Vornamen sind eine soziale Haut, die man (unglücklicherweise) nicht einfach ablegen kann
Wie soll er heißen? „Timotheus“? „Schalke“? Oder ist es ein Mädchen? Dann vielleicht „Baguette“? Da liegt das Kleine: zwei Augen, zwei Öhrchen, zwei Nasenlöchlein, zwei Ärmchen und zwei Beinchen – vieles doppelt, denn die Natur ist großzügig –, aber ein richtiger Mensch ist es nicht. Denn es hat noch keinen Vornamen. Stürbe es ungetauft, käme es nach katholischer Lehre keinesfalls in den Himmel. Daher ist der Namenstag in katholischen Ländern – zum Beispiel in Frankreich – wichtiger als der Geburtstag. Denn identifizierbar ist der Mensch erst, wenn er auch einen Vornamen hat. Vorname und Familienname sind so etwas wie eine soziale Haut, die man – anders als Bekleidung – nicht mehr ablegt. Dennoch soll der Name kleidsam sein. Darum wählt man, um das Kleine unterscheidbar zu machen, heute meist etwas Ausgefalleneres als „Hans-Dieter“. En vogue sind französische, englische und italienische Vornamen. Man zeigt damit in einer immer weniger national bestimmten Gesellschaft internationale Gesinnung; auch dann, wenn man sich dessen gar nicht bewusst ist. Oft handelt es sich um eine Anpassung an den Zeitgeist, der die Namen von Popstars und Sportgrößen in die Gazetten spült, oder auch um die absichtsvolle Hommage an ein Idol, dem man das Beste weiht, das man hat. Also Boris. Der Vorname war von Alters her – nach der Vorstellung „nomen est omen“ – eine Art Mitgift. „Felix“ zum Beispiel, lateinisch: der Glückliche, sollte dem Kind Glück bringen, ihm ein Stück Weg ebnen. Vor ein paar Jahren war zu lesen, dass Rumänen ihre Kinder „Stuttgart“ und „Frankfurt“ taufen, nach den Traumorten des gelobten Landes, wo manchmal Betten, Schränke, Sessel und sogar Fernseher auf der Straße stehen, die man mitnehmen darf, wenn man will. Der Versuch, die Zukunft zu beeinflussen, wird aktueller in einer Zeit, da Individualismus als „Selbstverwirklichung“ vielen durchaus möglich erscheint. Der Vorname wird als Debüt einer Inszenierung konzipiert – freilich von den Eltern, deren Geschmack sich bald überlebt haben wird. Dann sieht man mit „Timotheus“ alt aus.
Man tanzt nicht aus der Reihe
Das war einmal ganzanders. Unter den braven Untertanen von Papst und Majestäten galt das Auffallenwollen als Unbescheidenheit, ja Aufmüpfigkeit. Da richtete man sich lieber nach dem Heiligenkalender. So kam es, dass alle am selben Tage Geborenen vom Pfarrer den selben Namen erhielten – den eines frommen Vorbildes, obwohl ja unter den Heiligen viele Märtyrer sind, eine Zukunft, die sich liebende Eltern wahrscheinlich weniger wünschten. Zukunftssicherer erschien die Anpassung an weltliche Größen: Vor Zeiten waren die Vornamen „Otto“ nach Reichsgründer Otto von Bismarck beliebt oder „Wilhelm“ nach dem Kaiser höchstselbst, um staatstragende Gesinnung zu demonstrieren. Dann riefen die Lehrer in der Schule reihenweise lauter Ottos und Wilhelms auf.
Den Eltern ging es bei der freien Wahl des Vornamens vor allem darum, keinen Anstoß zu erregen. Denn Freiheit – und sei es nur die der Namengebung – war etwas Ungewohntes. In einer noch wenig beweglichen Gesellschaft mit festen Klassen-, Standesund Statusunterschieden war der Anpassungsdruck groß. „Etwas Besonderes sein zu wollen“, worum sich heute jedermann nach Kräften bemüht, galt als unziemlich. Man „tanzte nicht aus der Reihe“. Eine ehrbare Sitte war, den Sohn nach Vater und Großvater zu nennen, damit er so tüchtig würde wie sie, oder nach dem Paten, dass dieser ihm beistünde, wenn der Ernährer etwa früh verstürbe. Das Kind wurde so – oft mit mehreren Vornamen – fest und breit in der Familie verankert, solange diese noch als Halt gelten konnte. Womit man heute nur noch rechnet, wenn es was zu erben gibt.
