Zhao Liang

Er geht überall hin
Der chinesische Künstler Zhao Liang und was er mit seinem bedächtigen Blick sieht

„Die Wahrheit sagen heißt Gerechtigkeit fordern." So hatte Tschechow einst eine politische Strategie charakterisiert, die in Kunst, Theater und Literatur sowohl auf den empörten Aufschrei wie auf den erhobenen Zeigefinger verzichtet, das heißt auf die Überwältigung des Publikums durch Effekt und Moralisieren. Wie Tschechow begnügt sich der 1971 geborene, in Peking lebende Foto- und Videokünstler Zhao Liang damit, zu zeigen, was ist. Aber wie er das tut! Die Schlüsse muss der Betrachter selber ziehen.
Das zweistündige Video „Crime and Punishment“ begleitet die Arbeit einer Polizeistreife. Es beginnt mit der Beobachtung eines jungen Polizisten, der aus seinem Schlafsack mit Handkantenschlägen so etwas wie einen Block aus Beton formt. Dieser millimetergenaue Bettenbau in der Polizeikaserne wird zum Symbol der entmenschten Disziplin, die den Bauernjungen zu einem harten Staatsdiener umarbeitet. Quälend langsam ist das Verhör des kleinen gehörlosen Diebes, der neben einem leeren Stuhl gerade stehen muss, bis er fast umfällt. Quälend langsam – und ohne Ton – streicht die Kamera in „Heavy sleepers“ über die Körper der dicht an dicht auf dem Boden schlafenden Wanderarbeiter, und man versteht nun, was es bedeutet, wenn die systemtheoretisch analysierenden Betriebswissenschaften die Arbeitskraft zum Betriebssystem, und den Rest des Arbeiters zur „Umwelt“ rechnen.
Der schlafende Arbeiter: das ist hier der Restmensch, die Arbeitskraft gehört dem Kapital. Der Zustand des Schlafens ist das, was hier dem Menschen vom Menschen übrigbleibt. Diese schleichende Langsamkeit der Beobachtung steht in Gegensatz zum Wirbelsturm des durchs Land rasenden Kapitalismus. Geschwindigkeit und Getöse sind global hervorstechende Phänomene unserer kapitalistisch organisierten Weltgesellschaft, Langsamkeit und Stille sind darum schon für sich genommen systemkritische Methoden.
Im Nebenraum der Frankfurter L.A.-Galerie: mehrere dunkelfarbige Bilder, aus denen an wenigen und weit verteilten Stellen glühendes Rot, grelles Grün und delikate Silbrigkeit hervorleuchten. Wie schön! Man wollte gerade an Velasquez denken. Aber es handelt sich um Fotos von der Wasseroberfläche, auf der halb versunken Müll und tote Fische treiben. Auf den zweiten Blick fängt das schöne Bild zu stinken an, und man erinnert sich der vielen verseuchten Flüsse. Ganz im altchinesischen Präsentationsstil ist das schöne, stinkende Bild auf einer traditionellen Rolle Reispapier aufgezogen.
Zhao Liangs unspektakuläre Arbeiten schockieren nicht, sie gehen uns nicht effektvoll ans Gefühl, sie lassen uns Zeit. Zeit zum Nachdenken. Seine Arbeiten erscheinen dokumentarisch, doch geht sein bedächtiger Blick tief unter das, was man sieht, und ist im Wortsinne subversiv. Der Galerist Lothar Albrecht sagt, Zhao Liang sei ein ruhiger Mensch und er gehe überall hin.