutage wird Casanova als Feminist gewürdigt (Roberto Gervaso 1977), nachdem das prüde 19. Jahrhundert seine Schriften unterdrückt und moralisierend entstellt hatte. Der ‘vornehme Herr’, der in der Kutsche fuhr ‘wie ein regierender Fürst’ (Kesten), zeigt sich als ein nach vielen Seiten hin entfaltetes, schillerndes Individuum, Prototyp eines Menschen, dessen Zügen man zum Ende unseres Jahrhunderts wieder begegnen kann: der spielerische und theatralische Hedonist, der sein Selbst inszeniert. Der schöne Schein - die Postmoderne hat ihn wieder zum Thema gemacht - war im 18. Jahrhundert ein ästhetischer Apparat, nach dessen Regeln die Edlen und ihre Groupies ihre Rollen spielten. Niemand blendete virtuoser als Casanova, der Sohn einer Schauspielerfamilie, dessen bevorzugte Orte die Theater der Metropolen waren. ‘Wenn er leise an die Tür der Ankleideloge der Primadonnen und Primaballerinen klopfte, so machte er Familienbesuche . . . Überall umarmte er alte Freundinnen’ (Kesten). Die Foyers, wo die Aristokraten unter den Tänzerinnen und Figurantinnen sich das Monatsliebchen auszusuchen pflegten, und an den Spieltischen fand der Emporkömmling Gelegenheit, mit den Großen in Kontakt zu kommen und sich beliebt zu machen: Neben seiner Unabhängigkeit, die ihm gebot, auch bei den günstigsten Heiratsaussichten im letzten Moment das Weite zu suchen, war beliebt zu sein, Casanovas ausdrückliches Ziel. Übrigens war der Salonlöwe Doktor beider Rechte. Der Titel war echt, er erwarb ihn im Alter von 16 Jahren an der berühmten Universität von Padua, obwohl er mit acht erst Schreiben gelernt hatte. Casanova war ein Wunderkind.
Sein spektakulärer Ausbruch aus einem Gefängnis mit hasengroßen Ratten, das bis dahin als eines der sichersten der Welt gegolten hatte, zeigt, daß der Mann nicht nur ein Feinschwätzer war, wie manch modischer Jünger der Aufklärung, an dessen freimütigen Reden sich die Herrschenden ergötzten, sondern einer, der seine Überzeugungen lebte: ‘Der Mensch ist frei; aber er ist es nicht mehr, wenn er nicht an seine Freiheit glaubt. Denn je mehr Macht er dem Schicksal beimißt, desto mehr beraubt er sich selber jener, die Gott ihm verlieh, indem er ihm mit Vernunft begabte’, schreibt Casanova programmatisch auf der ersten Seite seiner zwölfbändigen Lebenserinnerungen.
*Der Anhänger des Ancien Régime, das ihn nährte, starb im Jahre der Großen Französischen Revolution: Er hatte die Freiheiten, welche diese für alle proklamierte, längst probiert. Bewegungsfreiheit: Kaum einer fuhr im 18. Jahrhundert, in dem die Wege entsetzlich waren, die Kutschen umfielen oder von Deserteuren überfallen wurden, so rastlos in Europa umher wie Casanova, außer den Empfehlungsbriefen der Hochwohlgeborenen immer zwei Pistolen in der Tasche und im Gepäck pfundweise Schokolade und Täfelchen, um unterwegs Bouillon zu machen. Paris, Amsterdam, London, Berlin, Dresden, Moskau, Madrid, Rom, Neapel, Konstantinopel, um nur die bedeutendsten Städte zu nennen. Zunächst reiste der erklärte Kosmopolit aus Neugier, bald aber vagabundierte er als Berufsspieler von Hof zu Hof und in die Bäder der großen Welt, um die verschwenderischen Adeligen auszunehmen. Auch selber war er verschwenderisch. Er hatte vermögende Gönner. Der ‘demonstrative Konsum’ (Thorstein Veblen) war eine Lebensregel des Standes, dem er sich zurechnete. Meinungs- und Redefreiheit: Casanova machte aus seinen der Aufklärung und der Alten Philosophie entlehnten Ansichten keinen Hehl. Er debattierte mit Voltaire, Friedrich dem Großen, Katharina II. und vielen anderen bedeutenden Zeitgenossen ‘Ich war . . . kühn in meinen Worten.’ Wer ihn kränkte, hatte mit einer Schmähschrift oder einer Satire zu rechnen. Vor allem die Freiheit, selbst zu entscheiden, nahm sich Casanova auf eigenes Risiko. Im Unterschied zu anderen unbändigen Abenteurern, deren es im 18. Jahrhundert eine Menge gab, holte Casanova als hochintelligenter, breit gebildeter und reflektierter Mensch seine Taten geistig allemal ein. Seine Memoiren, für die er Tausende von Papieren in Koffern sammelte, beweisen das aufs schönste. Pater Balbi dagegen, der bäurische Mönch, wußte mit der Freiheit nichts weiter anzufangen, als im erstbesten Gasthof die Mägde zu betatschen (er stellte sich bald den venezianischen Behörden, die ihn stracks unter die Bleidächer zurückbrachten). Casanova hat über Freiheit nicht bloß nachgedacht: Er hat sie mit vollem Risiko gelebt. Er tänzelte auf den Schaumkronen des Rokoko dahin und war so frei, oft sogar die selbstgefaßten Pläne bewußt über Bord zu werfen. Sein einziges System habe darin bestanden, sagt er, sich ‘von Wind und Wellen treiben zu lassen. Welche Wechselfälle entstehen aus dieser Unabhängigkeit von einer bestimmten Methode!’ Die Fähigkeit zur Hingabe an neue und fremde Situationen, das Sicheinlassen, die unvorbereitete Bewältigung der ‘Wechselfälle’, die Improvisation, ist die Stärke und die Lust des selbstbewußten Abenteurers, der sein Ich immer neu erprobt, indem er es aufs Spiel setzt. Er ist das Gegenteil des ansässigen, besitzenden, kalkulierenden, in tausend Rücksichten und Abhängigkeiten befangenen Bürgers.
Casanova war ein Star, der sich selbst immer neu erfand und es liebte, seine Fähigkeiten in verschiedensten Berufen auszuprobieren. Doch auch eine stabile soziale Identität schuf er sich nach eigenem Belieben: Er nannte sich ‘Chevalier de Seingalt’. Chevalier durfte er sich aufgrund des Ordens vom Goldenen Sporn nennen, den der Papst ihm verliehen hatte. ‘Ich hängte mir das Kreuz sofort an einem breiten, karmesinroten Band um den Hals.’ Ohne das ‘von’ war im 18. Jahrhundert niemand ein Herr. Aber Seingalt? ‘Ei’, fragte ihn der Bürgermeister von Augsburg, ‘wieso gehört Ihnen denn dieser Name?’ ‘Weil er von mir selber stammt . . . Das Alphabet ist jedermanns Eigentum; das ist unbestreitbar. Ich habe acht Buchstaben genommen und habe sie so zusammengesetzt, daß sie das Wort Seingalt ergeben. Dieses so gebildete Wort hat mir gefallen, und ich habe es als meinen offiziellen Namen angenommen. Da ich die feste Überzeugung habe, daß niemand vor mir diesen Namen getragen hat, so hat niemand das Recht, ihn mir streitig zu machen . . .’
Im Unterschied zu anderen Abenteurern, die aus einsichtigen Gründen ihren Namen wechselten wie das Hemd, behielt Casanova den seinen bei und war bereit, sein selbstgeschaffenes Ich wie ein echter Ehrenmann mit der Klinge zu verteidigen. Niemand vor ihm habe diesen Namen getragen, argumentiert er und beansprucht damit gegenüber den Adeligen, die ihr Ego aus Namen speisen, die jahrhundertelang an Blut und Boden hängen, eine nur aus der Kunst bekannte Autonomie. Schließlich konstruiert er sich noch einmal für die Ewigkeit: literarisch.
*Casanova gehört zu denen, die ihre Biographie weitgehend selbst gemacht haben. ‘Vor allen Dingen erkläre ich meinem Leser, daß ich überzeugt bin, bei allem, was ich im Laufe meines Lebens Gutes oder Böses getan habe, für den guten oder bösen Ausgang selber verantwortlich zu sein.’ Mit diesem stolzen Satz beginnt Casanova seine Lebenserinnerungen. Der Chevalier de Seingalt hatte noch keine Angst vor der Freiheit. Er flüchtete in keinen Zauber. Er zauberte selbst.