Zum 100.Todestag des Glaskünstlers Emile Gallé
Der bekenntnishafte Satz «Ma racine est au fond des bois» zierte den Eingang der Fabrikationsstätte von Emile Galle´ , dem neben Rene´ Lalique wohl grössten Glaskünstler des Art nouveau. Fast unbezahlbar sind heute seine Träume aus Glas – die manchmal auch Albträume sind. Die von der romantischen Literatur inspirierten Arbeiten, darunter auch Keramiken und elegante Möbel, Unikate und Serienware höchster Qualität, trugen Titel wie «Die Seele des Wassers» oder – als Hommage an Baudelaire – «Les fleurs du mal». Die Glasformen wirken verschwimmend weich und molluskenartig, die Ätz- und Überfangtechniken sind von grösstem Raffinement, die Farben delikat bis morbid. «Man suchte nicht mehr die Klarheit – das oberste Ziel der Glasmacher von einst, auch nicht die Facettierung.
Das Glas ist weder ein Übertragungsmedium wie das Fensterglas noch ein blosses Echo wie der Spiegel. Es hat selber etwas zu sagen, und das ist das schwere oder zarte Lied der Farbe.» Diese Bemerkung eines französischen Zeitgenossen von Galle´ hebt den Stil der Jahrhundertwende gegen das klassische Bedürfnis nach Klarheit und Transparenz ab. In der Belle Epoque beginnt mit dem Impressionismus die Emanzipation der Farbe, die – als Lichterscheinung erkannt – aufhört, als blosse Lokalfarbe betrachtet zu werden. Galle´ , der Rodin und Sarah Bernhardt zu seinen Bewunderern zählen konnte, gehörte zu den Symbolisten, und sein – auch vom Japonismus beeinflusster – Stil entsprach dem Zeitgefühl einer melancholischen Dekadenz. Man liebte Sumpfpflanzen, schillernde Libellen, Orchideen, Lilien und schwere Düfte. Der am 23.September 1904 mit 58 Jahren recht jung gestorbene Künstler war ein leidenschaftlicher Botaniker, welcher der Vielfalt der Naturformen eine schwärmerische Bewunderung entgegenbrachte. «Ich träume», schrieb er, «wie köstlich ein Pflanzenleben wäre: aus einer Knospe zu entspringen, sich in acht Tagen einen Meter zu strecken, grün ins Himmelsblau zu drängen.» Die Vielfalt der Natur war für den gläubigen Protestanten Ausdruck der göttlichen Unendlichkeit. Da er der Ansicht war, dass Schönheit die in der Natur dargebotene Wahrheit sei, unterliess er es, die Motive, die er in der Welt der Pflanzen, Insekten und der Steine fand, zu stilisieren. Dieser poetische Naturalismus unterscheidet ihn vom deutschen Jugendstil, dessen Pflanzenmotive abstrakter sind.
Gallé, der auf seinen Reisen durch Europa viele botanische Gärten besucht hatte, bevorzugte allerdings die heimischen Pflanzen – auch aus politischen Gründen. Er scheute sich nicht, seine Werke für patriotische Botschaften zu nutzen: Die eingravierte Distel ist das stachlige Wahrzeichen von Nancy, wo der erfolgreiche Unternehmer einen Betrieb von 300 Mitarbeitern unterhielt. Das Lothringerkreuz, das er dem Firmenlogo beifügte, war das Zeichen des Widerstands gegen die preussische Annexion seiner Heimat. Bismarck stellte er als Dogge dar. Als überzeugter Dreyfus-Anhänger und Pazifist gehörte er zu den Gründern der Liga für Menschenrechte und wurde Präsident des Republikanischen Bundes. Galle´ war ein weltoffener, fortschrittlicher Mann: Beeindruckt von William Morris, dem Begründer der englischen Arts-&- Crafts-Bewegung, vermied er in seinem Betrieb die in der damaligen Manufaktur übliche Arbeitsteilung, um mechanische Tätigkeiten zu vermeiden. Er war wie Morris der Ansicht, dass nur ein zufriedener Arbeiter ein guter Arbeiter sein könne. Diese merkwürdige Mischung aus Fortschrittlichkeit und ästhetischer Morbidezza ist nicht untypisch für jene Zeit. Drei Jahre vor seinem frühen Tod gründete Galle´ die «Ecole de Nancy», die in der weiteren Entwicklung des Art nouveau eine zentrale Rolle spielen sollte.