Meeresküsse mit behender Zunge von rosenroten Lippen geklaubt

Über Austern. Am Kamin. Bei Chablis.
Ein Gespräch zwischen Freunden. Eine Freundin

Armin: "Austern im Freien? Ohne Chablis, Schwarzbrot und gesalzene Butter? Einfach so aus der Faust? Ich weiß nicht. Scheint mir irgendwie stillos, nicht?"
Doro: "Stil!"
Armin: "Sei kein böses Mädchen, Doro! Schließlich genießt man ja auch, dass der Verzehr der schlüpfrigen Muscheltiere mit Kerzenlicht und Damastservietten plus Kellner im Frack ordentlich was kostet."
Doro: "Das ist Mackerstil von vorgestern. Wenn schon Stil, dann mein eigener!"
Armin: "Und dein Stil, wie ist der?"
Doro: "Dass ich so was nicht esse."
Botho: "Da kosten sie auf dem Markt nur 21 Franc das Dutzend."
Armin: "In Cancale? Das ist doch oben bei St. Malo. In der Bretagne. Das Dutzend für sieben Mark. Mein Gott! Da bekommt man ja einen Eiweißschock."
Botho: "Die Rentner schlürfen die Austern auf der Kaimauer."
Armin: "Rentner?!"
Botho: "Dazu haben sie eine Zitrone, die doppelt soviel kostet wie eine Auster. Man hat von dort oben die merkwürdigen Austernkähne im Blick. Sie sind flach, weil das Meer dort flach ist. Bei Ebbe sieht man die Austernbänke im Schlick liegen. Das sieht so romantisch aus wie ein Gemälde von Anselm Kiefer."
Armin: "Anselm wer?"
Botho: "Kiefer. Mit einsetzender Flut kommen sie mit den Austernkähnen über die weite Bucht des Mont St. Michel und setzen im Hafen auf den Strand, wo schon die Lastwagen warten. Während die See die Austernbänke vor der Kaimauer überflutet, schleppen die letzten wassertriefenden Bulldozer kahnähnliche Hänger mit platten Säcken voller Austern die Rampe hoch."
Armin: "Ja, Massenproduktion. Wissen Sie, es waren einmal Forellen, Hähnchen und Salm erlesene Delikatessen, die sich leistete, wer zu genießen verstand. Und heute bekommt man das alles beim ALDI. Zwei Stück Lachs für fünf Mark, habe ich gehört. Ich erinnere mich noch an die Primeurs: Wie genoss man die ersten Kirschen oder den ersten Spargel. Oder die ersten Trüffel – die weißen. Man kannte gewisse verschwiegene Lokale und fuhr mit mehreren Wagen dorthin, wo man sich einen großen Tisch vorbestellt hatte. Und dann! Einfach und gut – aber exklusiv. Denn diese Dinge hatten natürlich ihren Preis."
Doro: "Find ich saublöd, Primeurs. Warum können die nicht warten?!"
Botho: "Frischgeborene Kleinigkeiten, kaum eben aus der Erde."
Armin: "Das ist aber nicht von Ihnen, wie? Klingt lyrisch."
Botho: "Von Truman Capote, speziell über Primeurs."
Armin: "Oh ja, Truman. Der verstand etwas davon. Aber er hatte eine unerträglich quäkende Stimme und konnte sehr ordinär werden. Habe ich gelesen. Wie gesagt: Massenproduktion. Billigware für jedermann und rund um die Uhr. Erdbeeren zu Weihnachten! Übrigens: Womit knacken die Rentner denn die Austern? Die Schalen sind doch rasiermesserscharf!"
Botho: "Das macht Dominique. Er hat einen eisernen Netzhandschuh an. Übrigens gibt es eine Art Austern-Guillotine, "Cancalien", die horizontal schneidet."
Armin: "Witzig. Und die Schalen, was machen sie mit denen?"
Botho: "Die lässt man von der Kaimauer fallen. Unten liegen Millionen von weißen Schalen. In einigen Buchten findet man auch noch wilde Austern. Ich habe sie zuerst mit den Hinterlassenschaften der Kormorane verwechselt, die da immer rumsitzen."
Doro: "Austern sind einfach eklig! Da muss ich an die Lewinsky denken, die arme Wutz."
Armin: "Geschmackssache. Männer mögen Austern umso mehr. Spätestens seit Casanova der Emilia und der Armellina die glitschigen Meeresküsse mit behender Zunge vom Mäulchen klaubte, weiß man, dass es sich bei Austern um ein Aphrodisiacum handelt."
Doro: "Wozu brauchen die denn so was?!"
Armin: "Doro, Schätzchen! Also bitte! Es sind Franzosen!"
Botho: "Die Rentner ziehen am Hafen nasse zerzauste Hündchen hinter sich her und haben müllsackblaue Plastikbeutel in der Hand."
Armin: "Müllsackblau! Voller Austern vermutlich."
Botho: "Ja, einige tragen die Austern in die Reisebusse."
Armin: "In die Reisebusse!"
Botho: "Ja. Übrigens gibt’s in Cancale auch Engländer, die mal kurz von ihrer Insel herübergekommen sind. Sie sitzen in den diversen Tea-Rooms und essen Austern und schauen auf die Palmen."
Armin: "Anstatt ihrer ewigen fish-and-chips. Eine kultivierte Abwechslung. Wieso Palmen?"
Doro: "Ich liebe fish-and-chips, Cury-Wurst, Pommes und sowas!"
Armin: "Weil du so einen guten Geschmack hast, Schätzchen."
Botho: "Wegen dem Golf-Strom. Es gibt auch Feigenbäume, Pinien, Agaven und Mimosen. Ich habe übrigens mal im Meyers über Austern nachgesehen. Da steht: "In Amerika ist die Auster ein National- und Volksgericht."
Armin: "Austern ein Volksgericht und das in den USA! Aber von wann ist Ihr Lexikon?"
Botho: "Von 1890."
Doro: "Die essen jetzt alle lieber Hamburger. Eine Delikatesse sind die schleimigen Viecher ja nur, weil sie ein normaler Mensch nicht bezahlen kann."
Armin: "Nach deiner Logik, Doro, würden Austern in Cancale niemandem schmecken."
Botho: "Doch, den Rentnern."
Armin: "Ob die das wirklich genießen können, Botho?"
Doro: "Franzosen essen alles. Weiß man doch. Auch Schnecken, Froschschenkel, Nachtigallenzungen."
Armin: "Nachtigallenzungen? Du flunkerst, Doro. Im Ernst? Wo kriegt man die?"
Doro: "Beim Aldi."