Verbindungen über Abgründen
„Boat Traveling“: Tadashi Kawamatas Bretter-Kunstwerk
MÜNSTER. Wer auf der dokumenta 9 Tadashi Kawamatas people's garden gesehen hat - das an eine Favela erinnernde Hüttendorf -, stellte sich leicht Migranten vor, welche die Bretterverschläge verlassen hatten und weitergezogen waren, vielleicht nach Kassel oder Frankfurt oder Berlin. Man wurde an das Wiederaufleben der Völkerwanderungen erinnert, an ihre Ursachen: Arbeitslosigkeit, Armut und Vertreibung und ihre Folgen: Obdachlosigkeit, Fremdheit und den Haß der Eingesessenen. Migrationen werden nach soziologischer Voraussicht das nächste Jahrhundert bestimmen, die Wanderungen der Armen in die großen Städte. Mobilität, der zur Ikone gewordene Inbegriff individueller Freiheit und Selbststeuerung, zeigt sich umgekehrt als Folge von Zwang. Denn nicht aus Reise- und Abenteuerlust verlassen die meisten ihre angestammten Orte. Und die Globalisierung: sie zwingt auch die Ehrgeizigen, Qualifizierten und "Besserverdienenden" dorthin, wo die großen Kapitale vorübergehend ihren Standort aufschlagen.
Wer die elenden Verschläge in Kassel genauer betrachtet hat, wird in einer der Hütten nicht nur den Spiegel entdeckt haben (sieh dich hier!), sondern auch die Stege, welche die Behausungen längs des Flüßchens verbanden, und den schwankenden Balken, der eine Brücke war. Armselige Verbindungen, aber immerhin: ein Zeichen der Zivilisation.
In der von Klaus Bußmann, Kasper König und Florian Matzner ausgerichteten Skulpturenausstellung in Münster fährt ein merkwürdiges Gefährt über den Aasee, eine buglose Fähre, ein schwimmender Bretterverschlag, der an ein Hausboot oder Boot-Haus erinnert. Wer in dem Käfig übersetzt, erkennt beim Ab- und Anlegen in den beiden Stegen, die ebenso flüchtig zusammengenagelt sind, die anderen Teile des Kunstwerks.
Boat Traveling, das Kawamata nach dem Vorbild einer zuvor im holländischen Alkmaar projektierten Arbeit für Münster nachbauen ließ, schließt an Arbeiten an, in denen er aus Latten roh gebaute Passagen durch den städtischen Raum gelegt hatte (Passagio, Prato 1993, Sidewalk, Lyon 1993, Transfert, Sache 1994, Catwalk, Tokio 1995, Tram Passage, Wien 1995). Die Idee eines schwimmenden Gebäudes verwirklichte er anders schon einmal auf der Limmat in Zürich. Die Verbindungen, die Kawamata schafft, sind ostentativ provisorisch. Schon im Aufbau thematisiert er den Abriß - wie erstmals Guilio Romano (1499-1546) im Mantuaner Palazzo del Te und heute - eher modisch - die amerikanischen Architekten von SITE, die in den späten 70er und 80er Jahren Kaufhausfassaden so errichteten, daß sie aussahen, als stürzten sie bereits zusammen (Ziegelkaskaden).
Kawamata baut den Besuchern eine Brücke. Wenn sie diese benutzen, können sie sehen und erfahren, was der Künstler vorschlägt. Vom Boot aus sieht man - im Bewußtsein, daß dies von schwankendem Boden aus geschieht, darunter das Wasser - auf die durch die Bretter abgeteilte und zerstückte Landschaft. Die Wege, die Kawamata das Publikum gehen läßt, sind nicht stabil. Stets in Bewegung richtet sich unser Blick auf die Welt, gehend, fahrend, unsicher und durch ein Gitter aus Latten. Doch positiv gewendet, sind Stege, Brücken, Passagen, Fähren: Übergänge, die Verbindungen über Abgründen ermöglichen. Dies ist der Kern der Metapher. Brücken und Fähren erinnern an das andere Ufer, an das rettende Ufer, das meist die Fremde ist.
In genauem Gegensatz zu diesen zwischenmenschlichen Konstruktionen (zu denen auch die Sprache gehört) steht der Turm: er gründet in festem Boden und drückt Herrschaft aus. Man denke an die noch erhaltenen Geschlechtertürme von San Gimignano, von denen aus die Adligen einander bekämpften, oder an den Widerspruch von Bankenturm und "Bürgersteig". Die Metaphern, mit denen Kawamata arbeitet, sind dagegen Ausdruck von Zivilität, einer, wenn auch sichtbar prekären Balance. Nichts von Dauer.
Den Besucher läßt der Künstler nicht nur etwas betrachten, sondern bezieht ihn durch die Benutzung seiner Objekte umfänglich ein. In Alkmaar, der Stadt, für die Kawamata das Projekt zuerst konzipiert hat, plant er eine Verbindung zwischen einer Klinik am Rande der Stadt und dem Stadtzentrum, Bereichen, die entfernt und gegeneinander abgegrenzt sind. Der Vorstellung Wege zwischen praktisch und begrifflich getrennten oder entlegenen Gebieten zu schaffen, gehört zu den Aufgaben der Kunst, die zusammenbringt, was im normalen Verstand nicht zusammengehört.
Die Patienten betrachten nicht nur, benutzen nicht nur Steg und Boot, sie haben sie nach Plänen selbst gebaut. So sind sie in das Kunstprojekt von vornherein einbezogen. Auch in Münster haben die Kranken mitgearbeitet. "Die Zusammenarbeit mit anderen hilft mir, mein Werk offen zu halten," sagte Kawamata 1991 in einem Interview. Warum aber die Fähre auf dem Aasee gerade von hier nach dort fährt, die Relevanz der Orte: sie bleibt unklar. Skulptur. Projekte in Münster 97. Bis 28. September, mit Fahrradverleih!