Zombiehände
Ich interessiere mich nicht für lebende Menschen, sagt Hiroshi Sugimoto. Die monumentalen Porträts historischer Persönlichkeiten im Berliner Guggenheim-Museum erscheinen denn auch als die lebender Toter. Wächserne Haut tritt todesmatt aus den mit Perlen, Diamanten und Spitzen überladenen Gewändern der schönen, traurigen Frauen Heinrich des VIII hervor. Die unheimliche Wirkung von Zombies erreicht der japanische, in Kalifornien lebende Künstler, indem er Wachsfiguren der Madame Tussaud fotografiert, die ihrerseits nach Porträts von Hans Holbein und anderen geformt wurden.
Vier Realitätsebenen sind so ineinander verschränkt und in Sugimotos Fotos zu einer falschen, doch suggestiven Unmittelbarkeit verschmolzen: die reale Person etwa des Königs, das Porträt des Königs, die Wachsfigur nach dem Porträt des Königs und das Foto der Wachsfigur nach dem Porträt des Königs. Das reale Tuch der kostbaren Gewänder und das unechte Fleisch der Wachspuppen werden fotografisch auf dieselbe Realitätsebene transportiert. Der englische Herrscher und seine ungeköpften Ehefrauen schauen alle nach rechts.
Die übergroßen Figuren, schwarz-weiß fotografiert und vor schwarzem Hintergrund sind gegen visuellen Kontext verabsolutiert. Das konzentriert die Suggestion. Auf dem Foto der nach Vermeers arrangierten Musikstunde sieht man in dem über dem Spinett angebrachten Spiegel anstelle der Beine von Vermeers Staffelei die von Sugimotos Fotostativ. Besonders auf dem in einem Extraraum ausgestellten Abendmahl nach Leonardo, zu dem der Künstler die Wachsfiguren merkwürdigerweise in Japan gefunden hat, fallen die unmäßig großen Hände im Vordergrund und die winzigen Hände im Hintergrund auf. Die Kamera verzerrt die ausgebreiteten Arme der Apostel ins Groteske. So bleibt die Differenz zwischen Gegenstand und Darstellung unübersehbar.
Einige der Porträts sind komisch. Die streng blickende Queen Victoria sieht aus wie ein Transvestit, Elisabeth I. steckt in einem viel zu weiten Kleiderpanzer, auf dem rechten Ärmel ein pfötchengebendes Hermelin und von der durch ein Kettennetz geschützten riesigen Hand Henry V. stellt man sich leicht vor, dass sie schwer auf seinem Lande lag. Sugimotos ironisierende Fotos sind von allergrößter Präzision: „Wenn Sie genau hinsehen, können Sie in den Perlen ein Spiegelbild von mir mit der Kamera sehen.“ Totenstille strahlten schon Sugimotos Seestücke (Seascapes) aus oder die Dioramas mit ausgestopften Tieren. Die Fotos menschenleerer historischer Theater zeigen auf der Bühne ein weiß gleißendes Nichts.
Die Präsenz des Nichts und die Abwesenheit der Menschen lassen an den Tod denken. Mumifizierung und Musealisierung, das Leben im Tode, die Verewigung sind Sugimotos Thema, der den Grabstein für die allererste Kunstform in der Geschichte der Menschheit hält.
Bis 14. Mai 2000. Katalog 59 DM.