Ein denkender Künstler
Der niederländische Landschaftsmaler Jakob van Ruisdael in der Hamburger Kunsthalle
„Revolution der Landschaft“: der Titel, unter dem die Hamburger Kunsthalle den großen niederländischen Künstler Jacob Isaaks van Ruisdael (1628/29–1682) zeigt, ist hochgreifend. Was aber ist revolutionär an Ruisdaels Landschaften?
Kompositorisch sind seine Bilder sichtbar aus Vertikalen und Horizontalen gebaut. Auch die barocke Diagonale, die Jan van Goyen so oft verwendete, behielt er bei. Ruisdael monumentalisierte ein geläufiges Motiv, etwa eine lebensstrotzende Eiche, er dramatisierte die Natur bis hoch zu den Wolken, er thematisierte den Augenblick mit spotlight-artigen Lichteinfällen, er schuf Aufsichten wie aus der Vogelperspektive und malte oft fast menschenleere Landschaften. Das alles waren Neuerungen, die es auch bei anderen gab. Eine Merkwürdigkeit ist die Verbarrikadierung des Bildeinstiegs: in den beiden hervorragenden Bildern Waldlandschaft mit Kornfeld und Der Waldsumpf droht der Betrachter buchstäblich im Morast zu versinken.
Noch gefährlicher wirkt das Motiv des Wasserfalls, der aus manchen von Ruisdaels Gemälden wie aus einer Kinobreitwand frontal auf den Betrachter zustürzt. Obwohl Ruisdael selbst nie einen Wasserfall in natura gesehen hat, ist das skandinavische, von seinem Kollegen Allart van Everdingen übernommene Motiv eines seiner berühmtesten geworden. Doch in Hamburg fehlt dieses wichtige Sujet.
Zu sehen ist das rauschende Wasser auch im Vordergrund auf dem in Hamburg gezeigten Bild Der Judenfriedhof. Für Seymour Slives, ein ausgewiesener Kenner der niederländischen Malerei, ist es dort eines vieler Symbole für Vergänglichkeit.
Man sollte Ruisdaels Malerei nicht auf das allegorische Programm einer moralisierenden Malerei verkürzen, wie es das 19. Jahrhundert tat, denn er war im Unterschied zu dem Franzosen Claude Lorrain ein Realist, der die Landschaft auch nicht – wie van Goyen – in barocken Schwüngen monochrom vereinheitlichte, sondern sogar botanisch Interessierte zufrieden stellte. Trotzdem sind die im Vordergrund quer ins Bild ragenden abgestorbenen, gebrochenen oder versinkenden Bäume zweifellos auch als Zeichen der Vanitas lesbar. Der Maler verwandte sie und andere Motive als Versatzstücke – eine übliche Verdichtungsmethode, die Kunsttheoretiker (etwa Mengs) dann behaupten ließ, das Kunstschöne übertreffe das Naturschöne. Seine Veduten sind keine Abbilder, sondern konzentrierte Konstrukte, wofür ihn Goethe als "denkenden Künstler" schätzte. Es gibt allerdings auch weniger kombinierte, als Ganzes gesehene Landschaften, etwa die einzigartige Waldlandschaft mit Rückansicht einer Wassermühle. Doch die Barrieren – ein Priel, ein Bach mit Baumstumpf, ein Fluss oder eine Pfütze, durch welche die Wanderer waten, sind das Gegenteil der gängigen, friedlich ins Bild führenden Wege, die dem Betrachter den Raum öffnen.
Aber auch die gibt es bei Ruisdael in Fülle. Tatsächlich hat er kein Thema der holländischen Landschaftsmalerei ausgelassen, weder breite Panoramen noch Kanäle, Dünen und Wälder unter hohen Himmeln. Sogar Ruinen hat er gemalt, weshalb man ihn später "romantisch" nannte. Nur italienische Motive überließ er anderen. Die erwähnte Unzugänglichkeit hatte allerdings eine starke Wirkungsgeschichte. Der Judenfriedhof ist ein Vorläufer der Konzepte von Caspar David Friedrich, wo dem Betrachter der freie Blick durch Gräber oder Eisschollen verstellt wird. Auch heutzutage wird häufig "die Landschaft gesperrt" wie man früher sagte, etwa in den giftigen Bildern des Italieners SALVO.
Zum Konzept der Hamburger Ausstellung gehört es, Ruisdael im Kontext seiner Kollegen und Vorgänger zu präsentieren. Auch ist die Schau gut neben dem ansehnlichen Bestand von Landschaftsbildern und Marinen platziert, so dass man sich auch nebenan leicht vergewissern kann, wo die Größe des in Haarlem und Amsterdam arbeitenden Künstlers liegt, der ein Zeitgenosse von Rembrandt und Vermeer war. Er hat die Emanzipation der Landschaftsmalerei, die einst auf den Hintergrund der Heiligenfiguren beschränkt war, entscheidend voran gebracht, auch wenn sie bis ins frühe 19. Jahrhundert ein weit unter der Historienmalerei rangierendes Genre blieb. Bezeichnend ist sein zunehmender Verzicht auf Ingredienzien der Idylle zugunsten einer heroischen Darstellung der werdenden und vergehenden Natur, in welcher sich nach Auffassung der Zeit die Größe Gottes ausdrückt; einer Natur, die bei Ruisdael oft unheimlich ist.
Hamburger Kunsthalle, bis zum 1. April 2002.