Luthersocken und andere Gags (Zeitgeist)

Dem Zeitgeist hinterhergehechelt – Wie die alte Kirche auf jung macht und sich dabei verkauft

Die Kreuze auf den Fahnen des Kirchentags in Frankfurt haben einige junge Leute für Pluszeichen gehalten. Die Kirchenzeitung chrisma preist eine Bürste in Kreuzform mit dem Namen „Erlöserin“ an – gegen Juckreiz, Blasphemie? Nein, Zeitgeist. Die Kirche ist in der Krise. Die Opulenz von Kirchentagen kann nicht darüber hinwegtäuschen. Gängige Indizien sind die leeren Kirchen und dieKirchenaustritte, gängige Erklärungen der „Werteverfall“ und der exzessive Individualismus, aber auch das Unvermögen, die christliche Botschaft verständlich zu artikulieren. In einer pluralistischen Gesellschaft ist die Kirche, so scheint es, eine Institution unter anderen geworden. Doch diese Krise ist hausgemacht. Im Bestreben, auf Teufelkommraus mit der Zeit zu gehen, aus Angst, wie von vorgestern zu wirken, hat die evangelische Kirche, von der allein hier weiter die Rede ist, sich allen modernen Zeitströmungen bloß angepasst.
Gewiss, zu allen Befreiungsbewegungen, welche die Kirche unterstützt, gibt es in der Bibel Anknüpfungspunkte, denn das Christentum ist seinem Ursprung nach ja eine Religion der Unterdrückten, und die protestantische Kirche war ursprünglich eine Protestbewegung: Es ging ihr um die Freiheit, die „Freiheit eines Christenmenschen“ (Luther). Einmal wenigstens ging die Kirche in Führung: auf den „Montagsdemonstrationen“ hat sie maßgeblich darauf hingewirkt, dass die einzige erfolgreiche deutsche Revolution ohne Blutvergießen verlief.˘Doch keinen Anhaltspunkt gibt es in der Bibel, der es rechtfertigte, sich der heute grassierenden ökonomistischen Zeitströmung anzupassen.
Die Kommerzialisierung zerfrisst alle Lebensbereiche. Sogar die Familie, in welcher die Beziehungen zunehmend ökonomischen Charakter annehmen. Nicht mehr Arbeit und Leistung, sondern die erfolgreiche Selbstvermarktung werden Grundlage zeitgemäßen Selbstbewusstseins. Man muss sich jederzeit und überall gut verkaufen können. Politiker sprechen von der „Deutschland AG“, als handle es sich umein Unternehmen, das nach betriebswirtschaftlichen Kriterien geführt werden könnte. Kurzum, überall geht es um Effizienzkriterien. Überall. Auch in der Kirche. Sie ist ein Spiegel der Zeit. Längst wird sie wie ein Unternehmen geführt. Um effizienter zu arbeiten, hat sie – incredibile dictu –McKinsey als Unternehmensberater engagiert. Rationalisierungen werden nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten vorgenommen. Sogar Pfarrer, deren Motivation doch aus dem Glauben kommen soll, werden einer Leistungskontrolle unterworfen.
Gemeindeschwestern, die auch ohne Uhr für die Kranken und Siechen sorgten, werden durch Pflegepersonal ersetzt, das eine Anzahl von „Fällen“ pro Tag rein professionell zu erledigen hat. Und da die Kirche offenbar nicht mehr weiß, wie sie Gottes Wort unter die Menschen bringen soll, heuert sie Werbeleute an – und das Ergebnis ist entsprechend. Da lässt sie „Luthersocken“ mit dem Aufdruck „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“ (Gott helfe mir. Amen ) vertreiben. Luthers Ausspruch vor dem Reichstag in Worms, der Ausdruck eines felsenfesten Glaubens angesichts von Acht und Bann, wird zum Gag. Und der ist auch noch blöd. Bedient die Kirche einen Markt? Sind wir Kirchenkunden? Hat man je gehört, dass für Brot geworben werden muss? Gottes Wort war einmal das tägliche Brot für Geist und Seele.Um die jungen Leute zu erreichen, macht auch die alte Kirche auf jung. Der überschnappende Jugendkult entspricht einem potenten Markt. Doch glaubt man der alten Kirche den Techno-Sound nicht; macht ihr den Vorwurf der Anbiederei.
