Little Big City (2): Verkehr

Rache-Reigen

Bockenheimer Landstraße: Ein Rechtsabbieger, in dessen Kleinwagen die Bässe wummern, schneidet auf der Fahrradspur einen Radler. Der schüttelt die Faust, denn der Stärkere hat ihm sein Recht beschnitten. Der rachedurstig gestimmte Radfahrer findet sich ein Stück weiter vor der Post durch einen Lieferwagen behindert, der auf der Fahrradspur parkt. Böse verbiegt der Radfahrer dem Falschparker den Scheibenwischer, was den Autofahrer in seinem Zorn auf die Radler nur bestärkt. Während der Radler in der Goethestraße auf die Armbanduhr schaut, läuft ihm ein junger Mann ins Rad, das Handy am Ohr, Folgen: Das Handy liegt auf dem Pflaster, der Davonradelnde zeigt den Effenberger. Fünf Minuten später bringt der erboste Fußgänger dem nächstbesten Herrenrad einen Platten bei.
In der Großstadt – und Little Big City ist eine solche – ist der Verkehr naturgemäß dichter als anderswo. Wo alle dasselbe wollen – nämlich möglichst schnell vorwärtskommen nach hier oder nach dort – setzt der Stärkere sich durch. Um den Verkehr zu verflüssigen und dabei die schwächeren Verkehrsteilnehmer zu schützen, haben die Verkehrsplaner auch in Little Big City für eine Entflechtung des Verkehrs gesorgt.
Aber auch, weil der Deutsche als Verkehrsteilnehmer rücksichtslos auf seinem Recht besteht – sei es als Autofahrer, Radler oder Fußgänger – je nachdem, in welche Rolle er sich gerade eingemauert hat. Verhandlungen, wer wem die Vorfahrt lässt, sind ausgeschlossen. Jeder Sorte Verkehrsteilnehmer wurde also eine eigene Spur zugewiesen, und wo eine Begegnung unvermeidlich ist wie an der Kreuzung, wird die Vorfahrt durch Ampelanlagen geregelt.
Diese Beschränkung auf den eigenen Weg, die der Logik einer Ghettoisierung entspricht, hat dazu geführt, dass man auf der eigenen Spur nicht mehr erwartet, von den anderen Verkehrstrotteln belästigt zu werden. Schläfrig fährt man vor sich hin wie auf Schienen, und trifft man doch einmal mit der anderen Sorte zusammen, besteht man standhaft auf seinem Recht.
Das Fahren ist zu einem rein technischen Vorgang geworden mit der Folge, dass die sozialen Tugenden der Umsicht, Rücksicht, Vorsicht und Nachsicht verloren gegangen sind, die idealiter den Verkehrsteilnehmer kennzeichnen, der vorwärtskommen will, ohne andere zu behindern. Kaum etwas ist zur Förderung unsozialer Verhaltensweisen besser geeignet als der Straßenverkehr, der als ein bloß technischer Vorgang angelegt ist. Soziale Regeln sind durch technische Regeln ersetzt worden. Der Alien ist immer der Kerl von der anderen Spur.

Frankfurter Rundschau v. 18.12.2002, S.29, Ausgabe: S Stadt