Für unsere Namen können wir nichts. Sie wurden uns wie eine Pudelmütze über die Ohren gezogen, ohne dass wir hätten Einspruch erheben können. Für den Nachnamen können auch die Eltern nichts. Aber den Vornamen, den haben sie uns verpasst. Da muss einer dann sein Leben lang „Hubertus“ heißen, weil seine Eltern auf die Jagd gingen – und flüchtet in einen unverfängliches Bertie. Und wer von˘ seinen vorausschauenden Eltern einmal den Namen „Adolf“ abbekommen hatte, der nannte sich nach dem Zusammenbruch des „Tausendjährigen Reichs“ lieber „Dolf“. Oft kosten Eltern, die sonst wenig zu sagen haben, das Recht, nach Belieben einen Namen zu erteilen, als Herrschaftsakt weidlich aus und versuchen dem wehrlosen Kleinen einen Vornamen nach ihren ureigensten Bedürfnissen aufzudrücken, „Aktie“ zum Beispiel oder „Campari“ oder „Schalke“. Doch beim Standesamt ist nicht alles möglich. Der Vorname muss nach geltender Vorschrift das Geschlecht des Kindes eindeutig erkennen lassen. So wird das arme Kleine wenigstens vor dem Allerschlimmsten bewahrt.
Die Kunst der Namengebung besteht wohl darin, einen Vornamen zu wählen, der einerseits besonders genug ist, um dasKind als Individuum unverwechselbar zu machen, und andererseits doch so normal, dass er die Integration fördert. Damit ist die grundsätzliche und konfliktreiche Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft berührt. Der Vorname dürfte also weder zu ausgefallen noch zu konform sein. Als soziale Haut muss der Name angemessen sein, und Vor- undNachnamen müssen zu einander passen.
Macht durch Verkleinerung
Oft bestimmen Eltern das Zusammenpassen spontan oder nur nach dem Klang, ohne sich um Herkunft und Bedeutung des Vornamens weiter zu kümmern. Doch heißt einer mit Vatersnamen Bückling, Deppert, Dümmerling, Dussling, Gockel, Feldhinkel, Flachmann, Halbleib, Leiche, Pippi, Piss oder Mitesser – alles originale Namen aus dem Telefonbuch einer Großstadt –, ist bei der Wahl des Vornamens doch besonderes Gespür geboten.
Auch die Angewohnheit, Vornamen durch Abkürzungen nach Gusto zu verändern, ist ein Akt der Herrschaftsausübung. Dabei soll die Verkürzung die Person meist handlicher und gefügiger machen. Denn die Umständlichkeit eines komplizierten und schwer auszusprechenden Vornamens verlangt dem Sprechenden ein Zuviel an Mühe ab, die er dem anderen nicht schuldig zu sein glaubt. Aus diesem Grunde werden wohl auch die in den USA verbreiteten biblischen Namen verkürzt. Aus Johannes wird John, aus Samuel Sam, aus Nathaniel Nat, aus Timotheus Tim und aus Zacharias Zach. Es handelt es sich auch um eine Säkularisierung für den Alltagsgebrauch.
Die Gewalt, die der Name über Menschen hat, wird deutlich, wenn man sie ruft: Sie drehen sich um und laufen gar auf den Rufenden zu. So hat der Name den Charakter eines Werkzeugs von der Art einer Hundeleine. Die besonders von Liebhabern, Eltern und Onkeln vorgenommene Verkürzung des Vornamens auf ein baby-artiges „i“ ist über die Handlichkeit (klein) hinaus eine Verniedlichung (klein und hübsch). Und Kosenamen? Sie ersetzen den Vornamen ganz und haben die Funktion, die geliebte Person zu privatisieren und damit die Beziehung exklusiv erscheinen zu lassen. Es ist eine gut gemeinte Diskriminierung und fraglos ein Herrschaftsakt. Wie lieb Herrschaftsansprüche daherkommen können, das wissen alle „Putzis“ und „Schnuckelchen“.