Eine Untersuchung hat vor kurzem ergeben, dass junge Leute besonders die Großeltern „cool“ finden. Warum? Vielleicht, weil sie ihnen anders vorkommen als die smarten Eltern, die mit ihren Kindern konkurrieren. Anders. Warum ist die alte, lebenserfahrene Kirche nicht bewusst anders? Sie ist ja durchaus keine beliebige Institution, die sich vor Wettbewerb zu fürchten hätte. Sie steht auf festem Boden, denn unsere ganze abendländische Kultur ist durch das Christentum geprägt.
Auch wer das nicht weiß, steht in dieser Tradition. Die individuelle Freiheit, Basis unserer Demokratie, gründet im lutherischen Protestantismus, der vom mündigen Einzelnen Entscheidungen verlangt, die er selbst zu verantworten hat. An Autorität hat die Kirche in der pluralisierten Gesellschaft eingebüßt, weil sie sich selbst als eine Institution unter anderen sieht und nicht mehr selbstbewusst als die eine, die etwas Einzigartiges zu verkünden hat: Gottes Wort. Wenn die Kirche sich als Dienstleisterin versteht, so ist ihre Dienstleistung, zum Beispiel das Diakonische Werk – im Unterschied zu kommerziellen Unternehmen –, christlicher Auftrag. Pflege war Barmherzigkeit, ein Ausdruck von Nächstenliebe. Die protestantische Kirche wandte sich traditionell dem Einzelnen zu, nicht der Masse. Sie war qualitativ, nicht quantitativ orientiert – nach dem Beispiel des Gleichnisses vom guten Hirten, der seine Herde verlässt, um einem einzigen verirrten Schaf nachzulaufen. Die „Verdoppelung der Zahl der Kirchenbesucher in fünf Jahren“ ist eine Leistungsvorgabe und darum ein fragwürdiges Ziel. In einer durch und durch kommerzialisierten Welt bleiben besonders bei der Jugend fundamentale Bedürfnisse unerfüllt: nach Glauben, Liebe, Hoffnung, Vertrauen, Geborgenheit, Feierlichkeit und nach Verehrung – wie der Zulauf zu Sekten, aber auch zur Popkultur belegt. Es sind Bedürfnisse, welche die Kirche erfüllen könnte, wäre sie glaubwürdig.
Nach christlichem Glauben steht der Mensch, Gottes Ebenbild, über den Sachen. „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ heißt es in der Bergpredigt. Warum aber macht die Kirche damit nicht Ernst? Warum mischt sie sich nicht ein in die Belange der Welt? Warum begegnet eine durch Steuern unterhaltene und gesicherte Institution, die von den Expansions- und Kostenzwängen kapitalistischen Wirtschaftens frei ist, dem globalen Shareholder-Kapitalismus nicht mit der Souveränität, die sie als Verkünderin von Gottes Wort hat? Wenn Arbeiter als Aktionäre heute in Fonds investieren, die als aggressives Kapital andere Arbeiter brotlos machen – warum tritt die Kirche dieser Perversion nicht mit der moralischen Autorität entgegen, deren Kern das Gebot der Nächstenliebe, das Gebot der Solidarität ist? Als global organisierte Institution wäre dieKirche in der Lage, sich dem global operierenden Shareholder-Kapitalismus breit entgegenzustellen. Wenn Gottes Wort etwas Unvergleichliches ist, kann es nicht in entliehenen, kommerziellen Formen Ausdruck finden. Das Wort Gottes verlangt nach Angemessenheit. Es geht dabei um die inhaltliche Vermittlung:um Überzeugung statt Überredung durch barocke Betörung der Sinne nach dem Muster der Gegenreformation. Die christlichen Ausdrucksformen sind nicht eine Frage des Marketings, sondern des Glaubens: Es ist das Charisma des gläubigen Christen, das angesichts der allgemeinen moralischen Orientierungslosigkeit Stärke, Festigkeit, Sicherheit ausstrahlt. Nicht durch Austritte gerät die Kirche in eine Identitätskrise, sondern durch denVerlust ihrer Glaubwürdigkeit. Kirche muss anders, muss unangepasst, muss Alternative sein. Sie muss eine Aussicht auf ein anderes Leben bieten, nicht erst im Paradies, sondern hier.